Das Ende des Individuums (eBook)
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30248-6 (ISBN)
Gaspard Koenig, geb. 1982, ist französischer Philosoph, Essayist und hervorragender Reiter. Er gründete 2013 die Denkfabrik Génération Libre und arbeitete an verschiedenen weltumspannenden Reportagen zusammen mit LePoint. Aus einer Weltreise zum Stand der KI entstand Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz (2021). Zuletzt brachte ihn seine Reise zu Pferde in die Politik. Mit seiner Partei Simple setzt er sich für eine radikale Vereinfachung der französischen Verwaltung ein.
Gaspard Koenig, geb. 1982, ist französischer Philosoph, Essayist und hervorragender Reiter. Er gründete 2013 die Denkfabrik Génération Libre und arbeitete an verschiedenen weltumspannenden Reportagen zusammen mit LePoint. Aus einer Weltreise zum Stand der KI entstand Das Ende des Individuums. Reise eines Philosophen in die Welt der Künstlichen Intelligenz (2021). Zuletzt brachte ihn seine Reise zu Pferde in die Politik. Mit seiner Partei Simple setzt er sich für eine radikale Vereinfachung der französischen Verwaltung ein. Tobias Roth, geb. 1985, ist freier Autor, Mitbegründer des Verlags »Das Kulturelle Gedächtnis«, Lyriker und Übersetzer. Roth wurde mit einer Studie zur Lyrik und Philosophie der italienischen Renaissance promoviert. 2020 erschien sein aufsehenerregender Foliant »Welt der Renaissance«. 2023 folgte der erste Band der anschließenden Städtereihe Welt der Renaissance: Neapel, 2024 der zweite Band über die Renaissance in Florenz.
Vom Baron von Kempelen zu Amazon
Inmitten der globalen Rauchschwaden, die die KI umgeben, hat uns Amazon einen wichtigen Hinweis gegeben und seine Plattform für Cloud Computing Services auf den Namen Amazon Mechanical Turk getauft. Zehntausende von Freiberuflern namens Turkers werden dort für ausgesprochen einfache Aufgaben im Internet bezahlt (beispielsweise Bilder zu sortieren) und füttern im gleichen Zug eine KI für Forscher oder Unternehmen. Wieso fiel die Wahl auf diesen possierlichen Namen Mechanischer Türke, heutzutage, wo eigentlich jede noch so kleine kulturalistische Anspielung strikt unterbunden wird?
Auf diesen Namen taufte im Jahr 1769 der ungarische Erfinder Wolfgang von Kempelen seinen Schachautomaten, eine alla turca gekleidete Marionette, die die größten Schachspieler und bedeutende Persönlichkeiten der Zeit matt setzte, von der österreichischen Kaiserin Maria-Theresia über Napoléon Bonaparte bis Benjamin Franklin. Der Mechanische Türke saß hinter seinem imposanten Schachtisch, verschob mit ruckartigen Bewegungen die Figuren und konnte im Laufe einer Partie sogar seine Emotionen ausdrücken, indem er die Augen rollte, den Kopf schüttelte oder mit den Fingern zappelte. Der prächtige Turban, die hageren Gesichtszüge und der lange osmanische Schnurrbart trugen zur dramatischen Spannung bei. Der Schachtürke war in ganz Europa ein riesiger Erfolg. Nachdem er Johann Mälzel (dem Erfinder des Metronoms!) in die Hände gefallen war, ging der Türke ins Exil, erst nach London, dann in die Vereinigten Staaten. In der Morgendämmerung des Industriezeitalters, als die Automatenmode an allen Höfen tobte und der Mathematiker Charles Babbage seine revolutionären Rechenmaschinen mit Lochkarten vorstellte, stellte man sich bereits die Frage, ob von Kempelen das mechanische Denken erfunden hatte. Wenn der Mensch nur eine Maschine war, wie La Mettrie und zahlreiche andere Philosophen der Aufklärung behaupteten, wieso sollte die Maschine nicht ihrerseits menschlich werden können? Die Frage der »technologischen Singularität«, die uns heute umtreibt, ist nichts weniger als neu. Vor zwei Jahrhunderten war sie der Gegenstand einer fröhlicheren Neugier. Der Schachtürke war in den Augen seiner Zeitgenossen die erste Künstliche Intelligenz.
