Praktiken und Formen der Theorie (eBook)
330 Seiten
Beltz Juventa (Verlag)
978-3-7799-6755-2 (ISBN)
Dr. Christiane Thompson ist Professorin für Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt. Brinkmann, Malte, Dr. phil., Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin. Markus Rieger-Ladich, Prof. Dr., lehrt als Professor für Erziehungswissenschaft Allgemeine Pädagogik an der Universität Tübingen. Er engagiert sich in der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie der DGfE und ist Mitglied des Graduiertenkollegs »Doing Transitions« sowie des Netzwerks »Theoretische Forschung in der Erziehungswissenschaft«. Aktuell gilt sein Interesse der Analyse und Kritik von Privilegien sowie Tendenzen und Praktiken von Exklusion innerhalb der eigenen Disziplin oder in Bildungsinstitutionen, zum Beispiel vermittelt über autosoziobiografische Texte.
Praktiken und Formen der Theorie
Konturen der „Wissensarbeitsforschung“
Christiane Thompson
In seinem Eröffnungsvortrag zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahr 2014 hat Roland Reichenbach die Lage der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft als „posttheoretisch“ beschrieben (Reichenbach 2020, S. 137 ff.). Reichenbach kritisiert die permanente Forderung der Innovation und Neuerung, aus der seines Erachtens nur „kurzlebige Diskurse“ resultieren können (ebd., S. 145). Dies hat für die Stellung von Theorie problematische Folgen, obgleich – das sei angemerkt – zur Charakterisierung der Lage von Reichenbach auch eine gehörige Verachtung der pädagogischen Traditionen angeführt wird. Nach Auffassung von Reichenbach hat sich eine erziehungswissenschaftliche Forschung entwickelt, für die gar keine „Theorie“ mehr notwendig sei. An die Stelle von Theorien seien „theoretische Modelle“ getreten (ebd., S. 149), welche die zu verarbeitenden Konzepte in Kästchen und Pfeilen anordnen würden: „Weil diese ‚Theorien‘ so sprachlos sind, werden sie häufig ein wenig anders genannt, so spricht man gern von unserem ‚theoretischen Modell‘ […]. Richtiger wäre es wahrscheinlich, von ‚unserem posttheoretischen Modell‘ […] zu sprechen“ (ebd., S. 150). Mit dem Aufstieg dieses Programms empirischer Forschung
treten die systematische Verständigung und theoretische Reflexion von Begriffen in den Hintergrund.
Es bleibt im Text von Reichenbach allerdings nicht bei der polemischen Kritik an der empirischen Bildungsforschung. Ebenso kritisch und polemisch begegnet Reichenbach dem Feld erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung, das er als „Sockenhersteller-Kaste“ (ebd., S. 151) beschreibt. Die Kritik bezieht sich darauf, dass Theoretiker*innen einen Diskurs unter sich aufziehen und sich verhalten, wie „Sockenhersteller, die nur für andere Sockenhersteller Socken herstellen“, so Reichenbach mit Marquard (ebd., S. 150 f.). Insofern als sich diese Theorie-Diskurse nur um sich selbst drehen, weist ihnen Reichenbach ebenfalls das Prädikat zu, posttheoretisch zu sein.
