Der Souveränitätseffekt (eBook)
320 Seiten
diaphanes AG (Verlag)
978-3-03734-559-7 (ISBN)
Wirtschaftskrisen bieten die Chance zur Realisierung des politisch Unbequemen, formulierte Milton Friedman einmal. Die Finanzkrise hat in ihrer jüngsten Zuspitzung zu einer unverkennbaren Krise des Regierens geführt, zu einer Notstandspolitik in der Grauzone zwischen Wirtschaft und Politik: Die Regierungsgeschäfte haben Expertenkomitees, improvisierte Gremien und >Troikas< übernommen, deren Legitimation der Ausnahmefall ist.
Diese Entwicklung ist allerdings keineswegs neu. Wie Joseph Vogl in seinem neuen Buch zeigt, sind die Dynamiken des kapitalistischen Systems und des Finanzkapitalismus durch eine Ko-Evolution von Staaten und Märkten geprägt, in der sich wechselseitige Abhängigkeiten etablieren und verstärken. Vom frühneuzeitlichen Fiskus und dem Auftritt des privaten Financiers über die Entstehung von Zentralbanken hin zur Herrschaft von Finanzökonomie und »global governance« zeichnen sich Souveränitätsreservate eigener Ordnung ab, die autonom innerhalb der Regierungspraxis wirken und im Interesse privater Reichtumssicherung die Geschicke unserer Gesellschaften bestimmen: als ungenannte Vierte Gewalt im Staat.
Die aktuelle Dominanz von Finanzmärkten wird so als jüngste Spielart einer Ökonomisierung des Regierens begriffen, in der die Verschränkung von Machtausübung und Kapitalakkumulation informelle >Souveränitätseffekte< erzeugt.
Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor an der Princeton University, USA. Mit »Das Gespenst des Kapitals« (2011) hat Joseph Vogl »einen heimlichen Bestseller geschrieben, der weit über die Feuilletons Aufsehen erregte« (DER SPIEGEL).
7 - 9 Vorbemerkung (Joseph Vogl)11 - 27 Funktionale Entdifferenzierung (Joseph Vogl)29 - 67 Ökonomie und Regierung (Joseph Vogl)69 - 105 Die seigniorale Macht (Joseph Vogl)107 - 142 Apotheose der Finanz (Joseph Vogl)143 - 199 Vierte Gewalt (Joseph Vogl)201 - 251 Souveränitätsreserven (Joseph Vogl)253 - 291 Anmerkungen (Joseph Vogl)293 - 319 Literaturverzeichnis (Joseph Vogl)
Erstes Kapitel
Funktionale Entdifferenzierung
Herbst der Finanz
Vier Tage im amerikanischen Herbst 2008. Am Freitagmorgen, den 12. September, stand die New Yorker Investmentbank Lehman Brothers vor dem Bankrott und löste einen schnellen Takt von Krisensitzungen zwischen amerikanischen und britischen Regierungsstellen, Notenbankchefs, internationalen Großbanken und Privatinvestoren aus. Bereits im März 2008 hatte die Investmentbank Bear Stearns mit Staatsgarantien von 29 Milliarden Dollar zur Übernahme durch JPMorgan Chase & Co. gezwungen werden müssen, und nachdem die Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac im Sommer 2008 mit 140 Milliarden gerettet worden waren, schloss US-Finanzminister Henry Paulsen nun die Bereitstellung weiterer Steuergelder für Lehman Brothers aus. Noch am Freitagabend wurde den Vertretern von amerikanischen und europäischen Bankunternehmen – darunter Bank of America, Goldman Sachs, Morgan Stanley, Citigroup, Barclays, Credit Suisse, Deutsche Bank, PNP Paribas – in den Konferenzräumen der Federal Reserve Bank von New York die Notwendigkeit einer privatwirtschaftlichen Lösung klargemacht. Verschiedene Investoren sollten beteiligt, Risiken gestreut werden. Die Bank of America aus North Carolina und Barclays mit Sitz in London waren interessiert. Inzwischen meldete auch der Versicherungskonzern American International Group (AIG) Liquiditätsprobleme, und spätestens am folgenden Morgen, am Samstag, den 13. September, war erkennbar, dass das »Wohl des globalen Finanzsystems« auf dem Spiel stand, wie einer der beteiligten Bankmanager bemerkte. Gleichzeitig suchte die ebenfalls angeschlagene Investmentbank Merrill Lynch – aus Sorge, dass nach einer möglichen Rettung von Lehman die Krise auf die nächste Schwachstelle im System übergreifen könnte – nach zusätzlichen Kapitalbeteiligungen. Sie wurde nach kurzen und geheimen Verhandlungen von der Bank of America übernommen, die sich damit den Zugang zum internationalen Investmentgeschäft versprach. Für eine Rettung von Lehman Brothers stand die Bank of America nun nicht mehr bereit.
