Muslimisch, männlich, desintegriert (eBook)

Was bei der Erziehung muslimischer Jungen schief läuft

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2162-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Muslimisch, männlich, desintegriert -  Ahmet Toprak
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Jungen aus türkischen und arabischen Familien brechen öfter die Schule ab, werden häufiger arbeitslos und gewalttätig. Zudem sind sie oft anfällig für religiöse oder nationalistische Radikalisierung. Ist das alles mit dem Bildungsniveau der Eltern und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu erklären? Dem Erziehungswissenschaftler Ahmet Toprak zufolge gründet das Problem der neuen Bildungsverlierer nicht nur in einer verfehlten Integrationspolitik. Ausgehend von seiner Forschung, seinen Erfahrungen als Sozialarbeiter und seiner eigenen Biographie belegt er, dass der gesellschaftliche Misserfolg der Jungen in erster Linie an der Erziehung im Elternhaus liegt. Analytisch stark und unterstützt mit Fallbeispielen zeigt Toprak die Gründe und macht unmissverständlich klar, was sich ändern muss, damit Integration funktionieren kann.

Ahmet Toprak, geboren 1970, kam mit zehn Jahren aus einem zentralanatolischen Dorf zu seinen Eltern nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss ging er zurück in die Türkei, machte Abitur und studierte ein Jahr lang Anglistik. 1991 setzte er sein Studium in Deutschland fort und wechselte schließlich zur Pädagogik. Nach dem Diplom 1997 arbeitete er als Anti-Gewalt-Trainer mit mehrfach straffälligen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und promovierte parallel. Seit 2007 ist er Professor für Erziehungswissenschaft an der FH Dortmund.

Ahmet Toprak, * 1970, kam mit zehn Jahren aus einem zentralanatolischen Dorf zu seinen Eltern nach Deutschland. Nach dem Hauptschulabschluss ging er zurück in die Türkei, machte Abitur und studierte ein Jahr lang Anglistik. 1991 setzte er sein Studium in Deutschland fort und wechselte schließlich zur Pädagogik. Nach dem Diplom 1997 arbeitete er als Anti-Gewalt-Trainer mit mehrfach straffälligen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und promovierte parallel. Seit 2007 ist er Professor für Erziehungswissenschaft an der FH Dortmund.

II.
Integrations- und Erziehungsfehler: Wie der Alltag die Jungen ­überfordert


Was ist Integration? Zu den vier Ebenen der Integration


Um öffentlich und auf politischer Ebene über Integrationsproblematik und -fehler reden zu können, müssen wir zunächst die Einwanderungsgeschichte der Bundesrepublik reflektieren. Im ersten Kapitel habe ich kurz erwähnt, dass Deutschland in den 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre ausschließlich Arbeitskräfte suchte, die für einen begrenzten Zeitraum Tätigkeiten in Industrie und Bergbau ausüben sollten, um danach in ihre Heimatländer zurückzukehren. Diese Migration unterscheidet sich grundlegend von der Migration von heute.

Damals haben die deutschen Behörden bei der Zuwanderung weder auf Bildung noch auf Sprachkenntnisse geachtet. Die Arbeitskräfte sollten vielmehr über körperliche Fitness und langjährige Erfahrung in praktischen Tätigkeiten verfügen. Da waren höhere Bildungsabschlüsse eher von Nachteil. Die Zugewanderten wiederum verfolgten in erster Linie das Ziel, ihre ökonomische Lage zu verbessern, um später finanziell abgesichert in ihr Heimatland zurückzukehren. Die Erwartungen beider Seiten – die der deutschen Wirtschaft und Politik sowie die der sogenannten Gastarbeiter – an die Zuwanderung wurden erfüllt. Hierfür war es weder erforderlich, sich kennenzulernen, noch sich anzupassen. Von Integration hat niemand gesprochen. Dieser Begriff war weitestgehend unbekannt und eher ein Randthema unter Sozialwissenschaftlern. Vor allem Arbeiter aus der Türkei waren bei den Arbeitgebern sehr beliebt, weil sie sich nicht gewerkschaftlich organisierten. Nach dem sogenannten Anwerbestopp von 1973 wurde schließlich deutlich, dass die Menschen sesshaft wurden und hierblieben. Trotzdem hat es bis Ende der 1990er-Jahre gedauert, bis sich in der Politik die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Erst zwanzig Jahre später, im Jahr 2018, hat sich Deutschland zu einem Einwanderungsgesetz durchgerungen.

Das entscheidende Problem, dem man sich heute stellen muss, ist also viel weniger die Einwanderungspolitik, sondern eher, wie wir mit bereits Eingewanderten umgehen sollen. Wie können Familien, nachdem sie teilweise schon Jahrzehnte und in mehreren Generationen in Deutschland leben, nachträglich integriert werden?

Das ist keine leicht zu beantwortende Frage, denn alles, was man von Staaten mit einer erfolgreichen Integrationspolitik lernen kann, greift gleich zu Beginn der Einwanderung. Beispielsweise haben die skandinavischen Staaten die Einwanderung und später auch die Einbürgerung mit hohen Anforderungen verknüpft. Sie verlangen ein bestimmtes Bildungsniveau, gute Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und ein gewisses Einkommen bzw. Vermögen. Damit ist automatisch gewährleistet, dass die Menschen, aufgrund der gestellten Bedingungen im Vorfeld, Einwanderung anders angehen und sich darauf vorbereiten und einstellen. Diese Länder legen außerdem großen Wert darauf, dass gleich die erste Einwanderergeneration gefördert wird. Solche präventiven Maßnahmen könnten und sollten auch in Deutschland eingeführt werden, wie zum Beispiel Deutsch- und Integrationskurse, Anerkennung der beruflichen Ausbildung, Anerkennung der Sprache und Kultur als Ressource, sicherer Aufenthaltsstatus oder zügige Familienzusammenführung. Die Debatte um die Integration der Geflüchteten kann die Weichen für solche Programme stellen, allerdings nur, wenn sie unter realistischen Vorzeichen geführt wird. Beispielsweise wurde in der Debatte um Geflüchtete schon nach einem Jahr über nicht gelungene Integration gesprochen. Innerhalb eines Jahres kann aber keine Integration stattfinden. Dieser Prozess dauert in einer komplett neuen Umgebung durchschnittlich fünf bis zehn Jahre.

Mit einer veränderten und modernisierten Einwanderungspolitik können wir allerdings nicht die Erwartung verknüpfen, dass sich dadurch automatisch auch die mittlerweile in Deutschland etablierten Eingewanderten und teilweise auch Eingebürgerten nachträglich integrieren. Politische Entscheidungen wirken – wie wir etwa bei den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 beobachten konnten – auch noch Jahrzehnte später nach. Die klassischen Einwanderungsländer Kanada, Australien, skandinavische Länder etc. sind bei der Integration der Migrantinnen und Migranten anders in diese Prozesse hineingegangen. Weil diese Länder andere Vorbedingungen (Sprachkenntnisse oder Berufsausbildung) an die Zuwanderer stellten, haben sie eine Situation, wie sie sich in Deutschland heute darstellt, gar nicht erst aufkommen lassen. Die Verunsicherung hierzulande im Umgang mit Migration und Geflüchteten ist auch darauf zurückzuführen, dass sich die deutsche Politik und Gesellschaft nicht auf Best-Practice-Beispiele für die hier spezifischen Herausforderungen berufen können. Aus dem Gefühl der Hilflosigkeit wird daher gern die erfolgreiche Assimilation der aus Osteuropa Zugewanderten angeführt. Doch hierbei handelt sich zum einen um Nachbarländer und damit um eine kulturnahe Einwanderung. Außerdem war damals die wirtschaftliche und rechtliche Lage vollkommen anders. Die Strukturen der Wirtschaft haben sich innerhalb weniger Jahrzehnte fundamental gewandelt: Durch Automatisierung, Rationalisierung und Globalisierung finden niedrig qualifizierte Arbeitskräfte kaum noch Anschluss auf dem Arbeitsmarkt. Das wird heute vor allem die niedrig qualifizierten Geflüchteten hart treffen.

