Verbot und Verzicht (eBook)

Politik aus dem Geiste des Unterlassens
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2022 | 1., Originalausgabe
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77302-4 (ISBN)

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Verbot und Verzicht - Philipp Lepenies
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Ein Reflex lähmt die politischen Debatten um den Klimawandel. Sobald es um Maßnahmen geht, die Einschränkungen bedeuten, ist die Empörung groß: Tempolimit? Der sichere Weg in die Ökodiktatur! Veggie-Day? Das war's mit dem Nackensteak! Dabei waren Verbot und Verzicht lange bewährte Instrumente, um Ressourcen zu schonen oder ökologische Krisen zu bewältigen. Man denke nur an das FCKW-Verbot.

Philipp Lepenies untersucht die Ursprünge dieser eingeübten Fundamentalopposition. Er führt sie auf die neoliberale Haltung zurück, die im Staat einen Gegner sieht und individuelle Konsumentscheidungen über moralische und ökologische Bedenken stellt. Dieser Geist falsch verstandener Freiheit hat allerdings eine Politik des Unterlassens hervorgebracht, die sich scheut, das Offensichtliche auszusprechen: dass eine sozialökologische Transformation ohne Verbot und Verzicht nicht gelingen wird.



Philipp Lepenies, geboren 1971, ist &Ouml;konom und Professor f&uuml;r Politikwissenschaft an der Freien Universit&auml;t Berlin. Im Suhrkamp Verlag ist von ihm zuletzt erschienen: <em>Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens</em>.

27I
Die Argumente des Unterlassens


Sich gegen Veränderungen zu stemmen und darauf zu pochen, dass die Dinge so bleiben sollen, wie sie sind, ist im ureigenen Sinn konservativ. Für diese Haltung kann es gute Gründe geben, und so gehört es zur konservativen oder besser: konservierenden Abwehrhaltung, sich mit progressiven Vorstellungen von Wandel auseinanderzusetzen und darauf zu reagieren. Wie man unter anderem in der aktuellen Debatte um Verbote und Aufforderungen zum Verzicht beobachten kann, gibt es zahlreiche Akteure, die einen Wunsch nach Veränderung nicht einfach akzeptieren. Sie suchen und formulieren Gegenargumente. Dabei bedienen sie sich wiederkehrender rhetorischer Muster.

Widerstand gegen eine umfassende gesellschaftliche Transformation formierte sich in Europa erstmals in besonderem Maße im Nachgang zur Französischen Revolution. Seitdem ist »Reaktion« der Ausdruck für eine politische Haltung, die auf transformative Politik verhalten bis abweisend reagiert. Sie ist konservativ, weil ihr die Erhaltung des Status quo, oder wie im Fall der Französischen Revolution: die Wiederherstellung des Status quo ante, am Herzen liegt. Die Reaktion kann mit der Idee einer großen Transformation nichts anfangen. Sie lehnt sie ab, weil sich, so argumentieren ihre Vertreter, in den bestehenden Verhältnissen eine Begründung oder Logik für deren Vorhandensein finde, die sie als valide und gerechtfertigt ansehen. Der Grund für dieses Unbehagen gegenüber Veränderungen ist die Vorstellung, dass sich bestehende institutionelle Strukturen (im Sinne von Regeln 28und Organisationsformen) in der Geschichte bewährt haben und es daher keines Wandels bedürfe. Für die Gegner der Französischen Revolution der ersten Stunde, allen voran Edmund Burke, war der Gedanke unerträglich, dass die französischen Vordenker der Revolution nicht auf Erfahrung und historische Strukturen setzten. Stattdessen glaubten diese im Sinne des Rationalismus und neu formulierter allgemeingültiger Prämissen, ein ganzes Land in seinen Grundfesten erschüttern und verändern zu können. Der Unterschied zwischen britischen Empiristen und französischen Rationalisten wurde selten so instrumentalisiert wie in den Argumenten, die Burke bereits 1790 in seinen Reflections on the Revolution in France (dt. u. ‌a. als: Betrachtungen über die Französische Revolution) gegen den französischen Transformationseifer vorbrachte.[28]  Auch bei neoliberalen Theoretikern, allen voran bei Friedrich Hayek, wird diese historische Dichotomie zwischen Empirismus und Rationalismus immer wieder bemüht.

Ausgehend von der Schrift des Kopernikus über die Umlaufbahnen der Planeten, De revolutionibus orbium coelestium von 1543, verband man mit dem Begriff der Revolution eigentlich eine zirkuläre Bewegung und im übertragenen Sinne die zirkuläre Bewegung der Zeit. Auch die englische Revolution Society, in deren Kreisen Burke sich bewegte und die in Erinnerung an die Glorious Revolution von 1688 ihren Namen erhalten hatte, nutzte den Ausdruck in diesem Sinn. So wollte man deutlich machen, dass vernünftige Politik und vernünftige Institutionen ihre Grundlage in der Geschichte hatten, nicht in Apriori-Vorstellungen von einer 29besseren Gesellschaft und einer besseren Welt. »Revolution« bedeutete für die Mitglieder der Society, dass nicht Theorie die politische Richtschnur spannte, sondern Geschichte. Mit der Französischen Revolution und dem Versuch, einen neuen Menschen und eine neue Ordnung zu schaffen, waren aber nicht länger die Geschichte und die Vergangenheit die Referenzpunkte, sondern die Zukunft. Eine Zukunft, von der die französischen Revolutionäre und die philosophes glaubten, sie aktiv gestalten zu können. Die Befürchtung, es handele sich dabei nicht um ein rein französisches Phänomen und um eine lokal begrenzte soziale Dynamik, sondern um eine »Übertragungskrankheit«, dass also die Revolution auch auf die Britischen Inseln übergreifen könnte, trieb die englischen Eliten jahrzehntelang um. Also musste die Reaktion versuchen, die Ereignisse der Französischen Revolution klein- bzw. schlechtzureden. Die Auswüchse der jakobinischen Terreur machten dies zu einer leichten Aufgabe. So begann der Versuch, Argumente zu finden, um zukunftsgerichtete und weitreichende politische Veränderungen zu verhindern.

