Investigatives Recherchieren (eBook)

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2015 | 3. Auflage
252 Seiten
Herbert von Halem Verlag
978-3-7445-0700-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Investigatives Recherchieren -  Johannes Ludwig
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Investigativ arbeitende Journalisten müssen regelmäßig Widerstände überwinden, um ihre öffentliche Kontrollfunktion wahrnehmen zu können. Das notwendige Know-how hierfür vermittelt dieses Fachbuch - wissenschaftlich fundiert und anhand zahlreicher Fallbeispiele von aufgedeckten Affären. Johannes Ludwig beschreibt z. B., wie man sich mithilfe von Organigrammen oder Ablaufplänen in komplexe Organisationen wie Unternehmen, Parteien oder Ministerien 'hineindenken' kann, um Schwachstellen aufzudecken oder Informanten zu finden. Oder wie man mit 'hot docs' und brisanten Daten umgeht. Informanten, die Insiderwissen an Journalisten weitergeben, spielen eine zentrale Rolle. Zu ihnen gilt es, ein persönliches Vertrauensverhältnis aufzubauen und sie vor der Öffentlichkeit oder der Staatsanwaltschaft zu schützen. Die dritte Auflage ist kompakter, wurde aber um die Themen Leaking-Plattformen, Whistleblower und sichere Kommunikation im NSA-Zeitalter erweitert. Das Buch wird ergänzt und aktualisiert durch die Website 'investigativ.org'. Es enthält außerdem Links zu den rund 100 couragierten Recherchen und Reportagen, die das Dokumentationszentrum 'ansTageslicht' gesammelt und ausgewertet hat.

Prof. Dr. Johannes Ludwig lehrt an der Fakultät Design, Medien und Information der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Er hat vorher für Presse, Hörfunk und Fernsehen (Die Zeit, Wirtschaftswoche, Deutschlandradio, Spiegel-TV) gearbeitet und war in der journalistischen Weiterbildung tätig.

Prof. Dr. Johannes Ludwig lehrt an der Fakultät Design, Medien und Information der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Er hat vorher für Presse, Hörfunk und Fernsehen (Die Zeit, Wirtschaftswoche, Deutschlandradio, Spiegel-TV) gearbeitet und war in der journalistischen Weiterbildung tätig.

1 Investigatives Recherchieren – zwischen Präzision und Sensation


Das Einstiegskapitel wird sich mit einigen grundsätzlichen Überlegungen befassen: 1) Was alles ist Journalismus und was bedeutet »investigativer« Journalismus, 2) was sind die Kriterien und Kennzeichen für diese Art von recherchierendem Journalismus, 3) wo und wie können solche Geschichten ihren Anfang nehmen und 4) wie definiert sich in diesem Genre »Aktualität«?

1.1 Was alles kann Journalismus sein und was ist investigativer Journalismus?


Journalismus und journalistische Tätigkeit kann vieles sein:

  • Unterhaltung im weitesten Sinne, egal ob Unterhaltungs- oder Talkshow, Ratespiel oder Sport, z. B. eine Fußballübertragung
  • Bildung und Wissensvermittlung von interessanten und/oder nützlichen Zusammenhängen des Lebens, egal ob Wissenschaftsjournalismus oder Hintergründiges zu einem historischen oder politischen Thema
  • Weitergabe von Informationen und aktuellen Nachrichten
  • das Moderieren von Diskussionen, Gesprächen und Themen, die für viele, selten alle von Interesse und/oder Bedeutung sind.

All diese Arten von journalistischer Informationsvermittlung machen weltweit den allergrößten Teil journalistischer Betätigungen aus: über 99 %. Der kleine Rest, der übrig bleibt, bezieht sich auf das, was nur sehr wenige machen:

  • Kritisches Hinterfragen all der Dinge, die auf den ersten Blick plausibel oder zutreffend erscheinen, und eigene intensive Recherchen dazu.

Dieses Buch beschäftigt sich ausschließlich mit dem letzten Aspekt.

Egal, was man journalistisch macht: Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, diesen Job zu machen. Dies sei an der Gegensätzlichkeit journalistischer Berichterstattung erläutert – anhand einer sogenannten Polarfallanalyse, die völlig gegensätzliche Fälle einzufangen geeignet ist. Zwischen den gegensätzlichen und extremen realen Fallbeispielen liegen – erfahrungsgemäß – die am häufigsten vorkommenden Lebenssituationen.

