Meine Stimme (eBook)

Zwischen Haltung und Unterhaltung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
200 Seiten
Ventil Verlag
978-3-95575-633-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Meine Stimme -  Sebastian Krumbiegel
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Schon während seiner Ausbildung im Leipziger Thomanerchor fiel Sebastian ­Krumbiegel durch sein ­rebellisches Naturell auf. Machte das Leben zwar interessant, aber nicht ­unbedingt einfacher. Da kamen ihm die ­Umbrüche, die zum Ende der DDR führten, ­gerade recht. Er packte die Gelegenheit beim Schopfe und wurde mit seiner Band Die Prinzen einer der ersten gesamt­deut­schen Popstars. Seine Eigenschaft, sich einzumischen, wann und wo es ihm passt, hat Krumbiegel ­dadurch nicht verloren. Geprägt durch das hautnahe Erleben des Rechtsrucks im Nachgang der Wiedervereinigung, neurechte Demonstrationen in seiner Heimatstadt und einen Überfall durch Neonazis hat er sich ein Ziel gesetzt: Haltung zeigen - gegen rechts, für Menschenrechte und Zivilcourage. In dieser erweiterten Ausgabe seiner Autobiografie »Courage zeigen« zieht Sebastian Krumbiegel die Bilanz seines Lebens - von der (Wunder-)Kindheit in der DDR über die Baseball­schlägerjahre in der neuen Bundesrepublik bis heute. Ein Leben im Rampenlicht und im Auge des Shitstorms, ein Leben als Popstar und als Idealist. »Sebastian hat 'ne Menge erlebt und viel zu erzählen. Dass er das jetzt aufgeschrieben hat, finde ich top und sehr spannend - und ich wünsche mir, dass er damit viele Leute erreicht und motivieren kann.« - Udo Lindenberg

Sebastian Krumbiegel, geboren 1966, ist Musiker, Texter, Komponist und Mitbegründer der Prinzen, die zahlreiche Hits landeten und 2021 ihr 30-jähriges Bestehen feierten. Zusätzlich ist er als Solokünstler aktiv, veröffentlicht Musik und geht mit Konzerten und musikalischen Lesungen auf Tour. Seit vielen Jahren engagiert er sich gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und soziale Ungerechtigkeiten, wofür er unter anderem 2012 mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet wurde. Krumbiegel lebt und arbeitet nach wie vor in Leipzig.

Sebastian Krumbiegel, geboren 1966, ist Musiker, Texter, Komponist und Mitbegründer der Prinzen, die zahlreiche Hits landeten und 2021 ihr 30-jähriges Bestehen feierten. Zusätzlich ist er als Solokünstler aktiv, veröffentlicht Musik und geht mit Konzerten und musikalischen Lesungen auf Tour. Seit vielen Jahren engagiert er sich gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und soziale Ungerechtigkeiten, wofür er unter anderem 2012 mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet wurde. Krumbiegel lebt und arbeitet nach wie vor in Leipzig.

2


DA RUTSCHTE MIR DAS HERZ IN DIE HERUNTERGELASSENE HOSE


Ein »futuristisches Gemälde«, ein Strauß Hundeblumen und finstere Geschichten aus dunklen Zeiten


Ich bin nicht gern zur Schule gegangen. Das ist keine pädagogisch besonders wertvolle Aussage, aber es ist die Wahrheit. Meine Eltern haben mir erzählt, dass ich mich als kleiner Junge sehr auf den Schulanfang gefreut hätte. Endlich nicht mehr Kindergartenkind, endlich groß, und vor allem: endlich eine Riesen-Zuckertüte, die ich stolz vor mir hertrug. Aber als ich dann nach der Feier in der Schule wieder nach Hause kam, soll ich ganz enttäuscht gewesen sein: »Die haben gesagt, dass wir morgen wiederkommen sollen!« – das hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.

Als ich dann, zwölf Jahre später, kurz vor dem Abitur, mit ein paar Klassenkameraden auf dem Schulhof stand – eine Lehrerin hatte uns gerade gesagt, dass wir, wenn wir erst mal die Schule verlassen hätten, mit Wehmut an diese Zeit zurückdenken würden – habe ich mir geschworen, dass ich genau das später mal nicht sagen würde. Ganz abgesehen davon, dass ich jede Art von Prüfungssituation nicht mochte (und bis heute nicht mag), habe ich oft im Unterricht gesessen und mich gefragt: Was wollen die hier eigentlich von mir? Ich verstehe kein Wort von dem, was da vorn gesagt wird und (und das war das Schlimmste), wofür werde ich das jemals brauchen, warum soll ich das lernen?