Wie es immer bei derartigen polemischen Kritiken der Fall ist, kann man eine Reihe von Einwänden geltend machen, darunter fehlende Differenzierungen, unzulässige Generalisierungen sowie eine fehlende begriffliche Bestimmung des Verhältnisses von erziehungswissenschaftlichem Wissen, Forschung und Theorie. Reichenbach räumt selbst ein, dass seine Typisierung eine grobe rhetorische Vereinfachung sei (ebd.). Dessen ungeachtet hält er an seinem Gesamteindruck von der erziehungswissenschaftlichen Disziplin und ihrem von außen und innen gesetzten Innovationsdruck fest – sicherlich auch um weitere Analysen und Bestandsaufnahmen sowie eine Auseinandersetzung zur Disziplinentwicklung bezüglich der Rolle von Theorie in Gang zu setzen. Bei aller Ausdifferenzierung der Erziehungswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten scheint es bedeutsam zu bestimmen, in welche Richtung sich das Fach bewegt.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, seien einige Entwicklungen hierzu angegeben, darunter die Beobachtung, dass die „Allgemeine Pädagogik“ keinen besonderen Fokus in der Auseinandersetzung um das Selbstverständnis der Disziplin (mehr) bildet. Analoges lässt sich für Buchpublikationen mit systematischen Entwürfen „Allgemeiner Pädagogik“ oder „Systematischer Pädagogik“ sagen. Bildeten diese lange Zeit einen wichtigen Bezugspunkt für die pädagogische Selbstverständigung und den fachlichen Einbezug, so ist mit und nach der Einführung der modularisierten Studiengänge eine Ausdifferenzierung dieses Publikationsgenres in Gang gekommen. Zum einen spiegeln diese Bücher die Vielfalt von Themen und Zugängen wider; zum anderen verfolgen sie stärker das Ziel des einführenden Überblicks (von Ausnahmen abgesehen). Zur Ausdifferenzierung des Faches gehört sicherlich auch, dass philosophische Bezugsautor*innen und sozialwissenschaftliche Methodenprogramme mitunter einen programmatischen oder quasi-paradigmatischen Status in der Erziehungswissenschaft erhalten. Davon zeugen Einführungen und Handbücher, aber auch Methodenschulen für Postgraduierte.
Alle diese Phänomene wären sicherlich genauer systematisch und empirisch zu ergründen, wobei gleichermaßen epistemologische wie auch disziplin- und wissenschaftspolitische Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssten. So lässt sich die fachinterne Diskussion um die erziehungswissenschaftliche Methodenausbildung nicht ohne den Gesichtspunkt der entsprechenden Qualifizierung von Absolvent*innen für die empirische Projektforschung verstehen, die in Konkurrenz zu Absolvent*innen aus der Soziologie und Psychologie treten. Des Weiteren ist es unerlässlich, die Einbettung der Erziehungswissenschaft in einen weiteren bildungspolitisch und bildungsökonomisch gelagerten Rahmen einzustellen. Letzteres soll im ersten Teil dieses Einleitungsbeitrags geschehen, da sich mit diesem Punkt die Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung verknüpft.
Der entscheidende Dreh- und Angelpunkt der folgenden Überlegungen sei vorweggenommen: Im Lichte von Datafizierung und globaler Ökonomie scheint Reichenbachs Diagnose von einer Polemik zu einer Wirklichkeitsbeschreibung der Erziehungswissenschaft überzugehen. Anders aber als Reichenbach dies in seinem Vortrag dargestellt hat, soll im Folgenden gezeigt werden, dass die Theoriearbeit in der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der Kommission Bildungs- und Erziehungsphilosophie im Besonderen nicht von selbstbezüglichen Diskursen entlang von Meisterdenker*innen geprägt ist. Dass es demgegenüber eine vielgestaltige theoretische „Wissenarbeitsforschung“1 gibt, die Problemstellungen des Fachs (und deren Verhandlungen in den Bereichen Wissenschaft, Policy und Praxis) ebenso identifiziert wie auf die Schlüsselprobleme der Gegenwart überhaupt eingeht, ist Einsatz und Programm dieses Bandes.
