Die Nacht der Bärin (eBook)
240 Seiten
Harpercollins (Verlag)
978-3-7499-0761-8 (ISBN)
Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid.
Die sechsundzwanzigjährige Jule flüchtet sich nach einem heftigen Streit mit ihrem Freund zu ihren Eltern. Niemals hätte geschehen dürfen, was geschehen ist. In dem Haus am Dorfrand will sie jetzt bleiben und in Ruhe entscheiden, wie es weitergehen soll. Doch dann ereilt die Nachricht vom Tod ihrer Großmutter die Familie, und Jule stutzt. Warum hat ihre Mutter nie von der Großmutter oder der eigenen Kindheit erzählt? Als sie gemeinsam das Haus der Großmutter aufräumen, findet Jule Hinweise auf lang zurückliegende Ereignisse, die bis in die Gegenwart hinein ihre zerstörerische Macht entfalten.
Es wird Zeit, dass die Heilung beginnt - für alle Frauen der Familie.
<p>Kira Mohn, 1972 geboren, ist eine deutsche Bestsellerautorin. Bevor sie als freie Journalistin und Texterin arbeitete, hat sie Psychologie und Pädagogik studiert. Heute widmet sie sich ganz ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und lebt mit ihren Kindern in München. »Die Nacht der Bärin« ist ihr bisher persönlichstes Werk.<br/></p>
1.
In der Dämmerung verliert die winterblasse Umgebung den letzten Rest an Farbe. Die vereinzelten Bäume, deren kahle Äste wirken, als habe jemand mit einem Strohhalm Tinte über die Wolkendecke geblasen, beginnen mit der Umgebung zu verschmelzen. Mir ist kalt, obwohl ich den Temperaturregler im Wagen bis zum Anschlag hochgedreht habe. Auf der Suche nach einer bequemeren Position strecke ich die Wirbelsäule durch, und das dumpfe Pulsieren über meinem Hüftknochen verstärkt sich. Das gibt einen blauen Fleck. Meine Mutter hat das früher gesagt, wenn ich beim Herumtoben mal wieder zu wild gewesen bin. Das gibt einen blauen Fleck. Der Satz steht für Waghalsigkeit und Übermut, für Sprünge von der vierten, fünften, sechsten Stufe, und jetzt steht er auch noch für etwas anderes.
Die Straße ist trocken, und ich drücke das Gaspedal hinunter. Meine Eltern warten vermutlich schon, zumindest mein Vater, der sich schnell Sorgen macht. Ich hätte nicht so lange an dieser Raststätte auf die Sträucher vor der Motorhaube starren sollen, einen Becher mit Kaffee in der Hand und das Handy auf dem Beifahrersitz.
Es tut mir leid.
Es tut mir wirklich leid.
Ruf mich an, bitte.
Zwischen den Wolkenfetzen taucht gelegentlich der Mond auf, sein Lichtkranz bildet einen schwachen Ring in der sich herabsenkenden Dunkelheit. Er erinnert mich an die Nachtwanderungen mit meinem Vater. Wenn ich müde wurde, hat er mich nach Hause getragen und dabei Geschichten erzählt, vom Mondmädchen und dem Sonnendrachen, die einfach unzertrennlich waren, bis ich unser Gartentor quietschen hörte. Der Sonnendrache war eifersüchtig gewesen, als das Mondmädchen immer mehr Zeit mit dem Jupiterwind verbrachte, und die Nächte wurden hell, weil er sie immerzu beobachtete. Aber er hatte zumindest einen Grund gehabt, denn sie hatte ihn über diese Liebe fast vergessen. Jasper dagegen …
Ich wünschte, es würde nicht so wehtun, an ihn zu denken.
Es ist noch keine zwei Stunden her, da haben wir zusammen Kaffee getrunken. Völlig aus der Luft heraus hat er wissen wollen, wer außer mir letzte Woche länger in der Agentur geblieben ist, und dieses Mal bin ich explodiert. Seine ewigen Unterstellungen machen mich krank.
Ursprünglich wollten wir uns heute eine Ausstellung in der Kunsthalle ansehen, stattdessen statte ich jetzt meinen Eltern einen äußerst spontanen Besuch ab.
