Warum Politik so oft versagt (eBook)
480 Seiten
Siedler Verlag
978-3-641-30415-7 (ISBN)
Klimawandel, Armut, Kriege: Wir wissen ziemlich genau, was die größten Gefahren für uns als Gesellschaft sind und wie wir sie lösen könnten - und dennoch enttäuscht unsere Politik uns immer wieder. In seiner brillanten Analyse zeigt der britische Politikprofessor Ben Ansell, warum Politik so oft scheitert. Wir sind in fünf großen politischen Fallen gefangen: Denn als Kollektiv feiern wir einerseits die Ideale von Demokratie, Gleichheit, Solidarität, Sicherheit und Wohlstand - aber als egoistische Individuen handeln wir täglich dagegen. Wir wollen Gleichheit, aber unseren eigenen Wohlstand nicht antasten. Wir streben nach Sicherheit, aber nur, wenn sie unsere Freiheit nicht einschränkt. An vielen Beispielen - von Klimahandeln bis zur Reichensteuer - zeigt Ben Ansell: Nur wenn wir unsere Uneinigkeit akzeptieren, unsere Institutionen erneuern und unsere sozialen Normen ändern, kann es uns gelingen, unsere politischen Versprechen wirksamer und stabiler zu machen und die fünf zentralen Herausforderungen der Politik zu überwinden.
Ben Ansell ist Professor für Politikwissenschaften am Nuffield College der Universität Oxford. Nach Abschluss seiner Promotion in Harvard lehrte er mehrere Jahre an der University of Minnesota und wurde 2013 mit nur 35 Jahren als Professor an die Universität Oxford berufen. 2018 wurde Ansell zum Fellow der British Academy ernannt und war damit einer der jüngsten Fellows seiner Zeit. Über seine Arbeit wird regelmäßig in den Medien berichtet, unter anderem in der Times, der New York Times, im Economist und in der Sendung Start the Week von BBC Radio 4. Ansell leitet zurzeit das vom European Research Council geförderte Projekt »The Politics of Wealth Inequality«, ist Mitherausgeber der Zeitschrift Comparative Political Studies für vergleichende Politikwissenschaft und Autor von drei preisgekrönten wissenschaftlichen Büchern. »Warum Politik so oft versagt« ist sein erstes Buch für ein breites Publikum.
1 Westminster: Mittwoch, 27. März 2019
Wir kamen eine Stunde zu früh am Eingang des Unterhauses in London an. Wir hatten mit langen Schlangen gerechnet. Die Medien waren in heller Aufregung, nachdem auch der dritte Versuch der Premierministerin Theresa May krachend gescheitert war, ein Brexit-Gesetz zu verabschieden. In den politischen Kreisen Großbritanniens wurde eifrig über die nächsten Schritte und Schachzüge diskutiert. Die britischen Parteien hatten die Kontrolle über ihre eigenen Abgeordneten verloren. Die Demokratie schien nicht mehr zu funktionieren. Chaos brach aus. Konnte man den parlamentarischen Stillstand umgehen? Musste das Parlament nicht in der Lage sein, sich auf etwas zu einigen?
Iain McLean und ich waren ins Parlament gebeten worden, um die Abgeordneten bei der Suche nach einer Lösung zu unterstützen. Der Weg zu den Sitzungssälen führte uns die Treppe hinauf und an den Statuen längst verstorbener Regierungschefs vorbei. Hier saßen wir auf grünen Wildlederstühlen in einem ansonsten leeren Gang und warteten auf unsere Gastgeber. Iain dürfte Großbritanniens führender Wahlrechtsexperte sein, er ist Autor eines Buches mit dem Titel What’s Wrong with the British Constitution? (»Was stimmt nicht mit der britischen Verfassung?«). Falls überhaupt jemand zu einem Verfahren raten konnte, mit dem die Blockade aufzulösen war, dann Iain. Ich war als Spezialist für politische Institutionen zur Unterstützung eingeladen worden. Aber was, wenn selbst Iain, mit oder ohne meine Hilfe, keine Lösung fände? Was, wenn der Brexit grundsätzlich zu komplex war, um ihn zu lösen?
Sollte all das nicht einfacher sein? Das EU-Referendum von 2016 war ein folgenschweres Ereignis in der britischen Politikgeschichte. Der Brexit war die Folge einer einfachen Abstimmung über eine scheinbar einfache Frage: »Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben oder aus der Europäischen Union austreten?« Die Stimmen für den Austritt gewannen überraschend mit 52 zu 48 Prozent – möglicherweise ein Zeichen für ein gespaltenes Land, aber dennoch ein klarer Sieg. Gelebte Demokratie.
