Der NS-Staat (eBook)

Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01059-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der NS-Staat -  Ian Kershaw
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Die Literatur zum Nationalsozialismus und zum Holocaust füllt ganze Bibliotheken, und selbst Fachleuten fällt es schwer, einen Überblick zu wahren. Diese unübersichtliche Situation stellt sich dank der Arbeit des britischen Sozialhistorikers und Hitler-Biographen Ian Kershaw verändert dar. Sein Buch, das nun in einer erweiterten und überarbeiteten Fassung vorliegt, ist ein Wegweiser durch das Bücherdickicht zum Ursprung und Wesen des Nationalsozialismus. Der Autor informiert über die unterschiedlichen Erklärungsmodelle, kommentiert einsichtig die großen Kontroversen und Debatten, die sie begleiten, und zeigt dabei den aktuellen Forschungsstand.

Dr. phil. Ian Kershaw, geboren 1943, studiere in Liverpool und Oxford. Er lehrte von 1968 bis 1989 an den Universitäte Manchester und Nottingham. Seit 1989 ist er Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Instituts der Universität Sheffield.

Dr. phil. Ian Kershaw, geboren 1943, studiere in Liverpool und Oxford. Er lehrte von 1968 bis 1989 an den Universitäte Manchester und Nottingham. Seit 1989 ist er Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Historischen Instituts der Universität Sheffield.

1 Die Historiker und das Problem, den Nationalsozialismus zu erklären


Auch mehr als fünf Jahrzehnte nach der Zerstörung des Dritten Reiches haben führende Historiker bei einigen der grundlegendsten Erklärungs- und Interpretationsprobleme keine Einigung erzielen können. Natürlich sind in der Geschichtsschreibung seit der unmittelbaren Nachkriegszeit große Fortschritte gemacht worden. Die Historiker versuchten sich damals an einer Aufzeichnung der «Zeitgeschichte», noch bevor sich der Sturm der Entrüstung über die von Hitlers Armeen in Europa angerichtete Zerstörung etwas gelegt hatte; sie schrieben in einem politischen Klima, das von den entsetzlichen Enthüllungen der Nürnberger Prozesse und der Einsicht in das Ausmaß der Grausamkeit des Regimes geprägt war. Insofern kann es kaum überraschen, daß damals bei der Beschreibung der jüngsten Vergangenheit Anschuldigungen von seiten der Alliierten und Rechtfertigungen von seiten der Deutschen eine große Rolle spielten. Mit größerem zeitlichem Abstand haben zahlreiche, von einer neuen Historikergeneration veröffentlichte Forschungsarbeiten dazu beigetragen, unser Wissen über den Nationalsozialismus wesentlich zu erweitern – vor allem seitdem in den sechziger Jahren die von den Alliierten erbeuteten und inzwischen an die Deutschen zurückgegebenen Dokumente zugänglich gemacht worden waren. Doch sobald man versucht, an die detaillierten Monographien mit übergreifenden Fragestellungen heranzugehen, stößt man, was die Übereinstimmung bei der Interpretation des Nationalsozialismus betrifft, schnell auf Grenzen. Eine Synthese der gegensätzlichen Interpretationen, nach der so oft verlangt wird, ist nirgendwo in Sicht. Die Debatte hält unvermindert an und wird mit großem Nachdruck und häufig sogar mit einer Erbitterung geführt, die über eine herkömmliche Kontroverse zwischen Historikern weit hinausgeht. Lebhaft deutlich wurde dies an den Gefühlsausbrüchen, von denen 1986 der «Historikerstreit» begleitet war – eine öffentliche Kontroverse zwischen führenden deutschen Historikern über den historischen Ort des Dritten Reichs in der deutschen Geschichte.