Im Laufe des Samstags musste man einsehen, dass die Ausfälle von Lehman drastischer, die Liquiditätsnöte von AIG weit größer waren als angenommen. Zudem kamen die Bemühungen zur Übernahme von Lehman durch Barclays in London nicht voran. Zwar konnte die britische Bank einen plausiblen Finanzplan vorlegen, benötigte aber bis zur Zustimmung ihrer Aktionäre, die durch das britische Recht gefordert war, finanzielle Garantien von bis zu 60 Milliarden Dollar, die kein privater Investor bereitstellen wollte. Die Zeit bis Handelsbeginn am Montag wurde knapp. In zahlreichen Telefonaten, die am Sonntag, den 14. September, zwischen amerikanischem Finanzministerium, New Yorker Notenbank, Barclays, britischem Schatzkanzler und der britischen Finanzaufsichtsbehörde geführt wurden, ergab sich, dass London auf der Zustimmung der Barclays-Aktionäre beharren und ohne volle Finanzgarantie dem Geschäft nicht zustimmen würde. Während man in London auf klare Zusagen seitens der US-Amerikaner drängte, wurde in den USA ein solides und eindeutiges Angebot vermisst, auf das man hätte reagieren können. Gegen Mittag zerschlug sich die Barclays-Option. Die Bereitstellung weiterer Mittel durch US-Regierung und Federal Reserve blieb ausgeschlossen, und begleitet von der Hoffnung, die Finanzmärkte und ihre Akteure müssten angesichts der kritischen Lage auf einen Fall dieser Art vorbereitet sein, ging Lehman Brothers in der Nacht zum Montag, den 15. September 2008, in den Konkurs.1 Banken werden stets am Wochenende gerettet. Oder eben nicht.
Auch wenn die letzte Finanzkrise bereits mit dem Einbruch des amerikanischen Hypotheken- und Immobilienmarktes 2006 und den Engpässen im Interbankenhandel seit 2007 begonnen hatte, konnte sie erst nach dem »Lehman Weekend« zum globalen Systemkollaps eskalieren. Was dann geschah, ist hinreichend bekannt und führt in das Reich jener Lösungen, die die Probleme verschieben und verschärfen. Der Lehman-Konkurs zog achtzig Insolvenzverfahren in achtzehn verschiedenen Ländern außerhalb der USA nach sich. Bis zum Jahresende 2008 verschwanden 53 Banken oder wurden verstaatlicht. In den USA wurde AIG mit 182 Milliarden Dollar durch die Federal Reserve gestützt. Washington Mutual und Wachovia gingen bankrott; Bank of America und Citigroup wurden durch Bailouts gerettet, ein Hilfsprogramm im Volumen von 700 Milliarden Dollar aufgelegt; und nach dem Verschwinden von Bear Stearns, Lehman Brothers und Merrill Lynch blieben von den fünf großen Investmentbanken der Wall Street nur Goldman Sachs und Morgan Stanley im Geschäft, die sich überdies nur durch eine schnell improvisierte Verwandlung zu Bankholdings unter den Schutzschirm der US-Regierung retten konnten. In der weiteren Folge kollabierten internationale Geldmarktfonds, der Handel mit Geldmarktpapieren, Aktienkurse, Kapital- und Kreditmärkte brachen ein, Kreditzinsen und Risikoprämien stiegen, von den USA ausgehend breitete sich die Spirale von Liquiditätslöchern, Kreditklemmen, Insolvenzen, Rettungspaketen und staatlichen Bürgschaften nach Asien, Europa und Lateinamerika aus. Der Kollaps auf den Finanzmärkten zog Fiskalkrisen nach sich und entwickelte sich zur notorischen Weltwirtschaftskrise mit rückläufigem Welthandel, schrumpfenden Bruttoinlandsprodukten, Rezession, Steuerausfällen, Staatsbankrotten und steigender Arbeitslosigkeit. Bis hin zu den anhaltenden Verwerfungen in der Eurozone hat sich die Wirksamkeit des Herbstwochenendes vom Jahr 2008 – wie vermittelt auch immer – fortgesetzt und über Schuldenbremsen, Austeritätsprogramme, Privatisierungen, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik das akute Regierungshandeln diktiert.2
Unerhörte Begebenheit
