Aus Buenos Aires in die Welt (eBook)

Die Bedeutung informeller Arbeit in der argentinischen Automobilindustrie
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
386 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45180-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus Buenos Aires in die Welt -  Johanna Sittel
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Wirken sich Scheinselbstständigkeit, inoffizielle Lohnzahlungen und unbezahlte Familienarbeit auf die globale Ökonomie aus? Johanna Sittel durchleuchtet am Beispiel der argentinischen Automobilindustrie das Phänomen der informellen Arbeit. Informalität entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel betrieblicher und häuslicher Strategien und ist von grundlegender Bedeutung für die Existenz von Haushalten und wirtschaftlichem Handeln. Das Buch deckt auf, wie stark unsichtbare Arbeitsformen in Betrieben und Haushalten auf lokaler Ebene in global ausgerichtete Gu?terketten und Produktionsnetzwerke involviert sind.

Johanna Sittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Arbeits-, Wirtschafts- und Industriesoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Johanna Sittel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena.

2.Informalität: Begriffe und Konzepte


»In sum, although interest in the informal economy has waxed and waned since the early 1970s, the concept has continued to prove useful to many policymakers, activists and researchers. This is because of the significance of the reality that it seeks to capture: the large share of the global workforce that contributes significantly to the global economy, while remaining outside the protection and regulation of the state«

Chen 2012: 3 f.

Mit Informalität werden verschiedene soziale und ökonomische Erscheinungen im Bereich der Warenproduktion, dem Handel, der Arbeitsbeziehungen, am Arbeitsplatz und/oder auch im Haushalt assoziiert.12 Informelle Arbeit umfasst ein weites Spektrum an Tätigkeiten. Diese reichen von sogenannten »Schwarzarbeiter*innen« in der Fabrik über informelle Selbstständigkeit im Handwerksgewerbe bis hin zu Arbeiten im Haushalt. Ebenso heterogen wie das Phänomen selbst sind die verschiedenen Informalitätskonzepte.

Informalität liegen unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze und Interpretationen zugrunde. Der Begriff fand seinen Ursprung in wissenschaftlichen Erkenntnissen der 1970er Jahre. Zu dieser Zeit wurde in Regionen der sogenannten »Dritten Welt« der informelle Sektor als bedeutender Bestandteil der dortigen Ökonomien entdeckt. Der informelle Sektor entstand im Zusammenhang massiver Urbanisierungsprozesse und gab einem großen Teil der ehemaligen Landbevölkerung, zum Beispiel durch ambulanten Handel, eine monetäre Einkommensmöglichkeit. Die Informellen wurden gemeinhin zu den Marginalen der neuen städtischen Bevölkerung gezählt und im Zusammenhang der Marginalisierungsthesen intensiv erforscht. In diesem Zusammenhang wurde Informalität häufig als Indikator für Unterentwicklung der peripheren Länder gegenüber den industrialisierten Zentren interpretiert (z.B. ILO 1972).

Im Laufe der 1970er und 1980er Jahren stieß diese dualistische Lesart von Informalität, insbesondere durch dependenztheoretische (Santos 2017 [1979]) und marxistisch-strukturalistische Ansätze (Portes u.a. 1989), zunehmend auf Kritik. Die Interpretationen von Informalität wurden insgesamt heterogener und komplexer (Pérez Sáinz 1991: 52 ff.). Seitdem wurde es zwar um Informalität in den wissenschaftlichen Debatten ruhiger, das Phänomen war jedoch aus Diskussionen um ungleiche Entwicklung und Globalisierung (u.a. Altvater/Mahnkopf 2002; Hürtgen u.a. 2009; Komlosy 2007; auch: Standing 1999) sowie aus bestimmten regionalen Kontexten wie Lateinamerika und Asien (Lüthje/Sproll 2002) nie ganz verschwunden. Auch im Rahmen der unter anderem durch Deregulierung, Liberalisierung, Flexibilisierung und Transnationalisierung vorangetriebenen Erosion des formellen Normalarbeitsverhältnisses, das sich nach dem zweiten Weltkrieg im Rahmen des Fordismus herausgebildet hatte (Mückenberger 1985), wurde Informalität vereinzelt problematisiert (Altvater/Mahnkopf 2002: 115; konkret: Jessen u.a. 1988). Und das nicht ohne Grund: Der informelle Sektor wuchs in den 1980er Jahren etwa doppelt so schnell wie der formelle (Pérez Sáinz 1991: 61 f.). Und auch heute macht der informelle Sektor mit 25 bis 50 Prozent noch einen beträchtlichen Teil am globalen BIP (ohne Landwirtschaft) aus (Charmes 2012). Weltweit arbeiten derzeit circa zwei Milliarden Menschen informell, was 61 Prozent der insgesamt global Erwerbstätigen darstellt (ILO 2018: 13; ILO 2020: 19). In Anbetracht des statistischen Defizits zu informell Arbeitenden (mehr dazu in Kap. 2.4 und 4.2) dürfte die Dunkelziffer jedoch bei weitem höher ausfallen. Während der Anteil an Informellen in Europa meist unter 20 Prozent liegt, arbeiten in Ländern Asiens und Lateinamerikas oft weit über zwei Drittel informell, in über der Hälfte der afrikanischen Länder sind es sogar über 90 Prozent (ILO 2018: 13). Die Zahlen legen den Gedanken, das informelle im globalen Kontext eher die »normale« Arbeit darstellt (u.a. OECD 2009), nahe.  

