Globale Bewegungsfreiheit. (eBook)
282 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74862-6 (ISBN)
<p>Andreas Cassee hat an der Universität Zürich zur Ethik der Migration promoviert und ist SNF Fellow an der Freien Universität Berlin.</p>
121.
Einleitung
Wird in der breiteren Öffentlichkeit über Migrationspolitik diskutiert, so steht meist die Frage im Vordergrund, wie viel Zuwanderung – und welche Zuwanderung – dem aufgeklärten Eigeninteresse der Bürgerinnen des jeweiligen Landes dient. Die Asyldebatte mag diesbezüglich ein Stück weit eine Ausnahme sein. Aber jedenfalls wenn es um die Einwanderung von Menschen geht, die keine Flüchtlinge im Sinne des geltenden Rechts sind, dreht sich die Diskussion fast immer darum, welche Politik für diejenigen Menschen gut und nützlich ist, die bereits Angehörige des jeweiligen Staates sind: Wäre ein liberaleres Einwanderungsregime im wirtschaftlichen Interesse des Landes? Oder sind eher zusätzliche Restriktionen angebracht, um Arbeitslosigkeit und Lohndruck auf dem heimischen Arbeitsmarkt zu bekämpfen? Bedroht »Einwanderung in die Sozialsysteme« den Wohlfahrtsstaat? Oder leistet die Immigration umgekehrt einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung sozialstaatlicher Institutionen angesichts einer zunehmenden »Überalterung« der Bevölkerung? Stellt die Anwesenheit von Migranten aus Sicht der bisherigen Bürgerinnen eine kulturelle Belastung dar? Oder ist sie im Großen und Ganzen doch eher eine Bereicherung?
Ich werde nicht versuchen, diese Fragen hier zu beantworten. Stattdessen möchte ich die normativen Hintergrundannahmen untersuchen, von denen beide Seiten der erwähnten Kontroversen normalerweise ausgehen, wenn sie solche Nützlichkeitserwägungen anstellen. Dass es an den Bürgern der einzelnen Staaten (beziehungsweise an ihren politischen Repräsentantinnen) ist, darüber zu entscheiden, wem sie die Einwanderung in ihr Staatsgebiet erlauben wollen, und dass sie dies nach Maßgabe ihrer eigenen Vorstellungen und Interessen entscheiden dürfen, wird im politischen Diskurs meist stillschweigend vorausgesetzt. Die Debatte dreht sich darum, wie von einem staatlichen »Recht auf Ausschluss« klugerweise Gebrauch zu machen ist – dass es ein solches Recht gibt, gilt als unkontrovers und unproblematisch.[1]
13Man könnte das vorherrschende Paradigma also dahingehend beschreiben, dass Einwanderungsbegehren etwa wie Heiratsanträge behandelt werden. Ein Einwanderungswilliger kann zwar darlegen, dass er eine »gute Partie« wäre. Einen Anspruch, dass seinem Antrag stattgegeben wird, hat er jedoch nicht. Und genau wie die Empfängerin eines Heiratsantrags nicht unparteiisch zwischen ihren eigenen Wünschen und denjenigen ihres heiratswilligen Gegenübers abzuwägen braucht, wird typischerweise angenommen, dass auch Staaten nicht dazu verpflichtet seien, den Interessen von Einwanderungswilligen bei ihrer Entscheidung das gleiche Gewicht beizumessen wie den Interessen ihrer bisherigen Bürger.
Was ist von dieser Ansicht zu halten? Nimmt man das geltende Völkerrecht zum Maßstab, so ist nichts dagegen einzuwenden. Es gibt zwar ein anerkanntes Menschenrecht auf Auswanderung und eines auf Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit innerhalb eines gegebenen nationalstaatlichen Territoriums.[2] Ein Recht auf Einwanderung beziehungsweise auf grenzüberschreitende Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit sieht das Völkerrecht hingegen nicht vor. Es steht den einzelnen Staaten grundsätzlich frei, Restriktionen für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländerinnen zu erlassen.
Die wichtigste Ausnahme von diesem Grundsatz ist das Prinzip des non-refoulement im internationalen Flüchtlingsrecht: Niemand darf in ein Land abgeschoben werden, in dem »sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde«.[3] Doch 14dabei handelt es sich in doppelter Hinsicht nur um eine beschränkte Ausnahme. Erstens gelten längst nicht alle Menschen, die aufgrund menschenrechtlich erheblicher Notlagen auf der Flucht sind, als Flüchtlinge im Sinne des internationalen Rechts. Wer etwa den Folgen einer Naturkatastrophe oder bitterer Armut zu entkommen sucht, genießt nicht den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention. Und zweitens bietet das Prinzip des non-refoulement nur jenen Flüchtlingen Schutz, die sich bereits im Hoheitsgebiet oder unter der hoheitlichen Kontrolle eines sicheren Staates befinden. Ein Recht, in ein sicheres Land der eigenen Wahl einzureisen, haben im rechtlichen Status quo also selbst politisch Verfolgte nicht.[4] Und alle anderen mehr oder weniger freiwilligen Migrantinnen[5] haben grundsätzlich gar keinen Anspruch, in einem Land aufgenommen zu werden, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht bereits besitzen.
