'... wegen der geringsten Vergehen gegen das Koalitionsrecht!' -  Peter Goller

'... wegen der geringsten Vergehen gegen das Koalitionsrecht!' (eBook)

Streik- und Arbeiterkoalitionsrecht in Österreich 1867-1914. Aus Texten von Leo Verkauf und Isidor Ingwer

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
168 Seiten
StudienVerlag
978-3-7065-6370-3 (ISBN)
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1870 hat die österreichische Arbeiterklasse das Koalitionsrecht errungen. Sozialdemokratische Arbeitsrechtler wie Isidor Ingwer oder der SP-Reichsratsabgeordnete Leo Verkauf haben in den Jahren vor 1914 vor dem Hintergrund radikaler, oft mit militärischer Gewalt unterdrückter Arbeitskämpfe (z. B. die toten böhmisch-mährischen Bergarbeiter 1894, Wiener Ziegelarbeiterstreik 1895, Bergarbeiterstreik 1900, die Toten des Generalstreiks von Triest 1902 oder die Toten des Lemberger Maurer- und Zimmererausstandes 1902) beschrieben, wie das Streikrecht vom habsburgischen Behördenapparat bis zur offenen Repression eingeschränkt wurde. Viele Arbeiter und Arbeiterinnen wurden wegen kleiner Verstöße gegen das Koalitionsgesetz belangt. Die Erpressungsnormen des Strafrechts wurden gegen Ausständische mobilisiert. Nach dem Vereins- und Versammlungsrecht wurden Arbeitervereine verboten, Streikversammlungen aufgelöst. Mit dem 'Prügelpatent' von 1854 wurde gegen Streikposten vorgegangen. Unzählige Arbeiter wurden nach der 'Kontraktbruchregelung' der Gewerbeordnung sanktioniert. Mit Hilfe der 'Vagabundengesetzgebung' wurden Streikende abgeschoben und 'abgeschafft'. Es soll an Isidor Ingwer erinnert werden, der - wie Forschungen der Wiener Rechtshistorikerin Ilse Reiter-Zatloukal ergeben haben - schon 1893 wegen des Ausrufs 'Es lebe die rothe revolutionäre Socialdemokratie!' - abgeurteilt und als 'äußerst gefährlicher Agitator' aus Mähren 'abgeschafft' wurde, und der am 19. August 1942 knapp nach seiner Deportation im KZ Theresienstadt verstorben ist.

Peter Goller, Mitarbeiter am Universitätsarchiv Innsbruck, publiziert zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, sowie zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung (über Otto Bauer, Max Adler oder 2009 'Während der Schlacht ist es schwer, Kriegsgeschichte zu schreiben, ...' Geschichtsschreibung der österreichischen Arbeiterbewegung vor 1934). Zuletzt: 'Die Innsbrucker Juristenfakultät im 20. Jahrhundert' (2022), 'Die Neugründung der Medizinischen Fakultät Innsbruck 1869' (2023) und gemeinsam mit Pierre Sachse 'Franz Hillebrand. Ausgewählte Schriften zur Wahrnehmungspsychologie und Erkenntnistheorie' (2021). Im Studienverlag: 'Katholisches Theologiestudium an der Universität Innsbruck vor dem Ersten Weltkrieg (1857-1914)' (1997) und gemeinsam mit Gerhard Oberkofler 'Alfons Huber. Briefe 1859-1898' (1995).

Peter Goller, Mitarbeiter am Universitätsarchiv Innsbruck, publiziert zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, sowie zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung (über Otto Bauer, Max Adler oder 2009 "Während der Schlacht ist es schwer, Kriegsgeschichte zu schreiben, ..." Geschichtsschreibung der österreichischen Arbeiterbewegung vor 1934). Zuletzt: "Die Innsbrucker Juristenfakultät im 20. Jahrhundert" (2022), "Die Neugründung der Medizinischen Fakultät Innsbruck 1869" (2023) und gemeinsam mit Pierre Sachse "Franz Hillebrand. Ausgewählte Schriften zur Wahrnehmungspsychologie und Erkenntnistheorie" (2021). Im Studienverlag: "Katholisches Theologiestudium an der Universität Innsbruck vor dem Ersten Weltkrieg (1857-1914)" (1997) und gemeinsam mit Gerhard Oberkofler "Alfons Huber. Briefe 1859-1898" (1995).