Die Probleme begannen, als die Politik zu entscheiden hatte, welche Art Brexit umgesetzt werden sollte. Das Volk hatte gesprochen. Aber was hatte es gesagt? Es gibt viele Länder in Europa, die nicht Mitglied der Europäischen Union sind: von Norwegen über die Schweiz bis hin zur Türkei und Russland. Manche, wie Norwegen und die Schweiz, haben sehr enge Beziehungen zur EU, übernehmen ihre Gesetze und ermöglichen europäischen Staatsangehörigen die freie Einwanderung. Andere, etwa die Türkei, teilen die Handelspolitik mit der EU, sonst aber herzlich wenig. Und wieder andere – Russland, Armenien und Aserbeidschan – werden von der EU auf Abstand gehalten. Und nun »Austritt aus der Europäischen Union«? – Ja. Aber wie?
Die letzten drei Jahre hatte Theresa May versucht, darauf eine Antwort zu finden. Im Anschluss an die einfache Abstimmungsfrage erwies sich die Frage, auf welche Weise sich das Vereinigte Königreich von einer Organisation lösen wollte, der es über vierzig Jahre lang angehört hatte, als Albtraum. Es mussten alle möglichen Entscheidungen getroffen werden, die nicht auf dem Stimmzettel gestanden hatten. Sollte Großbritannien Teil des Europäischen Binnenmarktes bleiben, was eine Begrenzung der EU-Einwanderung verhindern würde? Sollte Großbritannien Teil der Europäischen Zollunion bleiben, damit aber auf eigene Handelsabkommen verzichten? Oder sollte es jegliche Zusammenarbeit mit der EU aufkündigen und sich ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Folgen allein auf den Weg machen?
Ein besonderes Problem stellte sich in Nordirland. Nach Generationen gewaltsamer Konflikte hatte das Karfreitagsabkommen von 1998 zu zwei Jahrzehnten Frieden zwischen Katholiken und Protestanten geführt. Doch dieser Frieden beruhte zum Teil auch auf der Europäischen Union – die Mitgliedschaft sowohl Großbritanniens wie Irlands hieß, dass es zwischen Irland und Nordirland keine wirtschaftlichen Grenzen gab. Aber die Briten hatten für einen Austritt aus der EU gestimmt, und das bedeutete die Aussicht auf eine »harte Grenze« zu Irland, was den Frieden gefährden konnte. Die einfache Brexit-Abstimmung entpuppte sich ein weiteres Mal als Entscheidung mit komplexen Folgen, die viele Wähler – und Politiker – nicht vorhergesehen hatten.
Theresa Mays eigene Lösung versuchte den Spagat zwischen diesen Herausforderungen, dazu musste sie wie eine Polarforscherin unbehaglich auf auseinanderdriftenden Eisschollen balancieren. Sie wollte den Binnenmarkt verlassen, um die Einwanderung kontrollieren zu können. Sie wollte die Zollunion verlassen, damit Großbritannien eigene Handelsabkommen schließen konnte. Aber sie bot zugleich als Rückversicherung den Backstop an, der das Abweichen Großbritanniens von EU-Regeln oder der Handelspolitik so lange aufschieben würde, bis eine Lösung für die Irlandfrage gefunden wäre. Der Backstop bedeutete aber, dass Großbritannien viele weitere Jahre in der legislativen Einflusszone der EU verharren würde.
Das war ein Kompromiss, der kaum jemandem gefiel. May versuchte Anfang 2019 drei Mal, ihr Brexit-Gesetz durch das Parlament zu bringen. Jedes Mal wurde es von einer ziemlich eigenartigen Koalition abgelehnt. Einige konservative Brexit-Befürworter stimmten mit der Begründung dagegen, dies sei kein »richtiger Brexit«. Sie wollten die Europäische Union komplett verlassen – friss oder stirb, komme, was wolle. Brexit-Gegner in der Labour-Partei stimmten gegen das Gesetz, weil es sich eben um den Brexit handelte. Sie wollten ein zweites Referendum, vermutlich weil sie sich eine andere Antwort erhofften.
Eine einfache Volksabstimmung zwischen zwei Optionen war zu einem grandiosen Fiasko geworden, als sich herausstellte, dass es deutlich mehr als nur zwei Arten des Austritts gab. Theresa Mays Gesetz garantierte Großbritannien formal tatsächlich den Austritt aus der EU, so wie das Volk es gefordert hatte. Das Problem war das Wie. Demokratie erwies sich als schwierig.
