Wetterwechsel (eBook)
314 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45137-4 (ISBN)
Mariano Barbato ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau und Associate Professor (zugleich DAAD-Langzeitdozent) an der Andrassy Universität Budapest. Er lehrte im Winter 2021/2022 als Una Europa Gastprofessor und im Sommer 2022 als Gastprofessor für Internationale Beziehungen am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.
Mariano Barbato ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Passau und Associate Professor (zugleich DAAD-Langzeitdozent) an der Andrassy Universität Budapest. Er lehrte im Winter 2021/2022 als Una Europa Gastprofessor und im Sommer 2022 als Gastprofessor für Internationale Beziehungen am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin.
1.Morgenlagen im Kanzleramt
»Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter«: Mit diesem Slogan zogen die Grünen 1990 in den Wahlkampf, um sich von der thematischen Dominanz der Deutschen Einheit abzugrenzen und auf den globalen Klimawandel hinzuweisen. Außenpolitisch und metaphorisch lässt sich von Deutschland und dem Wetter aber auch gut gleichzeitig sprechen. Der Bezug zum Wetter ergibt sich durch die konstitutive Vorstellung einer auswärtigen Welt.
Die etymologischen Wurzeln des Begriffs der Politik reichen tief in die Metaphernwelt der Griechen und tradieren über die Polis ein Erbe mit ungebrochener Assoziationskraft: Die griechische Polis steht für den Stadtstaat, genauer bezieht sich der Begriff auf die Burg. Die Akropolis, Athens Burgberg, lässt ebenso wie mittelalterliche Burgen und Stadtmauern erahnen, dass ein Gegensatz zwischen innen und außen die Bürgerschaft konstituierte. Eine Politik, die nicht im befriedeten Innern bleibt, sondern hinaustreten muss, setzt sich metaphorisch folgerichtig dem Wetter und mitunter rauen klimatischen Bedingungen aus. An sie schließen sich semantische Metaphernfelder des Staatsschiffs, des Steuermanns und des Wettbewerbs an.1 Die Wetterfühligkeit erhielt sich im Territorialstaat, dessen fiktive Linien in der Landschaft mitunter und aus unterschiedlichen Motiven mit Mauern gesichert wurden. Klimawandel und Kapitalismus haben in den letzten Dekaden ein Bewusstsein von der Erde als gemeinsames Haus oder globales Dorf etabliert. Russlands Überfalls auf die Ukraine verschob 2022 die Plausibilität zurück auf die Verteidigung von staatlichen Linien und das Abgrenzen regionaler Räume, weil auch gesicherte Grenzen den Unterschied machen, ob und wie Menschen leben können.
Die Großwetterlage veränderte sich für die deutsche Außenpolitik nicht zum ersten Mal. Aber im Wechsel von Machtbalance, Interessendefinitionen und Identitätskonstruktionen blieb deutsche Außenpolitik doch immer an ihre Nachbarschaft gebunden. Die Pentarchie der Großmächte, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatte und durch den deutschen Nationalstaat im 19. Jahrhundert neuformatiert worden war, wechselte mehrmals ihr Gesicht, und die nachbarschaftliche Qualität der Interdependenzen variierte beträchtlich. Aber die Bezogenheit und die Abhängigkeit Deutschlands vom außenpolitischen Agieren Frankreichs, Russlands, Englands, später der USA, und dem Bestehen oder Fehlen mitteleuropäischer Handlungsfähigkeit, kennen seit der Reichsgründung Bismarcks trotz aller Umwälzungen keine Zäsur, nur Kontinuität. Mit der Weltpolitik des weitgehend vergessenen Kanzlers Bülow kam eine globale Dimension hinzu, deren schwankende Konjunkturen ihre Zentren in Ostasien und Vorderasien hatten und haben.
Wetterlage
»Lage, Lage, Lage«: Staaten sind große Immobilien. Die Weisheit des Hotelmoguls, dass es bei Immobilien auf die Lage ankommt, dürfte deswegen auch für die Außenpolitik nicht unerheblich sein. Die in Raum und Zeit gewachsenen Ressourcen eines Ortes stehen in Beziehung zu einer Nachbarschaft und ihrer historischen Gestaltung. Deren kontinuierliche Interaktion bildete eine politische Landschaft aus, die bestimmte Optionen befördert, andere behindert.
Die Betonung der Lage und ihrer Geschichte steht im Gegensatz zur Präferenz in der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die Ebene der Außenpolitik einzelner Staaten von der strukturellen Gesamtschau des internationalen Staatensystems zu trennen.2 Auf der systemischen Ebene verschwinden die außenpolitischen Einzelheiten, so dass sich generalisierende Aussagen beispielsweise über die Funktionsgleichheit der um ihre Sicherheit besorgten Staaten treffen lassen. Statt »Lage, Lage, Lage« gilt dann: »a state is a state is a state.« Staaten unterscheiden sich dann nur nach ihrer militärischen oder ökonomischen Stärke. Transformationsprozesse interessieren vor allem hinsichtlich der systemischen Veränderung von der Anarchie der Staatengemeinschaft zur Weltordnung des globalen Regierens.