Noch heute träume ich manchmal schlecht von meiner Schulzeit. Ich sitze im Klassenraum, werde irgendwas gefragt und habe keinen blassen Schimmer, worum es geht. Oder noch schlimmer: Ich sitze vor einem Zettel mit Fragen, die ich nicht verstehe, geschweige denn beantworten kann. Ich druckse rum, fühle mich, als wäre ich total verblödet und bin dann erleichtert, irgendwann aus dem bösen Traum aufzuwachen. Nein – wenn ich an meine Schulzeit denke, dann habe ich keine wehmütigen Gefühle, dann bin ich froh, dass ich das irgendwie hinter mich gebracht habe.

Ein besonders guter Schüler war ich nie, eher im Gegenteil. Außer in Musik, Deutsch und Englisch war ich mittelmäßig bis schlecht. Schon immer habe ich sehr viel gelesen und noch mehr Musik gehört, auch englischsprachige Musik, deren Text ich verstehen wollte. Beatles, die Rolling Stones, The Who und vor allem Queen – das waren meine Helden. Dafür habe ich mich interessiert, darüber wollte ich so viel wissen wie irgend möglich. Vergleichbare »Helden« konnte ich in den naturwissenschaftlichen Fächern leider nicht finden, daher war ich weder in Mathe noch Biologie, geschweige denn in Chemie eine besonders große Leuchte, und als wieselflinke Sportskanone konnte ich auch nicht glänzen. Die einzige Möglichkeit, die mir blieb, um auf mich aufmerksam zu machen, war, die Rolle des lustigen Quertreibers einzunehmen. Das konnte ich ganz gut – kleine Scherzchen machen und Lehrer provozieren. Doch dabei, wenn ich es rückblickend mit der Erfahrung von heute betrachte, immer originell und unterhaltsam bleiben. Das hatte ich perfektioniert: aufmüpfig sein, aber mit Stil und ohne beleidigend zu werden. Naja, das eine oder andere Mal, habe ich wohl doch eine Ausnahme gemacht und die Grenzen überschritten. Ich hatte z. B. von der siebenten bis zur zehnten Klasse einen Physiklehrer, mit dem mich von Anfang an eine innige gegenseitige Abneigung verband.

Wolfgang, mein Klassenkamerad seit der vierten Klasse und bis heute mein Bandkollege und Freund, malte permanent vor sich hin, also auch im Unterricht. Natürlich auch in der Physik-Stunde. Dummerweise hatte er sich ausgerechnet das folgende Motiv ausgesucht: Demonstranten mit Transparenten, Tumult und Straßenschlacht, Polizei, Panzer und jede Menge Action. Die Stadt-Kulisse schien Leipzig zu sein, der »Uni-Riese«, das heutige MDR-Hochhaus, ein wie ein aufgeschlagenes Buch anmutendes Gebäude, das zum Bild der Stadt gehört, war deutlich zu erkennen. Der Lehrer nahm das Bild an sich, und Wolfgangs Eltern wurden wegen dieses »futuristischen Gemäldes« zu einem klärenden Gespräch in die Schule bestellt, was dann fast dazu führte, dass er von der Schule und somit auch aus dem Chor geschmissen werden sollte. Dieses Bild, gemalt von einem Schüler der achten Klasse, wurde als ein Aufruf zur Konterrevolution interpretiert – darauf muss man erst mal kommen. Es wurde ein Politikum draus gemacht, und Wolfgang hatte nicht gerade die beste Zeit seines Lebens, bis die Wogen sich endlich einigermaßen geglättet hatten. Und das alles, weil der Lehrer das Bild beschlagnahmt hatte und damit zum Schulleiter gegangen war. Ich habe innerlich gekocht. Mein Freund hatte Ärger, weil dieser Lehrer sich aufspielen wollte. Ich steigerte mich ganz schön in die Sache rein. Das Bild konfiszieren, damit zum Chef rennen und einen vierzehnjährigen Schüler politisch in die Pfanne hauen, um sich selbst zu profilieren, das fand ich unanständig und böswillig. Kurzerhand habe ich einen Strauß »Hundeblumen« gepflückt, bin auf dem Schulhof zu ihm gegangen und habe ihm zum Dank für seine staatsdienliche Tat vor den Augen der Mitschüler den Strauß dieser nicht besonders hübschen gelben Blumen überreicht. Das zynisch-pubertäre Lächeln und den lieben Gruß an seine Frau hätte ich mir vielleicht schenken sollen. Aber er hatte meinem Freund geschadet, und ich konnte sein Verhalten und daher auch ihn persönlich nicht leiden, und das wollte ich ihm auf meine Art zeigen. Ich fand das damals (und eigentlich sogar noch heute) eine ziemlich gelungene Aktion. Er eher nicht. Das Ganze endete dann damit, dass ich einen offiziellen Tadel bekam, der sich negativ auf meine Jahresabschluss-Beurteilung und natürlich auf die Note in »Betragen« auswirkte. Das hat mir am Ende nicht wirklich geschadet, und ich freue mich bis heute, ihm das Büschel Löwenzahn in die Hand gedrückt zu haben.

