Der Tag, der mein Leben veränderte (eBook)
»Tim Pröse befasst sich in seinem Buch mit Schicksalsschlägen. Das enorm Bewegende dabei ist, dass er empathisch mit diesen Schicksalen umgeht. Er hört einfühlsam zu, bringt sich selbst ein, gibt das Essenzielle der Begegnungen weiter und hilft uns damit, aus all diesen Schicksalen für uns das zu entdecken, woraus wir für unser Leben lernen können.« Konstantin Wecker
Tim Pröse, geboren 1970 in Essen, ist Autor und freier Journalist in München. Sein Buch »Jan Fedder - Unsterblich« schaffte es 2021 aus dem Stand heraus auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Darauf folgte 2022 ein weiterer Platz 1 mit »Hans-Erdmann Schönbeck ?... und nie kann ich vergessen?« (»Es lohnt sich zu lesen, für uns alle« heute journal). Tim Pröse studierte Kommunikationswissenschaften, Politik und Psychologie, war Redakteur und Chefreporter, bekam den »Katholischen Medienpreis«, bevor 2016 sein Longseller erschien: »Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler« (FAZ: »Eines der berührendsten Bücher des Jahres«), 2017 folgte »Hallervorden. Ein Komiker macht Ernst«, 2018 »Samstagabendhelden« und 2019 »Mario Adorf. Zugabe!« (ZEITmagazin: »Ein feinfühliges Porträt«). Tim Pröse tourt mit bisher etwa 400 Lesungen durch Deutschland und war an mehr als 180 Schulen zu Gast mit seinen Vorträgen über Sophie Scholl, Oskar Schindler und Claus von Stauffenberg. 2022 erschien »Der Tag, der mein Leben veränderte. Von Menschen, die aus tiefster Krise zu sich fanden« (stern: »Eine Sammlung, die man nicht mehr vergisst«). 2024 kommt »Wir Kinder des 20. Juli. Gegen das Vergessen: Die Töchter und Söhne des Widerstands gegen Hitler erzählen ihre Geschichte« heraus.
Unterwegs mit dem Seelenretter
Hermann überbringt Todesnachrichten und richtet wieder auf. Eine Reise durch die dunklen Nächte
Das Leben danach beginnt um fünf nach zehn.
Was von diesem Leben übrig blieb, halte ich in meiner Hand. Eine kleine Tüte bloß. In ihr liegt die letzte Habe der Toten von Gleis 5. Ihr Portemonnaie, ihre Zigaretten, ihr Feuerzeug. Der Ausweis im Geldbeutel offenbart, dass die Tote vor ein paar Tagen erst 30 Jahre alt wurde. Dann ihre Uhr. Das Glas über dem Zifferblatt ist zerborsten, die Zeiger sind stehen geblieben, als der Zug über die Frau fuhr. Fünf Minuten nach zehn. Der Zeitpunkt, als ihr Leben endete.
Die Tote von Gleis 5 ist ein »Personenschaden«, so sagt die Deutsche Bahn dazu, weil sich das Entsetzliche so einfacher aussprechen lässt. Die Zugführer teilen diesen »Schaden« beinahe täglich mit. Eine Durchsage wie so viele für die Fahrgäste. Dabei ist es doch eine Todesnachricht.
Ich sitze fast jede Woche in irgendeinem Zug, der irgendwo in Deutschland stehen bleibt. Meist fährt er bald weiter. Doch leider höre ich viel zu oft diese Nachricht durch die Lautsprecher meines Waggons. Ich habe mir angewöhnt, in diesem Moment zu beobachten, wie meine Mitreisenden weiterleben nach dieser »Störung«. Nach diesem Halt auf freier Strecke. Dieser Katastrophe, die uns erreicht, wenn wir uns in den Polstern der ICE-Sessel zurücklehnen.
Während ein Mensch vor Sekunden zerschellte.
Viele im Waggon, denen ich zusehe und zuhöre, seufzen. Andere neben mir stöhnen jäh auf, ein paar sogar, weiter hinten, schimpfen, »wer sich denn da um Himmels Willen wieder umbringen musste?!« Und andere fragen: »Schlimm, das alles … aber hätte der nicht auch mal an seine Mitmenschen denken und sich erschießen können?« Und wieder ein anderer raunte vor Kurzem bei einem anderen Vorfall: »Na toll! Wegen dem werd’ ich meinen Termin nicht schaffen!«
So in etwa klingt das Echo auf das Ende eines Menschenlebens in einem ICE. Es könnte aber auch eine S-Bahn sein oder ein Vorortzug, in dem wir mal wieder zu spät zur Arbeit kommen.