2. Aus der Geschichte der Streikdisziplinierung und Gewerkschaftsrepression seit 186728


Mit der im Gefolge der liberalen Staatsgrundgesetze Ende 1867 einsetzenden Gründungswelle von Arbeiterbildungsvereinen und gewerkschaftlichen Fachvereinen kam es in den Jahren der Konjunktur des spekulativ kapitalistischen „Gründungsfiebers“ zu zahlreichen Lohn- und Streikbewegungen. Angesichts der sozialdemokratischen Tendenz dieser Arbeitervereine und konfrontiert mit der vermehrten proletarischen Klassenbewegung reagierte der Staatsapparat schon ab 1868 mit polizeilich administrativer Unterdrückung, die im Sommer 1870 in einem antisozialistisch inszenierten Hochverratsprozess und in der sich auf die §§ 24 und 25 des Vereinsgesetzes 1867 stützenden Auflösung unzähliger Arbeiterorganisationen gipfelte. Die Anklage wegen Hochverrats und öffentlicher Gewalttätigkeit stützte sich auf die Paragraphen 58b, 76 und 214 StG 1852.29

Im Herbst 1868 wurde ein „sozialdemokratisches Komitee“ aufgelöst. Ein allgemeines österreichisches Arbeiterverbrüderungsfest in Wien, auf dem unter anderem volle Koalitionsfreiheit verlangt werden sollte, wurde untersagt. Politische Inhalte wurden als gesetzwidrige „Statutenüberschreitung“ geahndet. Die wenigen Querverbindungen zur Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) wurden unterbunden.

Die Sympathie für das als „staatsgefährlich“ qualifizierte Eisenacher Programm der deutschen Sozialdemokraten und die am 13. Dezember 1869 in einer Demonstration von 20.000 Arbeitern vor dem Wiener Reichsrat ihren Höhepunkt findende Agitation für das Koalitionsrecht sowie die Anfang 1870 von den Arbeiteraktivisten Josef Krosch und Andreas Scheu mit organisierten Proteste im nordwestböhmischen Reichenberg endeten in Verhaftungen und in blutigem Militäreinsatz.30

Laut der erstmals 1908 veröffentlichten Gewerkschaftsgeschichte von Julius Deutsch kam es 1868/69 zu Arbeitsausständen in einer Wiener Schuhfabrik, von Eisenbauarbeitern in Simmering, von Buchdruckern an mehreren Orten, von Schlossern in Graz, von Schneidergehilfen in Prag oder von Werftarbeitern in Triest.31

Im Sommer 1869 streikten die Brünner Textilarbeiter gegen massiven Widerstand der Unternehmer und Behörden ein Monat lang, unterstützt vom lokalen Arbeiterbildungsverein: „In mehreren Arbeitervereinen der Monarchie wurden Solidaritätskundgebungen und Sammlungen durchgeführt. Der Brünner Streik hatte in der Arbeiterschaft starken Widerhall gefunden, weil er der bedeutendste der vielen Streiks des Jahres 1869 war.“ Um im Frühjahr 1870 einen großen Wiener Buchdruckerstreik zu unterdrücken, wurden vom Militärkommando des Setzens und Druckens kundige Soldaten als Streikbrecher eingesetzt. Mitte der 1870er Jahre wurden Lohnbewegungen der Buchdrucker von den Behörden schon prophylaktisch behindert, indem etwa 1875 der Redakteur der Vereinszeitung „Vorwärts“ unter dem Vorwurf der Agitation aus „allen im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern“ ausgewiesen wurde.