Noch 2007 hatte man in prominenten Expertisen dem weltweiten Finanzsystem größte Stabilität, robuste Gesundheit und insgesamt schöne Aussichten attestiert, noch am 10. September 2008 waren Vertreter der Hochfinanz wie Josef Ackermann ganz und gar überzeugt davon, dass es einen Lehman-Kollaps nicht geben würde; und zwangsläufig musste man dann das Geschehen vom September 2008 als das Ende einer finanzkapitalistischen belle époque, als »Armageddon«, »Jahrhundertkatastrophe«, »gewaltiges Beben«, »Wasserscheide« oder »größtes Melodram« der jüngeren Wirtschaftsgeschichte erfahren.3 Dabei erscheint es bemerkenswert, dass die ominöse Entscheidung über den Lehman-Konkurs zunächst keine wirkliche Entscheidung war. Viel eher setzte sich hier ein Gesetz der unbeabsichtigten Folgen durch und lieferte mit den Ereignissen zwischen dem 12. und dem 15. September 2008 den Stoff zu einer Finanz-Novelle, deren Dynamik Kleist’schen Charakter gewann. Ernsthafte Absichten, trügerische Hoffnungen, Fehleinschätzungen, widrige Umstände und Inkonsequenzen, ein Gemenge aus Geschäftsinteressen, öffentlichen und politischen Rücksichten, rechtliche Bedenken und Handlungsdruck, unterschiedliche Weltsichten, schnelle Peripetien, Missverständnisse und kleine Sturheiten ergaben ein Ereignisformat, das die beteiligten Akteure ebenso verantwortlich wie bar jeder Zurechnungsfähigkeit erscheinen ließ. So sehr die unerhörte Begebenheit von 2008 das globale Wirtschaftsgeschehen bestimmte, so wenig stößt man bei ihrer Rekonstruktion auf einen verlässlichen Grund. Allenfalls könnte man darin eine Art »strukturierter Verantwortungslosigkeit« erkennen, ein mehrfach delegiertes Handeln, das sich in unterschiedlichen Portionen über Privatunternehmen, Zentralbanken und Regierungsstellen hinweg verteilte und in seinem Zusammenspiel »unvorhersehbare Effektakkumulationen, Schwellenüberschreitungen, plötzlich eintretende Irreversibilitäten« erzeugte.4 Man mag sich schließlich mit der Feststellung behelfen, dass die damalige Entscheidung ebenso unglücklich wie alternativlos war und ihren handlungslogischen Ausdruck einzig im Irrealis fand, wie es der damalige US-Notenbankchef Ben Bernanke nachträglich formulierte: »Wenn wir den Bankrott [von Lehman Brothers] hätten verhindern können, hätten wir es getan.«5 Ähnlich wie am Ende von Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit die Stimme eines ratlosen Gottes zum Desaster des Ersten Weltkriegs bemerkte: »Ich habe es nicht gewollt«, musste einer der Protagonisten vom September 2008 abschließend resümieren: »Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.«6
Wenn das Septemberwochenende 2008 dennoch als prägnanter Moment im Verlauf des jüngeren Wirtschaftsgeschehens angesehen werden kann, d. h. als eine kritische Konstellation, in der sich wesentliche Determinanten ebendieses Geschehens versammeln, so liegt das nicht zuletzt daran, dass die in ihm wirksamen Prozesse, Verfahren und Agenturen zu jenen Faktoren gehören, die unmittelbar an der Formierung politökonomischer Handlungsmacht beteiligt sind. Wie immer man diese Ereignisse nachträglich interpretieren mag, als Missgeschick, Anlass oder unerwarteten Auslöser der letzten globalen Finanzkrise – sie sollten jedenfalls nicht nur als bizarre Episode mit unabsehbaren Konsequenzen erinnert werden. Was im September 2008 passierte, muss vielmehr als exemplarisches Entscheidungsspiel begriffen werden, als Schaubild für die Verfertigung, den Ablauf und die Logik von Entscheidungsprozessen im finanzökonomischen Regime. Ein Konsortium aus öffentlichen und privaten Akteuren, improvisierte Meetings, geheime Absprachen und ein...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2018 |
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Reihe/Serie | minima oeconomica | minima oeconomica |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Geisteswissenschaften | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Wirtschaft | |
Schlagworte | Demokratie • Diskursgeschichte • Finanzkrise • Finanzmärkte • Geld • Gouvernementalität • Kapitalismus |
ISBN-10 | 3-03734-559-4 / 3037345594 |
ISBN-13 | 978-3-03734-559-7 / 9783037345597 |
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Größe: 3,1 MB
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