Deswegen, auch deswegen, stehe ich jetzt, ein paar Monate später, mit dieser Tüte in der Hand vor einer fremden Tür, irgendwo in München. Weil ich in diesem Buch von Schlägen des Schicksals erzählen möchte und von Tagen, nach denen nichts mehr ist, wie es einmal war. Aber auch von neuer Hoffnung. Neuer Stärke. Neuem Leben nach dem Tod.
Ich begleite dafür Menschen, die mitten in dem, was wir das normale Leben nennen, ganz plötzlich hinabfallen in das, was wir als »ganz unten« bezeichnen.
Ich werde als Reporter aber auch dabei sein, wenn diese Menschen wieder Anlauf nehmen, um ihr Leben neu zu beginnen, sich zu erheben nach dem großen Sturz. Oder wenn sie sich an diese Zeit des Aufbruchs erinnern.
Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen »Resilienz«. Gemeint ist die Widerstandskraft der Seele.
Beginnen möchte ich mit jenen »Personenschäden«, die nicht nur ein Leben beenden, sondern auch die Leben der Hinterbliebenen eines solchen »Schadens« für immer verändern. Von einem Augenblick auf den anderen ist alles anders. Ein privater Weltuntergang hat sich ereignet für ein paar Menschen, die diesen Toten kannten oder liebten. Diese untergegangene Welt bleibt uns verborgen, und wir wollen das auch so. Wir haben uns an vieles gewöhnt.
Seit aber die Mutter eines meiner besten Freunde vor drei Jahrzehnten auf einem Bahngleis aus dem Leben ging, gelingt mir das nicht mehr.
Auch dieser Beutel in meiner Hand bricht mit vielem, an das ich mich versucht hatte zu gewöhnen. Er birgt letzte Dinge. Neben mir steht Hermann Saur. Sein Leben lang schon steht er vor fremden Türen. Steht durch. Steht bei. Hält stand. Er ist von der Kriseninterventionshilfe.
Das Glück steht vor der Tür… so heißt es zumindest. Aber das stimmt nicht. Nicht, wenn Hermann Saur klingelt. Dann steht das Unglück davor.
80 Prozent der Deutschen sterben als relativ alte Menschen oder weil eine Krankheit den Tod zuvor angekündigt hat, sagt Hermann. Doch 20 Prozent aller Tode in Deutschland kommen plötzlich und unerwartet. An irgendeinem viel zu frühen oder bis dahin so harmlosen Tag. Für diese Tode und Tage ist Hermann Saur zuständig. Wenn er irgendwo hineilt, geraten Leben aus den Fugen. Von jetzt auf gleich. In nur einem Moment.
Es gibt die Erste Hilfe. Und es gibt die Letzte Hilfe. Die leistet Hermann Saur. Er soll der starke und feste Rahmen sein für den Kern dieses Buches. Alles, was ich mit ihm erlebe, führt schließlich zu den Menschen, die ich porträtiere und deren Geschichte ich in diesem Buch nachzeichne.
Diesmal ist es ein Tag im Hochsommer. Wir haben uns gerade auf den Weg zur Mutter der jungen Frau gemacht, die sich vor den Zug geworfen hat. Zwei Polizisten warten schon. Sie haben noch nicht geklingelt. Sie nehmen Hermann und mich am Hauseingang in Empfang. Hermann wird die Sache jetzt übernehmen. Einer der Beamten hält ihm den Plastikbeutel hin. Er nimmt ihn und reicht ihn an mich weiter. Ich soll ihn der Hinterbliebenen gleich übergeben, denn ich will und ich darf Hermann für dieses Buch begleiten. Dann muss ich das jetzt tun und nicht nur erstarren in der Wucht dieses Moments.
Hermann überbringt Todesnachrichten. Bei etwa einem Drittel seiner Einsätze ist er der Erste, der das Unsagbare ausspricht. In den anderen zwei Dritteln ist der Tod schon seit ein paar Minuten bekannt und das Beben, das er mit sich bringt, schon losgebrochen. Wenn Hermann jetzt an dieser Tür klingelt, wird eine Mutter öffnen, die gerade ihre Tochter verloren hat. Sein Blick fällt auf die Klingelknöpfe. Jetzt nur nicht den Falschen wecken.