Natürlich sind gerade Debatten und Kontroversen ein wesentlicher Bestandteil historischer Arbeit und eine Voraussetzung dafür, daß es bei der Geschichtsforschung überhaupt zu Fortschritten kommt. Der Nationalsozialismus wirft jedoch historische Interpretationsfragen auf, die eine eigene Brisanz haben oder ein bezeichnendes Licht auf weiterreichende historische Erklärungsprobleme werfen. Die besonderen Merkmale der grundlegenden Meinungsverschiedenheit der Historiker bei der Interpretation des Nationalsozialismus lassen sich meines Erachtens durch drei zwangsläufig eng miteinander verflochtene Bereiche umreißen: einen geschichtsphilosophischen, einen politisch-ideologischen und einen moralischen. Diese Bereiche sind untrennbar verbunden mit dem Forschungsgegenstand des Historikers und mit dem Verständnis, das er seiner heutigen Rolle und Aufgabe bei der Erforschung und Beschreibung des Nationalsozialismus entgegenbringt. Diese besonderen Merkmale, so möchte ich weiter behaupten, spiegeln ein zentrales Element im politischen Bewußtsein beider deutscher Nachkriegsstaaten: Die Rede ist von der lernbereiten Auseinandersetzung mit Deutschlands jüngster Vergangenheit.

Da die Historiker in Ost- und Westdeutschland grundverschieden an die Nazivergangenheit herangegangen sind, sind ihre schriftlichen Äußerungen über den Nationalsozialismus in bestimmter Weise gefärbt. In der Bundesrepublik ist man mit dem Problem allerdings auf eine weniger eingleisige Weise umgegangen als in der Deutschen Demokratischen Republik, und so sind die Kontroversen über die Interpretation des Nationalsozialismus vor allem westdeutsche Kontroversen. Damit soll natürlich keineswegs der bedeutende, oftmals wegweisende Beitrag unterschätzt werden, den nichtdeutsche Historiker bei der Erforschung der deutschen Geschichte geleistet haben. Häufig hat gerade der Umstand, daß ausländische Historiker frei von der Last der «Vergangenheitsbewältigung» und unabhängig von den intellektuellen Strömungen der westdeutschen Gesellschaft sind, zu frischen Impulsen und neuen Methoden geführt. Aus den folgenden Kapiteln geht hervor, wie sehr die internationale Wissenschaft diesem Bereich der Forschung ihren Stempel aufgedrückt hat. Dennoch wird im Buch im wesentlichen davon ausgegangen, daß die Konturen der Debatte im allgemeinen von deutschen Historikern herausgearbeitet wurden und in großem Maße davon geprägt sind, was westdeutsche Historiker als ihre Aufgabe bei der Bildung des «politischen Bewußtseins» und der Überwindung der Vergangenheit ansahen.

Von der Bundesrepublik heißt es, sie sei mehr noch als Israel oder Südvietnam «ein Staat der Zeitgeschichte, aus der Katastrophe hervorgegangen und zur Überwindung der Katastrophe errichtet»[1]. In einer solchen Gesellschaft kommt dem Historiker, der sich mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigt, eine viel offenkundiger politische Rolle zu als beispielsweise in Großbritannien. Man kann durchaus sagen, daß der Historiker aufgrund seiner Interpretation der jüngsten Vergangenheit in gewisser Weise als Hüter oder Kritiker der Gegenwart gesehen wird und sich auch selbst so sieht. Dadurch, daß die geschichtliche Erforschung des Nationalsozialismus und die «politische Bildung» untrennbar miteinander verbunden sind, verstärkt sich bei manchen Historikern teilweise das unterschwellige Gefühl, daß vor allem dort, wo es um das Erfassen des Wesens des NS-Systems geht, Klarheit herrschen sollte. Dieses Gefühl wurde 1978 vom damaligen Bundeskanzler, Helmut Schmidt, zum Ausdruck gebracht, als er in seiner Rede auf dem deutschen Historikertag beklagte, ein Übermaß an Theorie habe dazu geführt, daß viele heutige Deutsche ein Bild vom Nationalsozialismus hätten, dem es noch immer an einer «klaren Kontur» fehle.[2] Dasselbe Argument ist für die Stimmung – eine Mischung aus Wut und Trauer – mancher Historiker kennzeichnend, deren Interpretationen in den fünfziger und sechziger Jahren tonangebend gewesen sind und die sich jetzt einer «revisionistischen» Herausforderung gegenübersehen, die so weit geht, «grundlegende Erkenntnisse, die man für völlig gesichert, ja unbestritten gehalten hat, radikal in Frage» zu stellen.[3]