Das war in meinen jugendlichen Jahren meine persönliche Form des Protestes. Es mag aus heutiger Sicht lächerlich, klein und belanglos erscheinen, aber für mich war das eine wichtige Form des Auflehnens gegen die Autorität. Meine Eltern fanden das zuerst nicht so toll, weil sie befürchteten, dass ich mir damit selbst schaden würde, aber als ich Ihnen erzählte, warum ich das gemacht hatte, lobten sie mich sogar. Auch sie fanden es gut, weil ich für einen Freund eingestanden war, ohne an Konsequenzen für mich selbst zu denken. Ob das nun was mit Courage oder Haltung zu tun hatte, weiß ich nicht, ich fühlte mich auf jeden Fall gut dabei, etwas nicht einfach hinzunehmen, sondern mich klar zu positionieren.

Auch mein Deutschlehrer bekam ein Problem mit mir, weil ich mal wieder ausprobieren wollte, wie weit ich gehen konnte. Wir sollten in der elften Klasse ein selbst gewähltes Buch besprechen, am besten unser Lieblingsbuch, und ich hatte eine in meinen Augen großartige Idee: »Es geht seinen Gang«, ein Roman von Erich Loest, dem Leipziger Schriftsteller. Das wollte ich besprechen. Der Haken war nur, dass dieses Buch in der DDR auf dem Index stand, weil es sich sehr kritisch mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen auseinandersetzte. Natürlich wusste ich das ganz genau und hatte mich genau aus diesem Grund dafür entschieden. Wenn ich jetzt daran denke, würde ich es nicht unbedingt als einen aufrührerischen Roman bezeichnen, aber damals war der Text einfach berühmt-berüchtigt. Er war in einer sehr kleinen Auflage erschienen und wurde dann in entsprechenden Kreisen von Hand zu Hand weitergegeben. Meine Eltern hatten ein Exemplar ergattert, und alle in der Familie Krumbiegel hatten es gelesen. Ich weiß noch, dass meine Eltern sich angewöhnt hatten, umstrittene Bücher mit einer Art Schutzumschlag im doppelten Sinne in Zeitungspapier einzuschlagen. So konnte niemand sehen, was man da las, wenn man es in der Straßenbahn, im Park, im Urlaub am Strand auf der Insel Hiddensee oder irgendwo anders in der Öffentlichkeit in den Händen hielt. Das war natürlich auch eine Art Code, und manchmal, wenn jemand ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Buch las, wurden wissendverschwörerische Blicke ausgetauscht. Mit genau so einem Buch kam ich in die Schule und schlug es als Unterrichtsstoff vor. Natürlich eine Provokation, und natürlich wurde es mir dann untersagt. »Trivialliteratur«, sagte mein Deutschlehrer und bat mich, mir etwas anderes auszusuchen.

Später, viele Jahre nach dem Mauerfall, traf ich Erich Loest bei einer seiner Lesungen in Leipzig. Ich erzählte ihm, wie ich damals als Siebzehnjähriger mit seinem verbotenen Roman in die Klasse gegangen war und ließ mir genau dieses Exemplar von ihm signieren. Ich glaube, er hat sich gefreut, auch wenn er sicher schon viele ähnliche Geschichten gehört hatte. Aber es ist doch bestimmt ein gutes Gefühl, wenn man merkt, dass man mit dem, was man geschaffen hat, Wellen geschlagen hat, dass man vielleicht sogar dabei mitgeholfen hat, dass sich ein junger Kerl ermutigt gefühlt hat, gegen die Strömung zu schwimmen und anders zu sein, als es der Mainstream von ihm erwartet.

Als wir sehr viel später mit der Band von...

Erscheint lt. Verlag 18.6.2024
Verlagsort Mainz
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Schlagworte Antirassismus • Autobiografie • Bambi • Bundesverdienstorden • Courage • DDR • Die Prinzen • Humanismus-Preis • Leipzig • Ostdeutschland • Thomaner • Wende • Zivilcourage
ISBN-10 3-95575-633-5 / 3955756335
ISBN-13 978-3-95575-633-8 / 9783955756338
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