Hermann Saur ist ein Erstretter für die Seele. Hauptberuflich war er bis 2020 Leiter der Münchner Notfallseelsorge und katholischer Diakon. Ein Diakon ist ein von der Kirche geweihter, aber nicht zölibatär lebender Mann, der in »besonderer Weise denen verpflichtet ist, die auf Hilfe angewiesen sind«. Das Vorbild der Diakone ist der Samariter.
Wenn Hermann die Nachricht vom Tod überbringt und den Hinterbliebenen beisteht, kommt er den Menschen aber meistens nicht mit dem lieben Gott. Stattdessen ist er ganz weltlich im Auftrag des »Krisen-Interventions-Team München« (KIT) unterwegs. Das KIT in dieser Stadt besteht aus 50 Männern und Frauen, die verschiedenen Not- und Rettungsdiensten angehören. Hermann arbeitet ehrenamtlich wie alle KIT-Leute. Meist dauert seine Bereitschaft 24 Stunden lang. Gern aber auch ein ganzes Wochenende.
Diesmal ist Hermanns Dienstplan anders. Weil ich ihn begleite, sind wir zwei Wochen am Stück im Einsatz. Und nun, vor dieser Tür der Mutter, wartet unser erster gemeinsamer »Fall«.
Ich wollte unbedingt mit Hermann losfahren. Weil ich irgendwann auf meinen vielen Reisen gespürt habe, dass ich selber auf einen »Personenschaden« mit einigem Unmut reagierte. Beim letzten Mal stand mein ICE stundenlang im Nirgendwo. Und dann erschienen Männer vor meinem Zugfenster. Erst Polizisten, dann Sanitäter, dann die Bestatter. Und mittendrin Frauen und Männer in roten Uniformen mit dem KIT-Aufnäher an ihren Jacken.
Vögel kreisten über der Szenerie. Krähen. Auf der Suche nach dem, was übrig geblieben war.
In diesen Stunden auf freier Strecke merkte ich, dass es mal wieder an der Zeit für mich war, ein anderer zu werden. Oder wenigstens etwas an mir zu ändern. Ich wollte nicht länger taub und kühl, vielleicht sogar verärgert sein, wenn mich der nächste »Personenschaden« aufhalten würde. Ich wollte meine Empfindsamkeit für diese scheinbar so fernen und namenlosen Toten wiederbeleben.
Ich wollte wieder fühlen wie das Mädchen im Grundschulalter in meinem stillstehenden Waggon, das aus dem Fenster auf die Szenerie starrte und das seine Eltern solange fragte und fragte, bis sie ihm endlich sagten, was geschehen war. Und das dann, als es langsam begriff, erschüttert war und durch den Waggon irrlichterte. Das suchend durch die Fenster ins Freie schaute. Helfen wollte. Und seine Mutter fragte: »Mama, was können wir jetzt tun?«
Ich suchte in diesem Moment in meinem Handy nach ersten Infos zur Kriseninterventionshilfe. Und als ich das Mädchen beobachtete, fühlte auch ich mich tatsächlich schon ein ganz kleines bisschen wieder wie ein Kind. Ein Junge, in dem sich damals schon dieser merkwürdige Wunsch ausbreitete, Journalist zu werden. Weil man in diesem Beruf so fragen darf, ja, so fragen muss, wie dieses Mädchen. Auch nach dem, was gern verschwiegen wird. Und weil man in einem Reporterleben mit etwas Glück viele Leben in diesem einen leben kann.
Am liebsten traf ich dafür in den vergangenen drei Jahrzehnten Menschen, deren Leben sich jäh verändert hatte. Und die das oft ganz wundersam durchstanden. Resiliente Menschen eben. Vielleicht interessierte mich in meinem Journalistenleben auch deswegen das Schicksal von Holocaust-Überlebenden so sehr. Oder das von Menschen, die sich dem Schicksal und den Gesetzen des Kriegs widersetzten.
Ich wollte diese anderen Leben mitfühlen, am liebsten ein paar Tage lang mitleben. Und dieses Gefühl dann aufschreiben und es verbreiten. Diesem Empfinden zu etwas mehr Macht verhelfen.
Es sollte aber nicht irgendeine Geschichte sein. Sondern eine, in der es um Leben und...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Biografie • Biographien • eBooks • Ersthelfer • Katastrophen • Krisen • Lebenskrisen • Lebensmüde • Lebensmut • Neuanfang • Neuerscheinung • Neues Leben • Psychologie • Schicksalsschlag • Schicksalsschläge • Zweites Leben |
ISBN-10 | 3-641-27961-5 / 3641279615 |
ISBN-13 | 978-3-641-27961-5 / 9783641279615 |
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