Sowohl «Traditionalisten» als auch «Revisionisten» gehen ausdrücklich davon aus, daß zwischen dem Perspektivwandel in der Geschichtsforschung und der aktuellen politischen Bewußtseinsbildung ein Zusammenhang besteht.[4] Durch den «Historikerstreit» ist wieder einmal deutlich geworden, daß gegensätzliche Interpretationen des Nationalsozialismus Teil der fortlaufenden Neueinschätzung der politischen Identität und politischen Zukunft der Bundesrepublik sind. Heutzutage sind der Historiker und sein Werk öffentliches Eigentum. Damit ist der grundlegende Rahmen abgesteckt und angedeutet, wie sehr die Geschichtskontroverse, die wir im folgenden beurteilen wollen, politisch gefärbt ist.

Zum Nationalsozialismus gibt es eine solche Fülle von Literatur, daß es selbst Fachleuten schwerfällt, den Überblick zu behalten. Und es ist nicht zu übersehen, daß Studentinnen und Studenten, die sich auf die neueste deutsche Geschichte spezialisieren, häufig nicht in der Lage sind, sich die komplexe Literatur zum Nationalsozialismus anzueignen und Interpretationskontroversen zu folgen, die sich zum größten Teil auf den Seiten deutscher wissenschaftlicher Zeitschriften oder in wissenschaftlichen Monographien abspielen. Darum habe ich dieses Buch geschrieben. Es enthält keine Beschreibung der Entwicklung der Geschichtsschreibung – oder, anders ausgedrückt, keine Geschichte der Geschichte des Nationalsozialismus.[5] Es versucht vielmehr, das Wesen einiger zentraler Interpretationsprobleme zu untersuchen, die sich speziell auf den Zeitraum der Diktatur selbst beziehen und mit denen der heutige Historiker konfrontiert ist, sobald er sich mit ihr befaßt.[6]

Die Struktur des Buches ist großteils durch die – ineinandergreifenden und zusammenhängenden – Themen vorgegeben, die den Kontroversen zugrunde liegen. Im nächsten Kapitel sollen die weitreichenden und stark gegensätzlichen Interpretationen des Wesens des Nationalsozialismus analysiert werden: ob er am einleuchtendsten als eine Form des Faschismus, eine Art Totalitarismus oder als ein politisches Phänomen «eigener Art» anzusehen ist. Mit der Faschismusdebatte unmittelbar verbunden ist die hitzige Kontroverse über den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Kapitalismus, vor allem über die Rolle der deutschen Industrie; diese Kontroverse bildet das Thema des übernächsten Kapitels. Als Schlüsselthema hat sich die Frage nach der Interpretation der Stellung, Rolle und Bedeutung Hitlers innerhalb des nationalsozialistischen Herrschaftssystems herauskristallisiert – ein komplexes Problem, das im folgenden in drei verschiedenen Kapiteln zur Machtstruktur des Dritten Reiches und zur Entwicklung der antijüdischen Politik und der Außenpolitik untersucht wird. Nachdem wir uns mit der Regierung des Dritten Reiches beschäftigt haben, gilt unser Augenmerk der Gesellschaft unter der Naziherrschaft: Es soll untersucht werden, in welchem Maße der Nationalsozialismus die deutsche Gesellschaft verändert oder sogar revolutioniert hat, und versucht werden, die komplexe Frage des deutschen Widerstands gegen Hitler zu behandeln. Darauf folgt eine Analyse der wichtigen...

Erscheint lt. Verlag 18.7.2023
Übersetzer Jürgen Peter Krause
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Schlagworte Erklärungsmodelle • Europa • Geschichtsinterpretationen • Hitler • Holocaust • Kontroversen • Nationalsozialismus • Neuausgabe • Widerstand
ISBN-10 3-644-01059-5 / 3644010595
ISBN-13 978-3-644-01059-8 / 9783644010598
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