Diese unterschiedlichen Fälle journalistischer Berichterstattung werden zunächst nach ihrer Zielsetzung und ihrem Selbstverständnis (Abb. 1), dann nach ihrer Quellennutzung und ihrem Arbeits- und Rechercheaufwand sowie ihrer Akzeptanz seitens jener klassifiziert, über die recherchiert und veröffentlicht wird (Abb. 2).

Abb. 1: Bandbreite journalistischer Berichterstattung

»Hofberichterstattung«, die Übernahme von z. B. Pressemeldungen 1:1 oder das Schön- oder »Hochschreiben« (im Gegensatz zum »Runterschreiben«) ist kein Privileg früherer Zeiten – Verlautbarungsjournalismus ist auch heute vielfach gang und gäbe. Beispiel: Die TV-Berichterstattung über den gefallenen Radprofi Jan ULLRICH bis zum Jahr 2007 durch den ehemaligen ARD-Sportkoordinator Hagen BOßDORF, der ULLRICHs Buch »Ganz oder gar nicht« verfasst hatte. Als erste Dopingvorwürfe bei der Tour de France auftauchten, hatte Sportjournalist BOßDORF das so abgetan: »Sagt die Telekom, es gibt keinen Dopingfall, dann gibt es auch keinen Dopingfall für die ARD.« Umgekehrt hatten SPIEGEL-Redakteure Indizien und Belege ausgegraben – sie hatten nach der (verborgenen) Wahrheit gesucht, die nicht öffentlich wahrgenommene Realität des flächendeckenden Dopens im Radsport thematisiert. ULLRICH wurde letztlich des Dopings überführt (mehr unter www.ansTageslicht.de/Ullrich). Inzwischen hat die ARD hinzugelernt: Jetzt ›leistet‹ sie sich einen Spezialisten, den (Anti-)Doping-Journalisten Hajo SEPPELT.

»Verlautbarungsjournalismus« bedeutet weniger Arbeit und Aufwand als Recherchieren – auch aus diesem Grund findet kritisches Hinterfragen nicht sooft statt wie die Nutzung bequem zugänglicher Quellen (Abb. 2). Zwischen diesen beiden polaren Fällen liegen all die Recherche- und Berichterstattungssituationen, die unser Mediensystem vor allem prägen. Z. B. Journalismus, der sich vorrangig auf »allgemein zugängliche Quellen« stützt:

Abb. 2: Bandbreite journalistischer Berichterstattung und (unterschiedliche) Quellennutzung

»Allgemein zugängliche Quellen« sind all die Dinge, an die man ohne Probleme und Arbeitsaufwand herankommen kann: Zeitungen, Bücher in Bibliotheken, Pressemitteilungen usw. Hier hat aber der technische Fortschritt vieles verändert – inzwischen zählen auch alle Informationen dazu, die online verfügbar sind. Bleibt man bei dieser Definition, würden auch geheime Dokumente auf sogenannten Leaking-Plattformen dazurechnen.

Die Nutzung von nicht nur »allgemein zugänglichen Quellen« (siehe Kapitel 4.6) bedeutet, dass man darüber hinaus selbst Informationen einholt und Nachfragen stellt, um beispielsweise die Informationen aus den rein »allgemein zugänglichen Quellen« zu ergänzen oder aufzustocken – Recherchieren light sozusagen.

Das Nutzen von nicht ohne weiteres nutzbaren Quellen (siehe Kapitel 4.6) bedeutet bereits echtes Recherchieren. Also Informationen zu organisieren, was mit hohem Aufwand, z. B. an Zeit verbunden ist, aber auch schon die Kenntnis von Recherchemethoden voraussetzt.

Will man Quellen nutzen, die eigentlich nicht für die Öffentlichkeit und deswegen auch nicht für Journalisten vorgesehen sind, also Quellen, die deswegen auch offiziell gar nicht zugänglich oder teilweise sogar gesperrt sind, dann befindet man sich bereits beim harten Recherchieren, dem sogenannten »investigativen« Journalismus. Viele Einblicke in Realitäten und Zusammenhänge, von denen man sonst nichts wissen würde, können nur auf diese Weise journalistisch organisiert werden.

