Identität geht durch den Magen (eBook)

Mythen der Esskultur
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
496 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403072-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Identität geht durch den Magen -  Christine Ott
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Unsere globalisierte Gesellschaft bietet eine scheinbar unendliche Vielfalt an Ernährungsoptionen, die Essen zum individuellen Lifestyle machen. Christine Ott zeigt jedoch in ihrem Buch ?Identität geht durch den Magen. Mythen der Esskultur?, dass bei jeder Ess-Entscheidung mächtige Mythen wirken: Sie propagieren Auffassungen von Mann und Frau, Kultur und Natur, Zivilisation und Barbarei, Gesellschaft und Vereinzelung. Anhand politischer Statements, ernährungsreformerischer Ideologien, literarischer Texte und Filme beleuchtet sie kritisch ebenso populäre wie umstrittene Gastromythen (u.a. die Totem-Funktion von französischem Käse, das kulinarische Genie der Italiener, das Phantasma der essbaren Frau, das Reinheitsversprechen der Muttermilch) und deckt auf, was wirklich hinter den wechselnden Ess-Identitäten steckt.

Christine Ott studierte Romanistik und Germanistik in Eichstätt und Saint-Étienne und war dann an den Universitäten Heidelberg, Marburg und Harvard tätig. 2009 habilitierte sie sich mit einer Studie über die Bibliophagen. Seit 2011 ist sie Professorin für Italienische und Französische Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Christine Ott studierte Romanistik und Germanistik in Eichstätt und Saint-Étienne und war dann an den Universitäten Heidelberg, Marburg und Harvard tätig. 2009 habilitierte sie sich mit einer Studie über die Bibliophagen. Seit 2011 ist sie Professorin für Italienische und Französische Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Das Buch ist für alle geeignet, denen Essen und Genießen auch intellektuell Freude bereitet.

ein wunderbares Buch

angenehm unaufgeregt und unterhaltsam sowie - mit Bezug auf zahlreiche Quellen - sehr informativ.

angenehm unaufgeregt und unterhaltsam sowie – mit Bezug auf zahlreiche Quellen – sehr informativ.

Zu Methode und Inhalt dieses Buchs


Wenn hier von Essensmythen die Rede ist, dann natürlich in Bezug auf Roland Barthes. In seiner Essaysammlung Mythen des Alltags (1964, Original: Mythologies, 1957) hatte er es unternommen, anhand der Analyse von Frauenzeitschriften, Werbung, populären Sportarten und Popkino jene falschen Ideologien aufzudecken, die er der (französischen) Kultur der Gegenwart, insbesondere der bürgerlichen Kultur, anlastete. In einigen dieser Essays, auf die später noch einzugehen sein wird, untersucht Barthes auch die kollektiven Wertungen bestimmter Nahrungsmittel. Der von Barthes in diesen Essays etablierten kultursemiotischen Methode, die auch die des vorliegenden Buchs sein wird, geht es nicht darum, bestimmte Manifestationen der Esskultur (etwa die Mode des Milchtrinkens in den USA) kulturgeschichtlich zu situieren. Sie will vielmehr, wie oben schon beschrieben, jene unausgesprochenen Diskurse und Ideologien aufdecken, die bestimmten Lebensmitteln und Ernährungspraktiken bestimmte Bedeutungen zuschreiben. Es geht also weniger um reale Essenspraktiken als um deren (implizite) Bewertung.

Die Realität, vor deren Hintergrund Barthes seine Mythologies schreibt, hat sich freilich ebenso verändert wie die Bedeutungen, die bestimmten Speisen – aber auch der Esskultur im Allgemeinen – heute beigemessen werden. Wie tiefgreifend dieser Wandel ist, lässt sich ermessen, wenn man einmal auf den fast schon entschuldigenden Ton achtet, mit dem sowohl Barthes als auch Mary Douglas in den 1960er Jahren versuchen, ihre Zuwendung zu einem derart trivialen Forschungsgegenstand wie dem Essen zu rechtfertigen. Heute betrachten allenfalls die rückständigsten unter den Geisteswissenschaftlern den Themenkomplex »Esskultur« als banal. Das Sprechen über Essen und Kochen ist zur Mode geworden, das Forschen darüber gleichfalls. In einer Zeit der zwanghaften, manchmal krampfhaften Interdisziplinarität haben Ernährungswissenschaft, Psychoanalyse, Soziologie, Ethnologie, Anthropologie und Philosophie das Essen als ideales interdisziplinäres Forschungsfeld entdeckt. Und in der Tat erscheint das Essen, das Marcel Mauss nicht umsonst als »soziales Totalphänomen« (Mauss 1973: 147) definiert hat, aus der Sicht einer einzelnen Disziplin nur unzureichend erfasst – die vorangegangenen Ausführungen haben es hoffentlich gezeigt.