Spätestens seit der Krise ab 2007 wird das Phänomen, das bislang meist im Zusammenhang mit dem Globalen Süden diskutiert wurde, auch im europäischen Kontext bedeutsamer, da in dem Zusammenhang vermehrt ein Einzug des Informellen in den Globalen Norden diagnostiziert wurde (Burchardt u.a. 2013a; Mayer-Ahuja 2012; Schneider/Buehn 2012; ILO 2015). Dieser trifft nicht nur auf periphere europäische Länder zu, die besonders stark unter der Krise litten (Schmalz/Sommer 2019), sondern auch auf Deutschland. Er zeigt sich vor allem in besonders verwundbaren Branchen wie Logistik/Handelsdienstleistungen (Holst/Singe 2013) und der Pflege (Haubner 2017). Die Corona-Pandemie, die Deutschland ab März 2020 erfasste, könnte diese Trends noch verstärken.

2.1Ausgangspunkt: Marginalität und Unterentwicklung


Als Antwort auf die Herausbildung von Armenvierteln am Rande der Städte, die sich im Zuge der Urbanisierung zunehmend mit Menschen füllten, entstand in den 1950/1960er Jahren in Lateinamerika die »Theorie der Marginalität« (Bennholdt-Thomsen 1981). Diese – die eigentlich zu facettenreich ist (Delfino 2012), um sie als eine Theorie zu bezeichnen13 – erlangte schnell internationale Bekanntheit und wurde in den nachfolgenden Jahrzehnten kontrovers diskutiert. Anfangs wurde die Marginalität städtischer Bevölkerungsteile im Lichte der Modernisierungstheorie als ein defizitärer Entwicklungsprozess betrachtet, dem durch Wirtschaftswachstum und Entwicklungspolitik entgegengewirkt werden könne (z.B. Lewis 1966; Germani 1980). Dieser eher sozial-kulturelle Fokus auf Marginalität lässt sich von einem eher ökonomisch-strukturellen abgrenzen (Delfino 2012: 20 ff.): Bereits für die Desarollist*innen14 war das Marginalitätskonzept bedeutend, um auf die strukturellen Probleme Lateinamerikas hinzuweisen, die durch Industrialisierung überwunden werden sollten. Im Zuge der – vor allem marxistisch orientierten – dependenztheoretischen15 Kritik an der Modernisierungstheorie, wurde Marginalität immer weniger als Entwicklungsdefizit, sondern vielmehr als Folge der abhängigen Entwicklung Lateinamerikas interpretiert (Bennholdt-Thomsen 1981: 1507). Marginalität wurde hier als Spiegel der abhängigen Entwicklung (Perlmann 1977) und als strukturelle Unmöglichkeit des Kapitalismus, alle verfügbaren Arbeitskräfte zu beschäftigen (Cardoso/Faletto 1976), diskutiert. Insbesondere die marxistischen Dependenztheoretiker*innen verstanden Marginalisierung als einen Prozess, der im Lichte kapitalistischer Akkumulation vonstattenging. Die bekanntesten konzeptionellen Überlegungen dazu entwickelten vor allem José Nun und Miguel Murmis. Nun sprach von der »marginalen Masse« (1969)16 in Abgrenzung zu Überbevölkerung und industrieller Reservearmee. Miguel Murmis verwies auf das marginale Arbeitskräftepotenzial als besonderes Merkmal für abhängige kapitalistische Entwicklung und differenzierte marginale Formen der Arbeitsmarktintegration jenseits kapitalistischer Ausbeutung aus – unter anderem sklavenähnlicher, Subsistenz und instabiler Formen freier Lohnarbeit, die man heute als prekär bezeichnen würde (Murmis 1969). Im Laufe der 1960er Jahre entstanden in Lateinamerika verschiedene Definitionen von Marginalität und Marginalisierung, die seitdem immer wieder aufgegriffen wurden (z.B. Auyero 1997; Waquant 2003; Davis 2006; Salvia 2010). Grundsätzliche Einigkeit besteht darin, dass das Marginalitätskonzept auf einen relevanten Teil der Bevölkerung verweist, der nicht durch dauerhafte Beschäftigung in den kapitalistischen Sektor integriert ist.

Im Zusammenhang mit der weiteren Betrachtung jener wissenschaftlich nur diffus erklärbaren marginalen Masse in Ländern des Globalen Südens entstand in den 1970er Jahren auch das Konzept der Informalität. Der Begriff tauchte erstmals prominent in Auftragsstudien für die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) zu Arbeitsverhältnissen in Ghana und Kenia auf (Hart 1973; ILO 1972) und beschrieb dort »informell« im sogenannten urbanen informellen Sektor Tätige als Arbeitende geringer Arbeitsproduktivität, deren Löhne nicht zur Subsistenzsicherung ausreichten. Diese ersten Analysen standen im Lichte der Modernisierungstheorie und ...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Reihe/Serie International Labour Studies
International Labour Studies
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Argentinien • Autozulieferindustrie • Betriebe • Dienstleister • Globale Güterketten • Haushalt • Informalität • Produktionsnetzwerke
ISBN-10 3-593-45180-8 / 3593451808
ISBN-13 978-3-593-45180-0 / 9783593451800
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