Viele Streiks endeten mit Niederlagen und in der Auflösung von Arbeitervereinen. Folglich warnte die sozialdemokratische „Volksstimme“ im April 1870 vor zu großer Streikeuphorie. Verlorene Streiks kämen verlorenen Schlachten gleich: „Durch Arbeitseinstellungen wird die soziale Frage nicht gelöst.“ Arbeitskämpfe seien als „Linderungsmittel und Agitationsmittel gegen das soziale Elend“ anzusehen.

Der sozialdemokratische Parteihistoriker Ludwig Brügel (1866–1942 im KZ Theresienstadt) schildert 1922 das juristisch administrative Vorgehen anhand eines Grazer Schneiderstreiks im September 1869, also kurz vor dem Inkrafttreten des Koalitionsgesetzes im April 1870 im Licht der noch geltenden strafrechtlichen Bestimmungen aus 1852. Brügel zitiert aus einem Polizeivermerk vom Februar 1870 „über die Abstrafung der Rädelsführer der im September 1869 stattgehabten Arbeitseinstellung der Schneidergehilfen“: „Die im Sinne des § 481 StGB bei dem hiesigen k. k. städt. del. Bezirksgericht wegen gemeinsamer Arbeitseinstellung abgeführte Strafverhandlung resultierte in einer Verurteilung der als Rädelsführer erkannten Schneider Anton Straßer, Wenzel Peschan, Josef Hederer und Wilhelm Moser wegen Übertretung des vorzitierten Paragraphen und zwar des erstgenannten zu acht Tagen, der drei letzteren zu je sechs Tagen Arrest. Die Vollziehung dieses Straferkenntnisses vom 25. Oktober 1869, nach welchem gegen Straßer, Peschan und Hederer auch die Abschaffung aus dem Kronlande Steiermark Platz griff, wussten die Genannten jedoch unter Anwendung aller gesetzlich möglichen Rechtsmittel der Berufung und von Strafaufschubgesuchen so lange hintanzuhalten, dass deren endlicher Abgang erst am 6. d. M erfolgte. Der hiesige Arbeiterbildungsverein ‚Vorwärts‘ wollte die abgeschafften Vereinsmitglieder in Masse mit der Vereinsfahne aus der Stadt begleiten.“

Zum 23-jährigen Schneider Wilhelm Moser – er wird 1871 an der durch die Haft verschlechterten Lungentuberkulose sterben – hält die Grazer Staatsanwaltschaft am 28. August 1870 fest, dass er ein aktiver sozialdemokratischer Agitator mit Querverbindungen womöglich zur „Genfer Internationale“ im aufgelösten Arbeiterverein „Vorwärts“ gewesen war: „Einen ebenso werktätigen Einfluss nahm derselbe an dem Streik der Schneidergehilfen in Graz, und wurde deshalb wegen Mitschuld der nach § 479 St.G. strafbaren Übertretung mit sechstägigem Arrest bestraft.“32

Im März 1870 wurde ein in eine Sozialrevolte übergehender Streik in den Textilfabriken des Gablonzer und Reichenberger Bezirks von Infanteriekompagnien per Bajonettangriff liquidiert, fünf Tote blieben zurück. Herbert Steiner berichtet: „Im März 1870 fanden im Reichenberger Bezirk, in den Textilfabriken von Tannwald und Swarow, Streiks der Arbeiter statt. Damals war das vom Reichsrat beschlossene Koalitionsrecht noch nicht in Kraft, es wurde erst im April 1870 verlautbart. Abermals schritt die bewaffnete Macht gegen die streikenden Arbeiter ein. (…) Im April fand in Wien eine Solidaritätskundgebung für die blutigen Opfer des Streiks von Swarow statt. Große Empörung und Trauer rief die Nachricht vom Tod des beliebten Reichen-berger Arbeiterführers [Josef] Krosch in seinem Prager Gefängnis hervor.“33