Kurz habe ich darüber nachgedacht, zu meiner Freundin Theresa zu fahren, doch dazu hätten wir uns in den letzten Monaten häufiger mal sehen sollen. Ich weiß nicht einmal mehr, wann wir zuletzt telefoniert haben, und auf meiner Mailbox befinden sich noch immer zwei unbeantwortete Sprachnachrichten von ihr. Ich bin einfach zu oft in der Agentur, zu oft und zu lang. Aber an jedem, der es nicht ist, ziehen die interessanten Projekte nun mal vorbei.
Davon abgesehen mag Jasper Theresa nicht besonders, auch das ist ein Grund, weshalb unsere Treffen seltener geworden sind. Worum ist es bei unseren letzten Gesprächen überhaupt gegangen?
Ich habe keine Ahnung, wie es in Theresas Leben aktuell aussieht, und deshalb will ich sie mit meinem nicht überfallen.
Vielleicht rufe ich sie an. Später, wenn ich alles ein wenig sortiert habe. Aber zunächst einmal brauche ich Luft. Jaspers Misstrauen ist ein fortwährender Würgegriff, und das, was heute geschehen ist … Ich muss nachdenken.
***
Das Haus meiner Eltern liegt in einer ruhigen Straße am Dorfrand. Im Sommer steht der Mais auf den Äckern meterhoch, jetzt jedoch beleuchtet die letzte Laterne nur Stoppeln, die aus der Erde ragen. In einigen Fenstern der Nachbarhäuser schimmert noch die Weihnachtsbeleuchtung, es ist ein friedlicher Anblick.
Nachdem ich ausgestiegen bin, werfe ich mir den Mantel über die Schultern und bleibe einige Sekunden lang stehen. Irgendetwas werde ich meinen Eltern gleich erzählen müssen, doch um darüber zu reden, was mich hierhertreibt, fühle ich mich noch nicht bereit. Mir selbst dabei zuhören, wie ich ausspreche, was heute passiert ist? Danke, nein.
Ich komme also einfach mal wieder vorbei? Ein plötzlicher Anfall von Heimweh? Das werden sie mir niemals glauben, doch sie werden auch nicht nachhaken. So sind sie nicht, weder mein vorsichtiger Vater noch meine zurückhaltende Mutter.
Vermutlich sitzen sie gerade beim Abendessen. Zumindest hoffe ich, dass sie damit nicht auf mich warten. Ich drücke den Klingelknopf und öffne das Gartentor. Sekunden später leuchten die Glaseinsätze der Haustür auf, dann steht mein Vater vor mir und breitet die Arme aus.
»Jule!« Sein Geruch ist tröstlich. »Schön, dass du endlich da bist. Wir haben uns zu lange nicht gesehen.«
Etwas in der Art sagt er immer zur Begrüßung, doch diesmal liegt mein letzter Besuch wirklich eine Weile zurück, und schuldbewusst erwidere ich den Druck seiner Umarmung. Theresa ist nicht die Einzige, die ich vernachlässigt habe. Nicht einmal zu Weihnachten bin ich hier gewesen, dabei nehme ich mir ständig vor, häufiger zu meinen Eltern zu fahren. Mein Vater ist über sechzig, wer kann schon sagen, wie viel Zeit wir noch haben?
»Wir haben uns schon gefragt, wo du bleibst.« Er schiebt mich von sich, um mich anzusehen. »Wie geht es dir?«
»Gut. Ganz gut. Ich habe auf einer Raststätte noch einen Kaffee getrunken und nicht mehr auf die Zeit geachtet, tut mir leid.«
Er lässt mich vorgehen. Vor der Tür zum Esszimmer steht meine Mutter.