In seiner 1991 erschienenen Studie The Rhetoric of Reaction (dt.: Denken gegen die Zukunft. Die Rhetorik der Reaktion) hat Albert O. Hirschman die Argumentationsmuster der Reaktion über einen Zeitraum von zweihundert Jahren untersucht. Dabei nutzte er drei große historische Transformationsmomente als realpolitische Ausgangspunkte, um zu zeigen, dass sich die Abwehrhaltung konservativer Kreise traditionell in drei rhetorischen Mustern äußerte. Die von ihm gewählten Beispiele waren die Französische Revolution (18. Jahrhundert), die Einführung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer, im 19. Jahrhundert) sowie die Etablierung des Wohlfahrtsstaates beziehungsweise die Einführung staatlicher 30Unterstützungsmaßnahmen für Arme, Arbeitslose, Kranke etc. (im 20. Jahrhundert).[29] 

Pervertierung


Das erste rhetorische Muster bezeichnet Hirschman als Perversity Thesis. Dieser zufolge ist jedwede revolutionäre politische oder soziale Transformation zum Scheitern verurteilt. Der Grund hierfür seien die nichtintendierten Effekte sozialen Verhaltens.[30]  Wie in der Bienenfabel Bernard Mandevilles könne ein bestimmtes zielgerichtetes Verhalten zu genau dem Gegenteil dessen führen, was eigentlich geplant war. Während in der Gedankenwelt Mandevilles privates Fehlverhalten zu positiven gesellschaftlichen Entwicklungen führte, galt die Französische Revolution konservativen Akteuren als ein Beispiel dafür, dass auch genau das Umgekehrte passieren konnte.[31]  Eine bessere Zukunft war dem Land versprochen worden, doch stattdessen herrschten 1793 Angst und Schrecken. Die alten, Sicherheit garantierenden Strukturen 31waren zerstört worden. Transformative Politik erreichte in dieser Logik perverserweise genau das Gegenteil von dem, was erreicht werden sollte. Fazit: Anstelle von Freiheit bringt Transformation Terror. Anstelle einer effektiveren und moderneren sozialen und politischen Ordnung regiert Chaos. Vormals gut funktionierende Institutionen werden durch defekte ersetzt.

Im Falle wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen wie der finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen und Armen lautet ein traditionelles Perversity-Argument, dass die monetäre Hilfe Arbeitslosigkeit und Armut nicht verringere, da diese Menschen durch die Unterstützung den fatalen Anreiz erhielten, sich nicht um eine Verbesserung ihrer Lage zu bemühen. Wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen würden zu Faulheit einladen.[32] 

»Verbotspolitik« führe in letzter Konsequenz stets dazu, dass die verbotenen Dinge mit besonderer Lust trotzdem getan werden – wie es in einer Liedzeile Wolf Biermanns heißt: »Keiner tut gern das, was man tun darf. Was verboten ist, das macht uns gerade scharf.« Man denke nur an die oben zitierten Auslassungen der Spiegel-Kolumnistin zu ihrem Flug- und Essverhalten. Als Musterbeispiel für verfehlte Verbotspolitik muss häufig die Prohibitionszeit in den Vereinigten Staaten herhalten. Verbote riefen, so ein deutscher Wirtschaftsjournalist in einem Artikel mit dem Titel »Was könnte man noch alles so verbieten?«, grundsätzlich »Umgehungsstrategien« auf den Plan.[33]  Es scheint, als sei es unmöglich, 32Menschen von einem einmal etablierten Verhalten abzubringen.

Die Perversity Thesis beruht auf der Annahme, dass der Mensch natürlichen und unveränderlichen Verhaltensmustern folgt. Dementsprechend besteht der Sinn von Politik und Institutionen darin, diese Muster zu erkennen, zu akzeptieren und sie zu nutzen – und nicht darin, sie verändern oder neu formen zu wollen. Davon ausgehend kann man Reformpolitikern dann vorhalten, und das ist die vermeintliche Stärke des Perversity-Arguments, sie würden die Natur des Menschen nicht verstehen. Wer über ein »richtiges« Verständnis der menschlichen Natur verfüge, begreife, dass die Dinge unweigerlich anders laufen ...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bäcker • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Bürgergeld • edition suhrkamp 2787 • Energiekrise • ES 2787 • ES2787 • FDP • Gaspreise • Grundsicherung • Grüne • Heizungsgesetz • Inflation • Markus Lanz • Mietendeckel • neues Buch • NordStream • Putin • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Tempolimit • ulrike hermann • Ulrike Herrmann • Umweltschutz • Wagenknecht • Wärmepumpe
ISBN-10 3-518-77302-X / 351877302X
ISBN-13 978-3-518-77302-4 / 9783518773024
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