Parallel dazu steigt der Arbeitsaufwand, der auch ein zunehmendes Maß an Recherchetechniken voraussetzt.

Und ebenfalls parallel zu dieser Skalierung läuft auch die Akzeptanz seitens derer, die Gegenstand bzw. das Objekt von Recherchen (OdR) sind:

Abb. 3: Bandbreite journalistischer Berichterstattung, Quellennutzung und Akzeptanz der Betroffenen (OdR)

Aus diesem Grund können journalistische Barrieren, die kritische Berichterstattung erschweren oder verhindern sollen, unterschiedlich aufgestellt sein, wie in der nächsten Abbildung angedeutet. In totalitären Staaten, in denen Zensur und keine Pressefreiheit herrscht, beginnen Barrieren sehr früh zu greifen. Zugelassen und akzeptiert wird nur die Nutzung allgemein zugänglicher Quellen. Wer darüber hinaus bereits mit anderen Quellen arbeitet, macht sich bei den Mächtigen schnell unbeliebt (vgl. Abb. 4):

Abb. 4: Bandbreite journalistischer Berichterstattung, Quellennutzung und Barrieren in totalitären Staaten

Anders in freiheitlich organisierten Gesellschaftssystemen. Politisch gesetzte Barrieren beginnen erst spät, Faktische noch später: Je ausgefeilter die Recherchetechniken und je größer die Spielräume, die sich mittels Kreativität erschließen lassen, umso breiter und tiefergehend fallen auch die realen Recherchemöglichkeiten aus – ohne Leib und Leben zu riskieren:

Abb. 5: Bandbreite journalistischer Berichterstattung, Quellennutzung und Barrieren in freiheitlich organisierten Staaten

Solche Barrieren können unterschiedlichen Ursprungs sein:

  • eingeschränkte Wahrnehmung beim Journalisten selbst, z. B. durch Stress und Arbeitsroutinen bedingt, Stichwort Tunnelblick. Darum geht es in Kapitel 2.
  • Maßnahmen der Gegenseite: z. B. eine Mauer des Schweigens oder der Einsatz von Nebelkerzen zwecks Ablenkung oder Irreführung. Darüber wird im dritten Kapitel zu sprechen sein.
  • Vorsprung der Gegenseite bei den Informationen, sprich dem Herrschaftswissen, das es zu knacken gilt – siehe ebenfalls Kapitel Nummer 3.
  • Juristische Barrieren wie Androhung von gerichtlichen Maßnahmen oder vorhandene rechtliche Grenzen: z. B. die vielen Geheimnisse, die unser bundesdeutsches Gesellschaftssystem prägen oder Persönlichkeitsrechte. Auf derlei – potenzielle – Barrieren gehen wir mehrfach ein.

»Barrieren« meint Widerstände. Widerstand bedeutet nicht, dass es nicht ginge. Es bedeutet nur, dass es schwieriger und/oder aufwendiger wird. Und genau hier beginnt investigatives Recherchieren, wenn man es vom Ziel und dem damit verbundenen Aufwand her betrachtet: Das Durchbohren gesperrter bzw. nach außen hin abgeschotteter Lebenswelten und Realitäten gestaltet sich mühsam. Hier setzt aber auch dieses Buch an.

1.2 Kriterien für »investigativen Journalismus«


Fasst man bisherige Definitionsansätze zusammen (z. B. REDELFS 1996: 26 ff; HALLER 2000: 124 ff; van EIJK 2005: 12 ff; LUDWIG 2005: 122 ff; CARIO 2006: 23 ff; Investigative Reporters and Editors unter www.ire.org: »About us« )und bindet man vorhandene Überlegungen aus dem Wissenschaftsbereich und praktische Erfahrungswerte zusammen, so lässt sich investigativer Journalismus bzw. investigatives Recherchieren – zunächst – anhand von drei harten...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2015
Reihe/Serie Praktischer Journalismus
Praktischer Journalismus
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien Journalistik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Informanten • Informantenschutz • Investigative Recherche • Jounalismus • Recherche • Undercover-Recherche
ISBN-10 3-7445-0700-9 / 3744507009
ISBN-13 978-3-7445-0700-4 / 9783744507004
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