Im Windschatten der Globalisierung hoffte die deutsche Außenpolitik darauf, dem Paradigma des außenpolitischen Realismus mit seinen Diskussionen von Staat, Macht, Interesse entkommen und sich ganz auf ein liberales Alternativmotto »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« konzentrieren zu können. Der globale Kapitalismus versprach Wohlstand und Frieden in Freiheit. Gerade Deutschland hatte mit machtpolitischen Antworten auf die Verhältnisse seiner nachbarschaftlichen Lage wie mit dem Versuch, ökonomische Potentiale in militärische Stärke und Dominanz umzuwandeln, schlechte Erfahrungen gemacht. Weil deutsche Außenpolitik in Verbrechen und Versagen gemündet war, zog die Konjunktur der Global Governance in Deutschland besonders steil an. Prozesse der Globalisierung erlaubten eine radikale Kritik an den Diskursen der Außenpolitik. Weltinnenpolitik schien möglich.3
Das direkte Ausspielen ökonomischer Stärke auf den Weltmärkten entwickelte sich zum Königsweg deutscher Außenpolitik, der auch in sicherheitspolitisch heiklen Lagen als gangbar galt. Bereits die westdeutsche Ostpolitik der 1970er Jahre versprach sich einen Wandel durch Handel als Ausweg aus der Blockkonfrontation des Ost-West-Konflikts. Der Vorwurf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, den er zu Beginn des Krieges im März 2022 in einer dramatischen Videoansprache vor dem Deutschen Bundestag gegen die deutsche Außenpolitik erhob, mit dem ewigen deutschen Mantra von »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« den Zement für eine neue Mauer in Europa angerührt zu haben,4 traf die deutsche Außenpolitik an einer empfindlichen Stelle. Statt Frieden und Verständigung hätte der einträgliche Gashandel mit Russland Krieg und Mauern gebracht. Das Gasgeschäft aber markierte nicht erst seit den »Nord Stream«-Ostseepipelines, sondern schon seit Willy Brandt den ökonomischen Kern der Ostpolitik. Wenn hier das Mantra von »Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft« seine Lösungsfähigkeit verlor und zum Teil des Problems wurde, könnten auch anderswo Risse im wirtschaftspolitischen Fundament der deutschen Außenpolitik entstehen.
Lassen sich die europäischen Nachbarn, allen voran Frankreich, im Rahmen der Europäischen Union kooperativ integrieren, oder wehren sie sich gegen ökonomische Dominanz Deutschlands? Vergrößert sich die Handlungsfähigkeit Mitteleuropas? Welche gemeinsame Position lässt sich gegenüber Russland als Sicherheitsbedrohung, aber auch als Energie- und Rohstofflieferant gewinnen? Funktioniert die deutsche Außenhandelspolitik im Rahmen einer globalen Weltwirtschaftsordnung noch, wenn die USA und China nicht mehr den Ausgleich suchen, sondern auf Konfrontation gehen oder gar die von den USA geschaffene machtpolitische Grundlage des Völkerrechts wegbricht? Die Frage nach der globalen Großwetterlage lässt sich nicht allein mit dem Verweis auf die deutsche Handelsbilanz beantworten. Dass im Mai 2022 nicht der übliche Überschuss erwirtschaftet wurde, sondern ein Defizit von einer Milliarde zu Buche schlug,5 deutet auf eine Verwerfung hin. Die Exporte brachen nicht ein. Doch der teure Energieimport, vor allem aus den Vereinigten Staaten, nahm signifikant zu. Die Lage verschiebt sich dynamisch.
Geopolitik
So wie die Dinge liegen, scheint die Rede von der Lage aber weniger einen geopolitisch schon erhellend durchbuchstabierten Begriff zu bieten. Schwedische, angloamerikanische und vor allem deutsche Schulen der Geopolitik haben die ortsgebundene Herangehensweise in den letzten 150 Jahren zudem in der deterministischen Überbetonung machtpolitischer Konfigurationen erheblich diskreditiert. Die kritische Geopolitikforschung sucht seit einiger Zeit einen Ausweg aus dem machtpolitischen Reduktionismus und betont die Offenheit des Raums und die Relevanz der Interaktion in ihm. Stefano Guzzini bemerkte warnend, dass geopolitische Debatten immer dann aufkommen, wenn die außenpolitische Orientierung fehlt.6
Die klassische Geopolitik trägt zwar ihre Thesen mit der...
Erscheint lt. Verlag | 12.10.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Vergleichende Politikwissenschaften |
Schlagworte | Adolf Hitler • Ambitionen • Angela Merkel • Annalena Baerbock • Außenminister • Außenministerin • Außenministerium • Außenpolitik • Auswärtiges Amt • Bernhard von Bülow • Bundeskanzler • Bundeskanzlerin • Deutsche • Deutsche Außenpolitik • Deutsche Geschichte • Deutschland • Diplomatie • Erster Weltkrieg • Frieden • Gerhard Schröder • Geschichte • Gustav Stresemann • Hans-Dietrich Genscher • Heinrich Brüning • Helmut Kohl • Helmut Schmidt • Joschka Fischer • Kanzleramt • Konrad Adenauer • Krieg • Militärgeschichte • Olaf Scholz • Otto von Bismarck • Platz an der Sonne • Politik • Politikwissenschaft • Reichskanzler • Sicherheitspolitik • Theobald von Bethmann Hollweg • Walter Scheel • Weltmacht • Weltpolitik • Willy Brandt • Zeitenwende • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-593-45137-9 / 3593451379 |
ISBN-13 | 978-3-593-45137-4 / 9783593451374 |
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