Das heißt nicht, dass Staaten typischerweise versuchen würden, ihre Grenzen völlig zu schließen – 244 Millionen Menschen oder rund 3,3 Prozent der Weltbevölkerung lebten 2015 in einem anderen Land, als sie geboren wurden, davon 76 Millionen in Europa.[6] Auch gelingt es den Staaten nur bedingt, ihre Einreise- und Aufenthaltsrestriktionen tatsächlich durchzusetzen – man denke an die rund 1,9 bis 3,8 Millionen irregulären Migranten, die in einer Situation weitgehender faktischer Rechtlosigkeit auf dem Territorium der Europäischen Union leben.[7] Aber die Staaten erachten es doch 15als ihr gutes Recht, solche Restriktionen zu erlassen und zumindest den Versuch zu unternehmen, sie durchzusetzen. Kein wohlhabender Staat lässt freie Einwanderung aus allen Weltgegenden zu. Und es gibt im geltenden Völkerrecht nichts, was die Staaten dazu verpflichten würde, diese Praxis zu ändern.
Aus rechtlicher Sicht sind Einwanderungsbeschränkungen also legal. Doch lässt sich dieser rechtliche Status quo auch mit guten Gründen rechtfertigen? Haben Staaten (beziehungsweise ihre Bürgerinnen) ein moralisches Recht, die Zuwanderung auf ihr Territorium zu beschränken? Sind Staaten unter moralischen Gesichtspunkten mit privaten Vereinen vergleichbar, deren Mitglieder frei darüber entscheiden dürfen, wen sie als neues Mitglied aufnehmen wollen und wen nicht?[8] Oder gibt es überzeugende Argumente dafür, dass Staaten eher wie Schweizer Kantone oder wie deutsche Bundesländer aussehen sollten, die normalerweise keine Kontrolle über den Zuzug von Menschen aus anderen Kantonen respektive Bundesländern haben?[9] Das ist die Fragestellung, der dieses Buch nachgeht.
Es greift damit eine philosophische Debatte auf, die im englischen Sprachraum seit rund dreißig Jahren kontrovers geführt wird. Ein wichtiger Ausgangspunkt sind dabei die beiden gegensätzlichen Positionen, die Michael Walzer und Joseph Carens in den 1980er Jahren formuliert haben. Walzer spricht sich in seiner Monographie Sphären der Gerechtigkeit für ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht politischer Gemeinschaften über die Aufnahme von Einwanderern aus.[10] Ohne ein Recht auf Ausschluss gäbe es 16Walzer zufolge »keine spezifischen Gemeinschaften, keine historisch stabilen Vereinigungen von Menschen, die einander in einer speziellen Weise verbunden und verpflichtet sind und die eine spezielle Vorstellung von ihrem gemeinsamen Leben haben«.[11]
Eine diametral entgegengesetzte Auffassung verteidigt Carens in seinem Aufsatz »Fremde und Bürger: Weshalb Grenzen offen sein sollten«.[12] Er behauptet, dass Einwanderungsbeschränkungen, wie wir sie heute kennen, mit dem liberalen[13] Bekenntnis zur Freiheit und Gleichheit aller Menschen unvereinbar seien. Die Staatsbürgerschaft in einem wohlhabenden Land sei angesichts der bestehenden Mobilitätsschranken mit einem feudalen Privileg vergleichbar, da sie einer bestimmten Gruppe von Menschen von Geburt an massiv bessere Lebensaussichten garantiere. Und wer das Bekenntnis zur individuellen Freiheit ernst nehme, komme nicht umhin, ein allgemeines Recht auf internationale Bewegungsfreiheit zu akzeptieren.
In den letzten Jahren hat die migrationsethische Debatte erheblich an Intensität gewonnen und zahlreiche Differenzierungen erfahren. Die von Carens geäußerte Kritik, dass ein Recht auf Ausschluss gegen Prinzipien der globalen Chancengleichheit und der individuellen Freiheit verstoße, wurde um einen dritten, demokratietheoretischen Einwand ergänzt: Unilateral beschlossenen Einwanderungsbeschränkungen mangle es an demokratischer Legitimität, weil sie unter Androhung und Ausübung von Zwang gegen Menschen durchgesetzt werden, die ihrerseits keine Mitbestimmungsrechte bei der Festlegung der entsprechenden Gesetze haben.[14] Auf der Gegenseite wurden Walzers Argumente von »li17beralen Nationalisten« aufgegriffen, die – anders als Walzer, dessen kommunitaristische Gerechtigkeitskonzeption gerade als Kritik am »liberalen Mainstream« gedacht ist – die Vereinbarkeit eines kulturell begründeten Selbstbestimmungsrechts nationaler Gemeinschaften mit dem Universalismus und Individualismus liberaler Gerechtigkeitstheorien zu belegen versuchen.[15] Und in jüngerer Zeit werden vermehrt auch Argumente für ein Recht auf Ausschluss diskutiert, die gar nicht auf die kulturelle Dimension des Nationalstaates Bezug nehmen und sich stattdessen auf die Vereinigungsfreiheit[16] oder auf Eigentumsrechte an staatlichen Institutionen[17] berufen.
Diese verschiedenen Stränge der migrationsethischen Debatte sollen im Verlauf dieses Buches genauer dargestellt und kritisch beleuchtet werden. Dabei werde ich eine negative und eine positive Hauptthese vertreten. Meine negative These lautet, dass die »Standardansicht«, der zufolge Staaten die Einwanderung nach Maßgabe der Interessen und Vorlieben ihrer Bürger unilateral beschränken dürfen, moralisch...
Erscheint lt. Verlag | 29.10.2016 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Vergleichende Politikwissenschaften |
Schlagworte | Einwanderung • Flüchtling • Immigration • Opus Primum Förderpreis 2017 • STW 2202 • STW2202 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2202 |
ISBN-10 | 3-518-74862-9 / 3518748629 |
ISBN-13 | 978-3-518-74862-6 / 9783518748626 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich