Die Besiegten (eBook)
480 Seiten
Siedler (Verlag)
978-3-641-15621-3 (ISBN)
11. November 1918: Der Waffenstillstand beendet das Sterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. Dennoch kehrt in weite Teile Europas kein Friede ein. Robert Gerwarth macht das Ausmaß der Konflikte deutlich und zeigt, warum das Schicksal der Besiegten der Schlüssel zum Verständnis des 20. Jahrhunderts ist. Denn die Brutalität des Ersten Weltkriegs ist in der kollektiven Erinnerung Europas fest verankert. Fast völlig vergessen ist hingegen das Leid, das die zahlreichen (Bürger-)Kriege, Vertreibungen, Pogrome und gewaltsamen Auseinandersetzungen nach Ende des Ersten Weltkriegs über weite Teile des Kontinents brachten.
Robert Gerwarth, geboren 1976, hat Geschichte in Berlin studiert und in Oxford promoviert. Nach Stationen an den Universitäten Harvard und Princeton lehrt Gerwarth heute als Professor für Moderne Geschichte am University College in Dublin und ist Gründungsdirektor des dortigen Zentrums für Kriegsstudien, das vom European Research Council und der Guggenheim Stiftung gefördert wird. Er ist Fellow der Royal Historical Society, Mitglied der Royal Irish Academy und Autor zahlreicher Publikationen. Sein Buch »Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler« (2007) wurde mit dem renommierten Fraenkel Prize ausgezeichnet. Bei Siedler erschienen von ihm zuletzt »Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs« (2017) und »Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit« (2019). 2020 erhielt Gerwarth den Reimar Lüst-Preis für internationale Wissenschaftsvermittlung von der Alexander von Humboldt-Stiftung.
AM 9. SEPTEMBER 1922 ENTLUDEN SICH die in einem Jahrzehnt des Krieges aufgepeitschten Emotionen in der Stadt Smyrna. In angespannter Stimmung verfolgte die christliche Mehrheit an diesem Tag den Einzug der türkischen Kavallerie in die einst wohlhabendste und weltoffenste Stadt des Osmanischen Reiches. In Smyrna, wo Muslime, Juden, Armenier und griechisch-orthodoxe Christen über Jahrhunderte mehr oder weniger friedlich zusammengelebt hatten, war nun, nach fast zehn Kriegsjahren, das Verhältnis zwischen den Volksgruppen nachhaltig zerrüttet. Das Osmanische Reich, das in den Balkankriegen der Jahre 1912/13 fast alle seine europäischen Besitzungen eingebüßt hatte und 1914 als Verbündeter Deutschlands in den Ersten Weltkrieg eingetreten war, hatte sich 1918 ein weiteres Mal auf der Verliererseite wiedergefunden. Der arabischen Territorien im Nahen Osten beraubt, sah sich das unterlegene ehemalige Großreich mit seiner gedemütigten muslimisch-türkischen Bevölkerung schon im folgenden Jahr einer neuen Bedrohung gegenüber: Ermutigt vom britischen Premierminister David Lloyd George, landete 1919 ein griechisches Invasionsheer in Smyrna, fest entschlossen, Griechenland und die zumindest zum Teil christlich besiedelten Gebiete in Westanatolien in einem neuen Reich zu vereinen.1
Der folgende dreijährige Krieg richtete sich von Anfang an nicht nur gegen die feindlichen Soldaten. Beide Seiten schreckten vor dem systematischen Einsatz von massiver Gewalt gegen Zivilisten nicht zurück – ein Trend, der sich im Verlauf des Krieges noch verstärken sollte. 1922 gelang es Mustafa Kemal, dem fähigen Führer der türkischen Nationalisten – besser bekannt unter seinem späteren Ehrennamen Atatürk (»Vater der Türken«) –, gegen die mittlerweile tief in Zentralanatolien stehenden gegnerischen Truppen eine erfolgreiche Gegenoffensive einzuleiten. Diesem Angriff hatte die hoffnungslos überdehnte und schlecht befehligte griechische Armee nichts entgegenzusetzen und fiel in sich zusammen. Der übereilte Rückzug der demoralisierten griechischen Truppen war von Plünderungen, Brandschatzungen und Morden an der muslimischen Bevölkerung Westanatoliens begleitet, was unter der christlichen Bevölkerung Smyrnas die durchaus berechtigte Angst vor türkischer Vergeltung auslöste. Irreführende Zusicherungen der griechischen Besatzungsverwaltung und vor allem die Präsenz von nicht weniger als 21 alliierten Kriegsschiffen im Hafen von Smyrna hatten bei Griechen und Armeniern in der Stadt aber Zuversicht aufkommen lassen, dass die westlichen Alliierten – allen voran Großbritannien, das Athen zur Besetzung Smyrnas ermutigt hatte – gewiss einschreiten und die christlichen Einwohner vor der Rache der Muslime schützen würden. Aber sie taten es nicht – und so kam es zu einer furchtbaren Tragödie in dieser einst so blühenden Handelsstadt.
Kaum hatten die türkischen Truppen Smyrna eingenommen, verhafteten Soldaten den orthodoxen Erzbischof Chrysostomos, einen lautstarken Befürworter der griechischen Invasion, und führten ihn dem befehlshabenden Offizier General Nureddin Pascha vor. Dieser überließ den Gefangenen dem aufgebrachten türkischen Mob, der sich vor dem Hauptquartier eingefunden hatte und den Kopf des Metropoliten forderte. Nach dem Augenzeugenbericht eines französischen Matrosen »fiel die Menge mit gellendem Gekreische über Chrysostomos her und schleifte ihn die Straße hinunter bis zu einem Frisörladen, aus dessen Tür Ismael, der jüdische Besitzer, nervös hervorspähte. Jemand stieß den Frisör beiseite, griff sich ein weißes Tuch, band es Chrysostomos um den Hals und rief: ›Verpasst ihm eine Rasur!‹ Sie rissen dem Prälaten den Bart ab, stachen ihm mit Messern die Augen aus und schnitten ihm Ohren, Nase und Hände ab.« Keine Ordnungsmacht setzte dem grausamen Schauspiel ein Ende. Schließlich zerrte man Chrysostomos in eine Seitenstraße und ließ den geschundenen Körper dort in einer Ecke verbluten.2
Kurz nach der Wiedereinnahme Smyrnas durch die kemalistischen Truppen eskalierte die Gewalt gegen christliche Zivilisten. Die Brände in den armenischen Vierteln erfassten bald auch andere Teile der Stadt.
© Alamy
Die Ermordung des orthodoxen Metropoliten von Smyrna war der Auftakt zu einer Gewaltorgie, die an die Plünderung feindlicher Städte in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts erinnerte. Nach Schätzungen wurden im Laufe der folgenden vierzehn Tage bis zu 30000 Griechen und Armenier ermordet und unzählige weitere von marodierenden Soldaten, Milizionären oder Mitgliedern einheimischer Jugendbanden beraubt, verprügelt und vergewaltigt.3 Am späten Nachmittag des 13. September brannten im armenischen Viertel die ersten Häuser. Bis zum nächsten Morgen standen fast sämtliche christlichen Viertel Smyrnas in Flammen. Tausende Männer, Frauen und Kinder flüchteten panisch zum Hafen, weil sie hofften, dieser Hölle auf einem der dort vor Anker liegenden Schiffe entkommen zu können. Von Bord eines der alliierten Kriegsschiffe verfolgte der britische Journalist George Ward Prize das mörderische Schauspiel und suchte die »unbeschreiblichen« Szenen in Worte zu fassen:
Was ich hier vom Deck der Iron Guard aus erblicke, ist eine ununterbrochene, etwa zwei Meilen breite Feuersbrunst, in der zwanzig deutlich erkennbare Vulkane tobender Flammen ihre scharfen Feuerszungen bis zu einer Höhe von hundert Fuß emporspeien … Das Meer glüht kupferrot, und, was am schlimmsten ist, von der dicht gepackten Schar Tausender Flüchtlinge, die sich auf dem schmalen Kai drängen, eingezwängt zwischen dem nahenden Feuertod hinter ihnen und dem tiefen Wasser vor ihnen, dringt ein solch andauerndes, markerschütterndes Geschrei blanken Entsetzens, dass es noch Meilen entfernt zu vernehmen ist.4
Als die türkischen Truppen den Hafen abriegelten, erkannten die Griechen, dass sie in der Falle saßen und die Alliierten weder eingreifen noch versuchen würden, die christliche Bevölkerung übers Meer in Sicherheit zu bringen. Verzweiflung brach aus. Kinder und Greise wurden zu Tode getrampelt, als die panische Masse sich in Bewegung setzte. Viele wählten den Freitod, indem sie sich ins Wasser stürzten. Andere versuchten, schwimmend eines der Schiffe zu erreichen. Dem Vieh, das die Menschen auf der Flucht vor dem Feuer zum Meer getrieben hatten, brach man die Vorderbeine, bevor man es ins Wasser stieß, damit es dem Feind nicht in die Hände fiel – eine Szene, die der damals noch wenig bekannte Auslandskorrespondent des Toronto Star, Ernest Hemingway, in der Kurzgeschichte »Auf dem Quai in Smyrna« schilderte.5 Hemingway war einer der vielen internationalen Reporter, die über den Untergang Smyrnas berichteten. Tagelang beherrschte das Schicksal der Stadt die Schlagzeilen in aller Welt. Der britische Kolonialminister Winston Churchill nannte die Zerstörung Smyrnas in einem Brief an die Premierminister der Dominions gar eine »Höllenorgie«, die »in der Geschichte der Menschheitsverbrechen kaum Parallelen kennt«.6
*
Die Grausamkeiten, die an den christlichen Bewohnern Smyrnas verübt wurden, und die vorausgegangenen Massaker an den muslimischen Türken belegen eindrücklich, dass auf den Ersten Weltkrieg nicht umgehend eine Zeit des Friedens folgte. So einzigartig, wie Churchill behauptet hat, waren die Gräueltaten von Smyrna keineswegs. In den häufig irreführend als Teil der »Zwischenkriegszeit« bezeichneten Jahren von 1918 bis 1923 waren erschütternde Gewalttaten wie jene in Westanatolien durchaus keine Seltenheit. Eine sogenannte Zwischenkriegszeit, die mit dem Waffenstillstand am 11. November 1918 begann und mit Hitlers Angriff auf Polen am 1. September 1939 endete und somit klar begrenzt war, hat es in Europa nur in sehr wenigen Staaten gegeben. Diese Periodisierung ist im Grunde nur sinnvoll für die primären Siegerstaaten des Ersten Weltkriegs, also für Großbritannien – sieht man vom irischen Unabhängigkeitskrieg einmal ab – und für Frankreich. In diesen Staaten begann mit dem Ende der Kampfhandlungen an der Westfront tatsächlich die Nachkriegszeit. Für all jene aber, die in Riga, Kiew, Smyrna und anderen Orten Ost-, Mittel- und Südosteuropas lebten, brachten die Jahre 1918/19 keinen Frieden, sondern ein Kontinuum der Gewalt. »Der Weltkrieg endete formal mit dem Abschluss des Waffenstillstandsvertrages«, erklärte der russische Philosoph und Universalgelehrte Pjotr Struve. Aber was dieser zeitgenössische Intellektuelle und einstige Marxist, der während des blutigen Bürgerkriegs in seinem Land Anhänger der Weißen Bewegung war, wahrnahm, war etwas ganz anderes: »Tatsächlich ist alles, was wir seither erlebt haben und noch immer erleben, eine Fortsetzung des Weltkriegs.«7
Struve registrierte nach 1918 eine allgegenwärtige Gewalt in Europa. Streitkräfte unterschiedlicher Größe und politischer Ausrichtung prallten an vielen Stellen Ost- und Mitteleuropas aufeinander, neue Regierungen kamen und gingen, und fast immer floss dabei viel Blut. Allein zwischen 1917 und 1920 gab es in Europa nicht weniger als 27 gewaltsame Regimewechsel, oftmals begleitet von schwelenden oder offenen Bürgerkriegen.8 Am dramatischsten war die Lage in Russland, wo Lenins bolschewistischer Putsch im Jahr 1917 in einen Bürgerkrieg von historisch nie dagewesenen Ausmaßen mündete, der über drei Millionen Menschen das Leben kostete.
Aber selbst in Staaten, in denen die Gewalt weit weniger offen zutage trat, teilten viele Zeitgenossen Struves Ansicht, dass das Ende des Weltkriegs...
Erscheint lt. Verlag | 23.1.2017 |
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Übersetzer | Alexander Weber |
Zusatzinfo | mit Abb. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Vanquished. Europe and the Aftermath of the Great War |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | Bürgerkrieg • eBooks • Erster Weltkrieg • Ethnische Säuberung • Faschismus • Geschichte • Grenzverschiebung • Kommunismus • Oktoberrevolution • Osteuropa • Russische Revolution • Spanische Grippe • Versailler Vertrag • Zwischenkriegszeit |
ISBN-10 | 3-641-15621-1 / 3641156211 |
ISBN-13 | 978-3-641-15621-3 / 9783641156213 |
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