Oligarchie in Lateinamerika (eBook)

Dominante Familiennetzwerke im 19. und frühen 20. Jahrhundert
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
226 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44848-0 (ISBN)

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Oligarchie in Lateinamerika -  Peter Waldmann
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Die traditionellen gehobenen Schichten Lateinamerikas sind zu Recht Gegenstand weit verbreiteter Mythenbildung. Nicht als Einzelgebilde, sondern im Netzwerkverbund stellten einige wenige Familien besonders während der Belle Époque (1880-1920) im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft einen bedeutenden sozio-politischen Machtfaktor dar. Mit einer patrimonialistischen Grundeinstellung sowie der Verfügung über ausgedehnten Grundbesitz schienen die Familien weniger nach politischer Macht als nach einer drastischen Vermehrung des familiären Vermögens zu streben. Erstmalig untersucht diese Studie die Entwicklung privilegierter Familiengemeinschaften in Argentinien, Brasilien, Chile, Mexiko und Peru seit der frühen Kolonialzeit bis ins 20. Jahrhundert.

Peter Waldmann war Professor für Soziologie und Sozialkunde an der Universität Augsburg. Er ist führender Experte für internationalen Terrorismus.

Peter Waldmann war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Soziologie an der Universität Augsburg.

1.Vorgeschichte in der Kolonialzeit


1.1Oberschichtsfamilien und Netzwerke in der frühen Kolonialzeit


Über die soziale Entwicklung und die Rolle der Oberschichten in der Kolonialzeit, vor allem der frühen Kolonialzeit, kann nur ein skizzenhafter Überblick gegeben werden, denn die Forschungslage ist insoweit viel unvollständiger und lückenhafter als hinsichtlich späterer Jahrhunderte. Gleichwohl: Man gewinnt den Eindruck, dass die wesentlichen Merkmale des Oberschichtverhaltens, wie wir ihnen noch im frühen 20. Jahrhundert begegnen, nicht das Produkt einer langfristigen Evolution waren, sondern sich unmittelbar im Prozess der Landnahme und Besiedlung des Subkontinents im 16. Jahrhundert herausbildeten. Das gilt sowohl für die Rolle des Familienverbands als gesellschaftliche Basiseinheit mit einer starken Fixierung auf die Mehrung seines materiellen Besitzstandes als auch für die Sensibilität der Oberschichtsfamilien, was ihren Ruf und ihr soziales Ansehen betrifft; für ihre Neigung, sich mit ihresgleichen zu verbinden ebenso wie ihre Tendenz, auf die restliche Bevölkerung mit Geringschätzung herabzublicken und sich deutlich von ihr abzusetzen. Was in der Einleitung als patrimonialistische Grundeinstellung bezeichnet wurde, hat, mit anderen Worten, seinen Ursprung bereits in frühen Reaktionen der Spanier und Portugiesen auf Erfahrungen in den frisch eroberten Territorien mit deren Bewohnern.

Das patrimonialistische Syndrom trat, entsprechend den unterschiedlichen geographischen, sozialen und kulturellen Bedingungen, nicht immer in derselben Form in Erscheinung. Es äußerte sich anders in den vizeköniglichen Zentren als in peripheren Regionen, auch ob ein Gebiet früh erobert oder erst später erschlossen wurde, spielte eine Rolle. Doch die Grundzüge waren stets und überall dieselben. Bei den folgenden Ausführungen stütze ich mich in erster Linie – aber nicht nur – auf die Verhältnisse im heutigen Mexiko, in jener Zeit Sitz eines Vizekönigs. Zunächst werden wichtige Merkmale der Oberschichtsfamilien und der von ihnen gebildeten Netzwerke herausgearbeitet. In einem weiteren Abschnitt wird auf die krisenhafte Zuspitzung der Beziehung zwischen der spanischen Krone und den Kolonisten Spanisch-Amerikas im 18. Jahrhundert eingegangen, bevor in einem dritten Abschnitt gewisse, dem Kolonialsystem inhärente Spannungen und Ungereimtheiten zur Sprache gebracht werden.

Materielles Gewinnstreben war von Anfang an ein Hauptmotiv für den Aufbruch nach Lateinamerika und die Eroberung des Subkontinents. Allerdings war es bei den Konquistadoren selbst, zusammen mit deren Macht- und Abenteuergelüsten, zunächst eine individuelle Antriebskraft und ging erst mit der alsbald einsetzenden Besiedlung der neuen Territorien auf die dorthin ausgewanderten Familien über. In Tagebucheintragungen während seiner Entdeckungsreisen vermerkt Kolumbus wiederholt die Goldsuche als wichtiges Ziel. Auch Cortés wurde bei seinem Großprojekt, der Unterwerfung des Aztekenreiches, mehr als einmal von Kampfgefährten abgelenkt, die darauf bestanden, Goldfunden nachzugehen (Todorov 1985, S. 16 ff., S. 121 f.). Die Krone entschädigte die Konquistadoren für ihre Verdienste vor allem durch großzügige Landschenkungen und das Verfügungsrecht über die auf ihnen lebenden indigenen Gemeinschaften (sog. encomienda). Davon profitierten Adlige in weit größerem Umfang als Eroberer einfacher Herkunft. Die Indigenen waren ihren neuen Herren zu Arbeitsleistungen und der Abgabe von Naturalien, später vor allem zu Tributzahlungen verpflichtet.