Emil Strauß (1889–1942 im KZ Buchenwald) schildert in seiner Parteigeschichte 1925 die „Schüsse von Swarow“ im Detail. Ständige Schikanen, Lohnstrafen haben die Arbeiter in den sozialen Widerstand getrieben. Strauß nennt die Namen der „auf diesem Schlachtfelde des Klassenkampfs“ gefallenen Arbeiter. Er beschreibt auch die weitere Bewegung: „Im Dezember 1871 erschütterte der erste größere Streik das nordwestböhmische Braunkohlenrevier, die Bergleute von Dux stellten die Arbeit ein, weil die Bergherren die geforderte Lohnerhöhung beharrlich verweigerten. In den Monaten April, Mai und Juni 1872 herrschte im Reichenberger Gebiet ein wahres Streikfieber – die günstige Geschäftskonjunktur erreichte damals kurz vor dem Zusammenbruch von 1873 den Höhepunkt – viele Hunderte von Arbeitern legten die Arbeit nieder. (…) Größeren Umfang nahm ein Ausstand im Katharinberger Tal an, der sich rasch auf 39 Spinnereien ausdehnte. Der Streik dauerte sechs Wochen und brachte den Arbeitern einen bedeutenden Erfolg. Die Löhne wurden erhöht, die Arbeitszeit verkürzt.“ Die Arbeiter ließen sich von behördlicher Maßregelung, von gerichtlichen Verurteilungen und vom Umstand, dass viele abgeschoben „den Wanderstab nehmen“ mussten, nicht einschüchtern. Arbeitskämpfe in Bodenbach oder im westböhmischen Asch folgten.34

Im Frühjahr 1871 kam es zu so vielen Lohnkämpfen, dass der sozialdemokratische „Volkswille“ am 6. Mai 1871 vor „nicht im mindesten organisierten und nur ins Blaue hinein vom Zaun gebrochenen“ Streiks warnte, da sie nicht unterstützt werden könnten und deshalb meist erfolglos blieben. Trotz der bedrückenden Lohn- und Arbeitszeitverhältnisse sollte mehr taktisch vorgegangen werden. Außerdem gab es getragen von „Lohnfondstheorien“, die wie das (von Ferdinand Lassalle anerkannte) „eherne Lohngesetz“ von einer durch soziale Kämpfe nicht beeinflussbaren marktökonomischen Bestimmtheit der Lohnhöhe ausgingen, generell Zweifel am Nutzen von Streiks.

Julius Deutsch zählt für das Frühjahr 1871 folgende Lohnkämpfe auf: „Kleidermacher in Judenburg und in Laibach, die Müllerburschen in Fischamend, die Gold-, Silber- und Juwelenarbeiter in Wien, die Schneider in Lemberg, die Tischler (teilweise in Wien), die Arbeiter der Tramwaygesellschaft in Hernals, die Hafnergehilfen in Graz, die Hutmacher in Klagenfurt, die Manufakturabteilung (teilweise) in Wien, die Hornknopfarbeiter in Ottakring, die Metallarbeiter (teilweise) in Wien, die Sattler-, Riemer- und Taschnergehilfen in Wien usw. usw.“

Fachvereine, denen eine Beteiligung an bzw. die Unterstützung von Streiks unterstellt wurde, wurden nach § 24 Vereinsgesetz aufgelöst, so 1872 der Gewerkschaftsverein der Wiener Brauereigehilfen und der...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2023
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Neuzeit bis 1918
Schlagworte Arbeiterrecht • Arbeitskämpfe • Streikaktivisten • Streikbewegung • Streikrepression • Vereins- und Versammlungsrecht
ISBN-10 3-7065-6370-3 / 3706563703
ISBN-13 978-3-7065-6370-3 / 9783706563703
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