Wenn nun eine gewandelte, globalisierte esskulturelle Realität hinreichend rechtfertigt, dass dieses Buch den von Barthes beschrittenen Weg fortzuführen sucht, so sind doch zum »Material«, auf dem die folgenden Untersuchungen basieren werden, noch ein paar klärende Worte zu verlieren. Denn in dem Bestreben, die Gastromythen der Gegenwart einer kultursemiotischen und diskursanalytischen Lektüre zu unterziehen, werden, ähnlich Barthes’ Vorgehen, politische und gesellschaftliche Aktualität, Filme und prominente Theorien zur Esskultur analysiert, vor allem aber Romane – populäre und weniger populäre.

Was kann aber die Literatur – und was kann Literatur- und Kulturwissenschaft – zu den Erkenntnissen der genannten, das Phänomen »Essen« erforschenden Wissenschaften beitragen? Nun, spätestens seit dem 19. Jahrhundert haben sich Romanciers bevorzugt mit jenen Erfahrungen befasst, die sich dem positiven Faktenwissen, der offiziellen Geschichtsschreibung und dem gesellschaftlich anerkannten Kenntnisstand entzogen: mit den Erfahrungen der kleinen Leute, der Unangepassten, der Ausgestoßenen. Gegenstand der Literatur war und ist auch die Kritik an gesellschaftlich sanktionierten Macht- und Wissensordnungen, an eingefleischten Vorurteilen, an Pseudowissen. So unterzog beispielsweise der Schriftsteller Gustave Flaubert in seinem Roman Madame Bovary (1856) den gängigen medizinischen Diskurs zur weiblichen Hysterie einer Relativierung, indem er eine essgestörte Ehebrecherin in Szene setzte, deren psychosomatische Krankheitssymptome sich nicht einer eindeutigen medizinischen Diagnose zuführen ließen. Und Luigi Pirandello denunzierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts in seiner Erzählung Die Amme die Grausamkeit eines Gesellschaftssystems, das ein einfaches sizilianisches Mädchen (die Protagonistin seiner Novelle) dazu zwang, den eigenen Sohn zu verlassen, um in der Hauptstadt das Kind einer reichen Bürgersfrau zu stillen. Beide Frauen geben letztlich die Stillbeziehung zu ihrem Kind aufgrund von Vorurteilen auf: die eine, weil sie hofft, ihrem Kind durch das verdiente Geld mehr nützen zu können als durch ihre Milch, die andere, weil sie sich der Meinung beugt, eine robuste Frau aus dem Volk habe für ihr Kind bessere Milch als sie selbst.

In diesen Beispielen hat Literatur jene dekonstruktive und konterdiskursive Funktion, die ihr von Jacques Derrida und Michel Foucault zugeschrieben wurde. Im Gegensatz zu einer Philosophie, die in starren Begriffsoppositionen denkt und durch die kategorische Unterscheidung von »gut« und »böse«, »männlich« und »weiblich«, »logisch« und »unlogisch« diskursive Hierarchien generiert, hat Literatur die Möglichkeit, ihre Sprache in einem Bereich anzusiedeln, der von den Vorgaben der Logik und des gesellschaftlich Annehmbaren frei ist. Von dieser Position aus vermag Literatur nicht nur bestehende Diskursherrschaften zu kritisieren, sondern diese überhaupt erst sichtbar zu machen.

Denn das Faszinosum – und das Gefährliche – der Essensmythen ist ja gerade, dass sie ihre Kraft aus der vorgeblichen Natürlichkeit des Essens ziehen. Der Glaube an diese Natürlichkeit trübt den Blick auf die kulturellen Zuschreibungen, denen Speisen und Essakte beständig ausgesetzt sind; er macht das Kulturelle am Essen unsichtbar. Dabei sind nicht nur unsere alltägliche Erfahrung und Wahrnehmung, sondern auch wissenschaftliche Forschungen über das Essen von unsichtbaren Diskursen, Ideologien, Mythen geprägt: Ein Beispiel dafür war die erwähnte Verdammung des Zuckers als Droge und als Vorstufe anderer Süchte wie Nikotin oder Alkohol. Eine solche Logik kann auch als eine essentialistische bezeichnet werden. Sie schreibt bestimmten Nahrungsmitteln ein für alle Mal ein schädliches oder gesundheitsförderndes »Wesen« zu; in anderem Kontext postuliert sie einen wesenhaften Zusammenhang zwischen einer nationalen Küche oder kollektiven Ernährungsgewohnheiten und dem Charakter der Essenden. Essentialistische Thesen zum Essen verkennen, dass Essgewohnheiten ebenso wie die dem Essen kollektiv zugeschriebenen Bedeutungen immer das Ergebnis einer historisch gewachsenen Konstruktion sind.