Umfangreicher Grundbesitz bildete nicht nur die Ausgangsbasis des von manchen Kolonisten im Laufe der Zeit angesammelten Vermögens, sondern war auch in symbolischer Hinsicht von unschätzbarem Wert. Baute auf seiner Verwaltung und Nutzung, zusammen mit der Gründung von Ortschaften (municipios) doch das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein der Siedler und ihrer Nachfahren auf, als erste diese Gebiete erschlossen und der Zivilisation zugeführt zu haben. Der faktische Wert der Landzuweisungen schwankte je nach Lage und Fruchtbarkeit der Böden. Zusammen mit den indianischen Dienstleistungen und Tributen reichten die Erträge zwar aus, um einer Familie einen angemessenen Lebensunterhalt zu sichern. Durch gelegentliche Vermietung der Indigenen als Arbeitskräfte an Dritte, etwa an Bergwerksbesitzer, ließen sich außerdem zusätzliche Einnahmen erzielen. Doch längerfristig bildete Landbesitz allein meistens keine hinreichende Ressource, um eine Oberschichtansprüchen genügende Lebenshaltung zu gewährleisten. Vor allem waren die daraus gewonnenen Einkünfte meistens zu gering, um zusätzlich zum Leben auf dem Land einen aufwendigen städtischen Haushalt zu finanzieren, der zu den fast unabdingbaren Voraussetzungen der Wahrung eines Oberschichtstatus zählte (Kicza 1999, S. 17 ff., 22).

Wollten die Kolonisten ihren Traum verwirklichen, in Lateinamerika ihr Glück zu suchen und dort zur Oberschicht zu zählen, mussten sie sich zeitig nach alternativen Einkommensmöglichkeiten umsehen, also unternehmerische Initiativen entfalten. Abkömmlingen aus einflussreichen spanischen Familien, vor allem Adligen, die auf ein großes soziales Beziehungsnetz zählen konnten, fiel es leichter, diese Hürde zu überspringen und wirtschaftlich dauerhaft Fuß zu fassen als dem Gros der Siedler. Sie konnten beispielsweise einen lukrativen Posten in der vizeköniglichen Verwaltung bekleiden. So öffnete sich früh in den Städten eine soziale Schere, entstand ein Gefälle zwischen dem Gros der Siedler, die, zwar deutlich abgehoben von der indigenen Bevölkerung, sich mit zweitrangigen Berufen wie lokaler Händler, Gastwirt und dergleichen zufriedengeben mussten, und einer Minderheit, die es verstand, zusätzliche Einkommensquellen zu erschließen. Die in ihren Hoffnungen frustrierte Mehrheit führte vergeblich Klage bei der Krone, für ihre Verdienste um die Eroberung und Besiedlung dieser Gebiete nicht hinreichend entschädigt worden zu sein, während die erfolgreichen wenigen, aus denen sich die künftige Oberschicht rekrutierte, sich je nach Situation anschickten, unterschiedliche zusätzliche wirtschaftlichen Ressourcen zu erschließen. In Mexiko engagierten sie sich im Zuckerrohranbau, Bergbau, Handel und Textilgewerbe, in Caracasbetrieben sie zusätzlich Kakaoplantagen, in Quito ebenfalls Textilmanufakturen, während in Chile lange allein Großgrundbesitz die wirtschaftliche Basis der lokalen Aristokratie bildete (Büschges 2005, S. 164 ff.; Kicza 1999, S. 18 ff.)

Als besonders lohnende Ergänzung zur Land- und Viehwirtschaft erwies sich der Handel, vor allem der Großhandel. An sich war die Kombination hacendado-comerciante nicht unproblematisch, ließ sich der Ehrgeiz, zur aristokratischen Elite zu gehören, doch nicht ohne weiteres mit dem zum Kaufmannsberuf erforderlichen Händlergeist und dem eng daran geknüpften Hang zur Spekulation vereinbaren. Zwar war die an steigenden Einnahmen aus den Kolonien interessierte spanische Krone bemüht, den dortigen Oberschichten ihre Vorbehalte gegen gewinnorientierte wirtschaftliche Betätigung zu nehmen (Büschges 2005, S. 169). Doch die Kaufleute selbst waren sich großenteils der fragwürdigen Seite ihres Metiers durchaus bewusst. Reich geworden, trachteten sie oft danach, den Makel der Herkunft des Geldes durch den Erwerb einer finca (Landbesitz) oder indem sie die Söhne studieren und die Ämterlaufbahn einschlagen ließen, zu tilgen. Insgesamt nahmen die Oberschichten eine gemischte Haltung gegenüber Emporkömmlingen aus der Schicht reich gewordener Großkaufleute ein. Die ihnen in Quito bis zum Ende der Kolonialzeit entgegenschlagende Ablehnung bildete ebenso einen Extremfall wie ihre umstandslose Verschmelzung mit den traditionellen Eliten in Caracas (Büschges 1999, S. 215 ff.; Quintero 1999, S. 183 ff.). Am häufigsten wurde ein Zwischenweg der Versöhnung des ständischen Ehrprinzips mit kommerziellem Erfolg durch die Ehe zwischen einem arrivierten Großkaufmann bzw. einem seiner Söhne und der Tochter aus einer alten, angesehenen Großgrundbesitzerfamilie eingeschlagen.

Ein umfangreiches Vermögen zu erwirtschaften war der Hauptehrgeiz, doch daran schloss sich unmittelbar die nächste Aufgabe an, es zu erhalten und, soweit möglich, noch zu mehren. Diesem Ziel stand als Haupthindernis das spanische Erbrecht im Wege, das, die testamentarischen Vollmachten des Erblassers einschränkend, die...

Erscheint lt. Verlag 21.7.2021
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Argentinien • Bolivien • Chile • Einfluss • Familiendynastien • Familiennetzwerke • Lateinamerika • Macht • Oberschicht • Oligarchie • Patrimonialismus • Peru
ISBN-10 3-593-44848-3 / 3593448483
ISBN-13 978-3-593-44848-0 / 9783593448480
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