»Jule.« Ihre Berührung ist federleicht, wie immer, was mich umgekehrt zeit meines Lebens dazu bewogen hat, sie umso stärker festhalten zu wollen. »Wir sind gerade mit dem Abendessen fertig geworden. Möchtest du noch etwas?«
»Vielleicht ein wenig. Großen Hunger habe ich nicht.« Eigentlich überhaupt keinen, doch etwas zu essen erscheint mir unauffälliger. Normaler. »Ich bringe nur gerade die Sachen in mein Zimmer.«
Das Bett ist bereits bezogen, und ich stelle die Tasche davor ab, mustere für einen Moment die Lichterkette am Kopfende, die sich zwischen mehreren angepinnten Skizzen entlangschlängelt. Skizzen von Augen, von Händen, Linien, die sich zu einem Gesicht verbinden. Meine Mutter hat meine Zeichnungen nie heruntergenommen, nur ein zusätzliches Regal in mein ehemaliges Zimmer gestellt, in dem sich hauptsächlich Belegexemplare ihrer Bücher befinden. Ansonsten ist alles so, wie ich es hinterlassen habe. Der Kleiderschrank mit seinen quietschenden Schiebetüren, der auf antik getrimmte Schreibtisch und der Spiegel neben dem Fenster, der vielleicht wirklich antik ist. Ich habe ihn vom Trödelmarkt am Mainufer nach Hause geschleppt, damals hatte ich in Frankfurt gerade mit meiner Ausbildung zur Grafikerin begonnen. Ich war mit einigen Freundinnen dort, zu denen ich keinen Kontakt mehr habe, und wir sind mit großer Wahrscheinlichkeit allen Leuten im Zug mit unseren Spieglein-Sprüchen auf die Nerven gegangen.
Spieglein, Spieglein, wer wird mein Prinz?
Der Spiegel hat mir damals nicht verraten, dass man um manche Prinzen besser einen Bogen macht.
Jetzt zeigt er mir das Bild einer Frau, die blonden Haare zu einem unordentlichen Knoten zusammengesteckt, mit schmalem Gesicht und einem bitteren Zug um die Mundwinkel. Als mein Telefon klingelt, schalte ich es aus, ohne auch nur einen Blick auf das Display zu werfen.
***
Im Esszimmer stehen ein mit Suppe gefüllter Teller und ein Glas Wasser auf dem Tisch. Meine Eltern sehen mir entgegen, und jetzt scheinen sie doch noch auf mich zu warten.
»Möchtest du Brot?«, fragt mein Vater, während in seinen Augen ein aufforderndes Also? zu lesen steht. Also? Was gibt es? Musst du gerettet werden?
»Danke.« Ich nehme mir eine Scheibe und setze mich auf meinen Platz.
Mein Vater ist jederzeit bereit, mich zu retten. Früher war das der Grund vieler Diskussionen zwischen ihm und meiner Mutter, die der Ansicht ist, jeder solle in der Lage sein, seine Probleme selbst zu lösen. Als ich eine Zeit lang jeden Morgen mit Bauchschmerzen zur Schule gegangen bin, weil der Mathelehrer mich zuverlässig an die Tafel holte, und ich bereits schweißfeuchte Hände bekam, wenn ich ihn nur durch den Gang laufen sah, hat sie mich genötigt, ihn darauf anzusprechen, statt ein Elterngespräch einzufordern, wie mein Vater es vorschlug. Er setzte sich jedoch durch, als ein Junge aus unserer Straße sich eine Weile wie ein Grenzbeamter aufführte und mir den direkten Weg von der Schule nach Hause verweigerte. Eines Nachmittags erklärte mein Vater ihm in deutlichen Worten, was er von seinem Verhalten hielt, und danach existierte die unsichtbare Linie von der einen zur anderen Straßenseite nicht mehr.
Meine Eltern diskutieren über solche Dinge, doch sie streiten nicht. Sie streiten nie, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
Ich stippe Brot in die Suppe und bin mir dabei überdeutlich des Schweigens am Tisch bewusst.
Endlich räuspert sich mein Vater. »Und? Wie läuft es denn so auf der Arbeit?«
»Großartig.«
Danke, Papa. In der Werbeagentur läuft alles nach Plan, immerhin eine Sache in meinem Leben, die ich noch im Griff habe. Ich erzähle vom letzten Projekt, von dem Lob, das ich dafür erhalten habe, und davon, dass vor einigen Tagen von einem besonderen Kunden die Rede gewesen ist, ohne dass ein Name gefallen wäre.
»Vielleicht sind es Dromer & Lindbergh. Falls ja, wäre es fantastisch, wenn sie mich für ihr Team auswählen würden.«
»Was machen die?«, will meine Mutter...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Partnerschaft / Sexualität | |
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ISBN-10 | 3-7499-0761-7 / 3749907617 |
ISBN-13 | 978-3-7499-0761-8 / 9783749907618 |
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