Im ersten Teil der Einleitung wird – wie schon angedeutet – ein bildungspolitischer und -ökonomischer Rahmen skizziert, der unter dem Eindruck von Datafizierung die Frage nach dem „Ort der Theorie“ neu aufwirft. Der Ausdruck „Aufgabe von Theorie“ im Titel des ersten Teils spielt auf die doppelte Bedeutung von „Aufgabe“ an: einerseits als Enden von Theorie im Sinne einer problematischen Entwicklung und andererseits verstanden als zu erneuernder Auftrag. Im zweiten Teil der Einleitung werden Streifzüge im Feld der Bildungs- und Erziehungsphilosophie unternommen, die von der Auseinandersetzung um die „Allgemeine Pädagogik“ ihren Ausgangspunkt nehmen. Ziel der Darstellung ist nicht, die sehr unterschiedlichen begrifflichen Einsätze als großes harmonisches Denkkollektiv darzustellen. Es geht vielmehr darum, Praktiken und Formen des Theoretisierens herauszustellen, die sich für die erziehungswissenschaftliche Erkenntnisbildung als überaus fruchtbar erwiesen haben. Im dritten Teil der Einleitung wird ein Vorblick auf die in diesem Band versammelten Beiträge gegeben.
1 Entwicklung der Erziehungswissenschaft –
Aufgabe von Theorie
Zum disziplingeschichtlichen Erkenntnisstand gehört die Auffassung, dass sich in der Erziehungswissenschaft seit den 1960er Jahren eine Empirisierung bzw. Versozialwissenschaftlichung vollzogen habe (stellvertretend für zahlreiche Publikationen vgl. Dinkelaker et al. 2016). Eine paradigmatische Bedeutung wird dabei der sogenannten „realistischen Wendung“ zugeschrieben, die – so Heinrich Roth in seiner Antrittsvorlesung von 1963 (Roth 2007, S. 94) – auf eine erfahrungswissenschaftliche Grundlegung der Erziehungswissenschaft ausgerichtet sein sollte. Bis heute speist der Rekurs auf diesen Aspekt gegenwärtige Selbstpositionierungen. So wird z. B. angeführt, dazumal habe eine philosophisch orientierte Normendebatte dominiert, sodass für eine an Überprüfbarkeit und Objektivierung ausgerichtete erziehungswissenschaftliche Forschung kein Raum vorhanden gewesen sei (vgl. z. B. Bos/Postlethwaite 2014, S. 253; vgl. dagegen analytisch zur Normproblematik Meseth et al. 2019).
Wie oben bereits gegenüber Reichenbach eingewandt worden ist, sind Bestandsaufnahmen entlang stilisierter Paradigmen und Positionen engführend und missverständlich, weil sie zu Gegenüberstellungen verleiten, die dem Stand der Ausdifferenzierung und Pluralisierung des Fachs nicht gerecht werden und die schon in den 1960er Jahren nicht als für die akademische Pädagogik repräsentativ gelten konnten. Unterscheidungen wie „Geisteswissenschaft versus empirische Erziehungswissenschaft“ oder „Normativität versus Deskriptivität“ affirmieren überdies ein begrifflich-kategoriales Raster, das längst einer kritischen Analyse unterzogen wurde (Ruhloff 1979).
Ein weiteres Problem der paradigmenorientierten Darstellungen deutete sich im Auftakt bereits an; denn diese erwecken den Eindruck, man könnte die Entwicklung von Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft in den vergangenen 60 Jahren aus der immanenten Perspektive wissenschaftlicher Diskurse verstehen. Es liegen mittlerweile eine Reihe von Beiträgen vor, welche die Wissenschaftsentwicklung in die Kontexte technokratischer Expertise und Medikalisierung sowie einer sich entwickelnden Bildungsökonomie stellen (vgl. z. B. Tröhler 2015). Im Kontext der politischen Systemkonkurrenz nach dem Zweiten Weltkrieg kam der optimalen Abrufung der Begabungs- und Lernpotenziale der Bevölkerung eine zentrale Bedeutung zu, was dazu führte, wie...
Erscheint lt. Verlag | 23.6.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik |
ISBN-10 | 3-7799-6755-3 / 3779967553 |
ISBN-13 | 978-3-7799-6755-2 / 9783779967552 |
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