Gerade populärwissenschaftliche Werke zur Ernährungsthematik, die als Ratgeber-Literatur dem Ziel gehorchen müssen, gut nachvollziehbare Erklärungs- und Lösungsmodelle anzubieten, verfallen allzu leicht in eine monokausale Argumentation. Zwar kann etwa ein Ratgeber-Buch zur Magersucht den Lesern eine Vielfalt verschiedener Fallbeispiele anbieten, aus denen diese das zur Identifikation geeignetste auswählen können. Doch die Analyse des zugrundeliegenden psychologischen Mechanismus bleibt Aufgabe des Autors, der der Leserin sein Fachwissen gleichsam »von oben« vermittelt.

Die Kommunikationssituation eines Romans ist in der Regel anders. Dem Leser wird hier nicht gleichsam von oben eine vorgefertigte Lösung vermittelt. Er hat vielmehr die Möglichkeit, selbst Lösungen zu entwerfen und zu verwerfen. Oft macht es sich der Roman auch eher zur Aufgabe, Gewissheiten zu zerstören, als solche apodiktisch zu verkünden. Ein Teil der hier besprochenen literarischen Texte agiert ganz in diesem Sinne: Gängige Essensmythen werden in Frage gestellt. So inszenieren die Werke von Margaret Atwood, Giovanni Boccaccio, Elena Ferrante, Marie Darrieussecq und Han Kang ebenso wie die Filme von Federico Fellini oder Marco Ferreri symbolische Essenshandlungen, die die dem Essen untergründig innewohnenden Machtdispositive und Mythen sichtbar machen: den Mythos der essbaren Frau, der lebensspendenden Milch, der bösen Mutter.

Doch nicht alle literarischen Texte, nicht alle Filme sind konterdiskursiv und dekonstruktiv im besprochenen Sinn. Vielmehr hat gerade die gegenwärtige Gastro-Welle eine Reihe von Romanen und Filmen hervorgebracht, die die Essensmythen, um die es hier gehen soll, unkritisch propagieren oder ganz gezielt mit Klischees arbeiten. Auch solche Werke sollen in die Untersuchung einbezogen werden, weil sie gleichsam textuelle (oder filmische) Kondensate dieser Mythen darstellen.

Die Mythen, die unsere heutigen Vorstellungen vom Essen prägen, haben eine lange Geschichte. Und sie hängen eng mit gesellschaftlich-wissenschaftlich definierten Körperbildern zusammen. In Kapitel 2 dieses Buchs soll das sozial- und kulturgeschichtliche Modell eines Übergangs vom vormodernen »offenen« zum modernen »geschlossenen« Körper vorgestellt werden. Die Kategorien »offen« und »geschlossen« sollen aber nicht dogmatisch oder im Sinne eines teleologischen Entwicklungsnarrativs angewendet werden. Sie sollen eher dazu dienen, prominente literarische und philosophische Modellierungen von »Essen« und »Esskultur« begrifflich zu erfassen. Durch Beispiele aus dem vormodernen Schelmenroman, aus Jean-Jacques Rousseaus Bekenntnissen, Kafkas Verwandlung, Sartres Der Ekel, Elena Ferrantes Romanen und Julia Kristevas Theorien soll unter anderem gezeigt werden, wie sich im 18. Jahrhundert das Konzept der Scham beim Essen als Bedingung gegenwärtiger Essstörungen herausbildet, wie sich das nach einem geschlossenen Körper strebende...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2017
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Wirtschaft
Schlagworte Abnehmen • Adipositas • Backen • Bircher • Fettleibigkeit • Fleisch • Gastro-Sexualität • Gender • Gesunde Ernährung • Graham • Halal • heilige Kuh • Herd • Kedllog • Kochen • Köchin • Körperbild • koscher • Küche • Kultur • Magersucht • Milch • Muttermilch • Nahrungstabus • Natur • natürliche Ernährung • Paläo-Diät • Pasta • Reinheit • Rousseau • Schelm • Stillen • Tiere essen • Umami • Vegan • Vegetarisch • Zucker
ISBN-10 3-10-403072-3 / 3104030723
ISBN-13 978-3-10-403072-2 / 9783104030722
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