Aber es gab selbstverständlich einen Trick, und zwar einen von irritierender Einfachheit. Zu Beginn einer Vorführung wurde das Innere des Schachtisches systematisch vor den Zuschauern offengelegt, man sah nichts als Zahnräder. Aber ein geschickter Aufbau aus Spiegeln und doppelten Böden verbarg dort drinnen einen Schachspieler, einen Profi aus Fleisch und Blut, der eine genau geregelte Gymnastik vollführte. Die erste KI war also eine dreiste Fälschung, und man kann sich in der Rückschau nur wundern, wie sie für fast ein Jahrhundert so viel Begeisterung wecken konnte. Amazon hat sich davon inspirieren lassen und erinnert uns subtil daran, dass sich hinter der Zauberei der Algorithmen eine ganze Menge menschlicher Arbeit verbirgt – das Sammeln von Daten, deren Auswertung und Wiedergabe. Wird uns eines Tages die akustische Emotionserkennung genauso plump vorkommen wie die Täuschung, die sich von Kempelen ausgedacht hat? Sind wir gegenüber neuen Technologien genauso naiv wie die Comtessen des Rokoko, die vor einem Holzautomaten in Ohnmacht fielen? Humanoide halten heute Vorträge auf Konferenzen, wie der Roboter Sophia, der die saudi-arabische Staatsbürgerschaft erhalten hat. Sind sie so viel avancierter als ihr gemeinsamer Vorfahre, der Schachtürke?
Darüber wollte ich Gewissheit haben. Der originale Schachtürke ist 1854 den Flammen zum Opfer gefallen, als das Museum von Philadelphia, wo er seine Karriere beendet hatte, abbrannte. Aber es gibt eine getreue Nachbildung, die nur sehr selten der Öffentlichkeit gezeigt wird. Ich machte mich also auf die Suche. Es war unmöglich, das Universum der KI zu durchstreifen, ohne die Hand des Türken geschüttelt zu haben.
Eine Vorstadt im Norden von Los Angeles, zwischen Adams Hill und Griffith Park. Das Viertel ist eine eigentümliche Mischung aus Industrieanlagen, bunt zusammengewürfelten Pavillons und Bio-Läden, durchsetzt mit Palmen, im Hintergrund hügelige Wüstenlandschaft. Nichts könnte amerikanischer sein: ein leerer Raum, in dem ein jeder sein eigenes Königreich erschafft. Die Demokratie hat jedem Bürger eine Krone auf den Kopf gesetzt. Ich betrete eines dieser Fürstentümer: ein riesiger Hangar, in dem geschäftige Arbeiter einen Höllenlärm mit ihren elektrischen Sägen machen. Ich werde von Papprobotern und von Pierrots auf der Mondsichel empfangen, von Micky-Maus-Köpfen, Leuchtreklamen für Zaubershows und gegeneinander versetzten Spiegeln, die mein verstörtes Gesicht verzerren. Ich dringe bis in ein abseitsgelegenes Zimmer vor, in dem plötzlich völlige Stille herrscht. Es ist ein veritables Antiquitätenkabinett, elegant und holzvertäfelt, in dem sich Bilboquet-Spiele, Totenschädel, Würfelbecher, Lederkoffer, Fächer, Fernrohre stapeln. Ich werde von einem ganzen Volk lebensgroßer Automaten begrüßt: Houdini, der mit seiner Gipshand ein Autogramm gibt, Wilhelm Tell, der seinen Bogen spannt, und sogar ein Pfau, der mir mit dem Schnabel eine Pikdame reicht. Umgeben von seinen Schöpfungen thront der Illusionist John Gaughan in einem Sessel von rotem Samt. Seit Jahrzehnten rekonstruiert er die Chimären der Vergangenheit und erfindet die der Zukunft. An seiner Seite das Meisterwerk: der Schachtürke, regungslos, in einem Anzug aus weißem Pelz, bereit für eine Partie.
Vierzig Jahre ist es her, seit sich John Gaughan darangemacht hat, dem Schachtürken neues Leben zu geben. Er hat Bibliotheken in Berlin, Paris und London besucht, um in den unzähligen Büchern, die seinerzeit geschrieben wurden, nach Hinweisen zu suchen, die zu einer Rekonstruktion des ursprünglichen Mechanismus beitragen konnten. Es ist sein Lebenswerk und nur ab und zu enthüllt er es auf Informatikkonferenzen. John hat, mit seiner rauen Stimme und seinen unter mächtigen Brauen verborgenen Augen, so starke Ähnlichkeit mit einem Zauberer, dass die Frage berechtigt erscheint, ob er nicht selbst aus Rädern, Schnüren und Silikon besteht.