Schließlich begaben Iain und ich uns durch die stillen Gänge zu einem hufeisenförmigen Tisch im parlamentarischen Sitzungssaal, an dem zwei Abgeordnete, ein Konservativer und ein Labour-Abgeordneter, warteten. In der britischen Politik ist es höchst ungewöhnlich, dass sich ein Konservativer Abgeordneter gegen die eigene Regierung auf die Seite eines Labour-Kollegen stellt, aber sie hatten beide erkannt, dass sie in dieser Frage zusammenarbeiten mussten. Mit dem abgelehnten Gesetzentwurf der Regierung und mindestens fünf möglichen Brexit-Gesetzen im Umlauf, dazu einem Referendum darüber, ob man die ganze Sache nicht abblasen sollte, wollten sie wissen, ob es irgendein Verfahren gebe, mit dessen Hilfe das Parlament zu einer Entscheidung gelangen könne. Mit anderen Worten: Ließ sich das demokratisch lösen?
Wir stellten eine Reihe unterschiedlicher Abstimmungsverfahren vor, die dem Parlament zur Verfügung standen. Jedes hatte andere Stärken. Manche begünstigten Kompromissentscheidungen. Andere würden zu einer klaren, wenn auch polarisierenden Entscheidung führen. Und wieder andere Wahlverfahren prüften, ob es überhaupt eine Option gab, die eine Mehrheit der Abgeordneten auf sich vereinen konnte.
Nachdem wir das Für und Wider der verschiedenen Abstimmungsregeln erklärt hatten, stoppte uns der Konservative Abgeordnete und zog einen Schluss, der auf der Hand lag: Die Abgeordneten konnten sich nicht einigen, also würden sie sich auch nicht auf eine Regel einigen, nach der diese Vereinbarung zustande kommen sollte. Die Entscheidung für ein Wahlverfahren wäre demnach lediglich eine Stellvertreterdebatte. Somit standen wir wieder am Anfang.
Doch die beiden hatten bereits einen Plan im Ärmel. Für den Abend war eine Reihe von »Probeabstimmungen« über einzelne Brexit-Optionen angesetzt. Man hatte sich für das einfachste Verfahren entschieden – die »Zustimmungsabstimmung«, bei der jede Option für sich betrachtet werden würde und die Abgeordneten lediglich angeben sollten, ob sie diese Option befürworteten. Dies würde auf jeden Fall dazu beitragen, herauszufinden, welchen Optionen die Abgeordneten zustimmen könnten. Die schwierigere Aufgabe, welche Option davon gewählt würde, wäre auf einen anderen Termin verschoben.
Die Zustimmungsvoten wurden abgegeben, als wir Westminster verließen. Als die Abstimmungsglocken läuteten, drängten sich die Abgeordneten zur Wahl darüber, mit welchen Optionen sie leben könnten. Big Ben schlug gerade neun Uhr, als Iain und ich bei einem Drink in einem Pub gegenüber dem Parlament die Beratungsgespräche nachbereiteten. Auf Twitter verfolgte ich die Abstimmung. Ein Vorschlag nach dem anderen wurde abgelehnt. Nicht eine einzige Option wurde von einer Mehrheit der Abgeordneten angenommen. Angesichts unzähliger Optionen war die parlamentarische Demokratie bewegungsunfähig geworden.
Prinzipiell wünschen wir uns Demokratie, doch in der Praxis lässt sie sich oft nicht verwirklichen. Und damit befinden wir uns bereits im Zentrum der Demokratiefalle: So etwas wie den »Willen des...
Erscheint lt. Verlag | 24.4.2024 |
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Übersetzer | Gisela Fichtl |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Why Politics Fail |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2024 • Ben Ansell • Brexit • Bundestagswahlen • Demokratie • Desillusionierung • eBooks • Gemeinschaft • Geschichte • Gleichheit • Klassismus • Klimakrise • Neuerscheinung • Politik • politik für alle • Politikverdrossenheit • Politikversagen • Politische Beteiligung • politische Institutionen • Politische Interessen • Solidarität • Soziale Ungleichheit • Ungleichheit • Weltfrieden • Wohlstand |
ISBN-10 | 3-641-30415-6 / 3641304156 |
ISBN-13 | 978-3-641-30415-7 / 9783641304157 |
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