Also, saß wirklich ein menschliches Wesen im Inneren des Schachtisches? Wie konnte es es in diesem so engen Raum aushalten? John beharrt auf seinem Berufsethos, er weigert sich zu verraten, wie die Illusion funktioniert. Er hat sogar Bedenken, seine Entdeckungen schriftlich niederzulegen; das Geheimnis des Türken wird vielleicht mit ihm verschwinden, bis ein ferner Nachfolger sich der Erforschung John Gaughans widmen wird wie John Gaughan Wolfgang von Kempelen erforschte. Aber jetzt stehe ich dem Schachtürken gegenüber, ich berühre ihn, öffne die Klappen an seinem Schachtisch, aber er bleibt für mich undurchschaubar. Man muss den leisen, irrationalen Zweifel bewahren, die Maschine könnte denken. Denn dieser Zweifel, dieses Bedürfnis nach Magie ist paradoxerweise das, was unsere Menschlichkeit ausmacht.
»Es verblüfft mich in meinem Beruf immer wieder«, vertraut mir John an, »wie primitiv der menschliche Geist immer noch ist.« Wie leicht es ist, ein Publikum zu täuschen, indem man seine Aufmerksamkeit mit ganz einfachen Mitteln in die Irre führt. Es wird sogar heutzutage immer leichter, denn durch die permanenten Ablenkungen aus unserer digitalen Umwelt wird unsere Konzentrationsfähigkeit immer schwächer. »Für Kinder gilt das nicht«, berichtigt sich John. Kinder sind weniger leichtgläubig als Erwachsene, weil sie nicht so feinfühlig für die Konventionen und Codes alltäglicher Interaktion sind, weil ihre soziale Dressur noch nicht vollendet ist. Der Zauberer deutet auf die Taube, die nach rechts davonfliegt; das Kind aber schaut weiterhin nach links, kümmert sich nicht um das Spektakel und verfolgt seine eigene Überlegung weiter. Je älter man wird, desto leichter ist man manipulierbar.
Und die KI? »Sie ist eine Illusion. Sie gehört zu meiner Welt.« Eine nützliche Illusion. Hat der Schachtürke nicht, wie John sagt, der industriellen Revolution einen Impuls gegeben? Die Maschine zieht neue Maschinen nach sich, die Zauberei nährt den Fortschritt.
Ich verlasse John Gaughans Kabinett und komme zurück in die Apathie des kalifornischen Sommers, als einziger Fußgänger in einer Stadt, die ausschließlich für Autofahrer gebaut ist. Ich verstehe den Gegenstand der KI jetzt besser. Sie ist eine Illusion. Es geht nicht darum, sie bis ins kleinste Detail zu verstehen, sondern ihr gegenüber, bei allem Schwindel, den sie erregt, einen klaren Kopf zu behalten. Wie ein Kind, das in die andere Richtung schaut.
Machine learning, deep learning, reinforcement learning, unsupervised learning.[9] Alle diese Begriffe vermischten sich im Taumel der New Yorker Wolkenkratzer, wo ich meine Wanderschaft begann. Die beidseitige Mittelohrentzündung, die ich mir bei einem etwas zu ehrgeizigen Bad im Meer nach meiner Landung in Boston eingefangen hatte, machte meine Furcht vor der KI nicht besser. Selbst das ununterbrochene Brummen von New York verschwand unter dem Gedonner, das in meinem linken Trommelfell tobte; ich schleppte mich zu meinen Terminen, brauchte meine Schmerzmittelreserven auf und zwang mich dazu, meinen Gesprächspartnern das bessere Ohr zuzuwenden. Alles, was ich verstand, war, dass diese famose »KI«, oder zumindest die jüngste Generation Algorithmen, in der Lage war, eine Masse von Daten mehr oder weniger...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2021 |
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Übersetzer | Tobias Roth |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Algorithmus • Apps • Big Data • Computer • Europa • Europäische Werte • Fin de l'individu • Frankreich • Freier Wille • freies Individuum • Gaspard Koenig • KI • Künstliche Intelligenz • Liberalismus • machine learning • Maschinelles Lernen • Philosophie • philosophische Weltreise • Technologie • Tobias Roth • Weltreise • Werte • Wissenschaft • Zukunft • Zukunfts-Technologie |
ISBN-10 | 3-462-30248-5 / 3462302485 |
ISBN-13 | 978-3-462-30248-6 / 9783462302486 |
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