Was aber bedeutet in diesem Zusammenhang der hoch umstrittene und emotional aufgeladene Begriff Integration? Integration lässt sich nach dem Soziologen Hartmut Esser in vier Teilbereiche untergliedern und erweist sich als langwieriger und komplexer Prozess.

INFOBOX

Integration

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge definiert Integration folgendermaßen: »Integration ist ein langfristiger Prozess. Sein Ziel ist es, alle Menschen, die dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland leben, in die Gesellschaft einzubeziehen. Zugewanderten soll eine um­fassende und gleichberechtigte Teilhabe in allen ge­sellschaftlichen Bereichen ermöglicht werden. Sie stehen dafür in der Pflicht, Deutsch zu lernen sowie die Verfassung und die Gesetze zu kennen, zu respektieren und zu befolgen.« (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge)

Kulturelle Integration (Sprache und soziale Werte)

Strukturelle Integration (Arbeitsmarktintegration und Bildungsbeteiligung)

Soziale Integration (soziale Beziehungen)

Emotionale Integration (Identifikation der Individuen mit dem Aufnahmeland)

  1. Kulturelle Integration: Sprache und soziale Werte
    Grundlegend für eine erfolgreiche Integration und Berufslaufbahn sind vor allem gute Sprachkompetenzen. Die Sprachkompetenzen der bereits länger hier lebenden muslimischen Familien sind in beiden Sprachen, also sowohl in der Mutter- bzw. Herkunftssprache als auch im Deutschen, häufig eingeschränkt. Selbst in der dritten Generation sind die Sprachkenntnisse noch erstaunlich gering. Die Anwendung der Muttersprache der Eltern ist vom Stil und Wortschatz her oft milieuspezifisch und »überaltert«, sodass die Familien und insbesondere die Nachkommen in ihrem Herkunftsland sprachlich auffallen. Die Muttersprache hat sich in Deutschland von der Sprache des Herkunftslandes abgekoppelt und sich nicht im selben Maße weiterentwickelt. Zum einen, weil im Rahmen der Arbeitsmigration teilweise formal weniger gebildete Menschen einwanderten, die einen milieuspezifischen Dialekt sprachen, zum anderen, weil sprachliche Entwicklungen nicht den Weg in die neue Heimat gefunden haben. Das gilt für die verschiedenen Ausprägungen der arabischen Sprache, wie sie von Libanesen, Syrern, Irakern, Ägyptern, Tunesiern, Marokkanern usw. gesprochen wird, genauso wie für das Türkische.
    Dem interkulturellen Bildungsforscher Hans-Joachim Roth zufolge fällt das Erlernen der deutschen Sprache besonders schwer, wenn man sie nicht früh als zweite Muttersprache erlernt oder wenn man die eigene Muttersprache – also Türkisch oder Arabisch – nicht gut beherrscht. Im Umkehrschluss heißt das, dass Migranten, die ihre Muttersprache gut beherrschen, auch schneller eine andere Sprache – in diesem Falle Deutsch – erlernen können. Zusätzlich beeinflusst wird der Grad der Sprachkompetenz durch die soziale Umgebung. Segregation von Migranten in bestimmten Stadtteilen und Separation von Geflüchteten durch Sammelunterkünfte verstärken sprachliche
    Defizite weiter. Die Tatsache, dass der Alltag im jeweiligen Stadtteil oder in der jeweiligen Unterkunft mit mäßigen Deutschkenntnissen problemlos bewältigt werden kann, senkt die Motivation, die deutschen Sprachkompetenzen zu verbessern.
    Gerade bei Jugendlichen besteht zudem ein Zusammenhang zwischen Sprache und sozialem Verhalten. Durch sprachliche Schwächen ist so mancher Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber oft genug auch ohne, häufig nicht in der Lage, Konflikte kommunikativ auszutragen. Laut den Kriminologen Dieter Baier und Christian Pfeiffer entwickeln sich die meisten Konflikte aufgrund von Missverständnissen, Missdeutungen und fehlender kommunikativer Fähigkeiten.
    Eines der entscheidenden Merkmale und der Schlüssel zur kulturellen...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Kinder- / Jugendbuch
Geisteswissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie
Geisteswissenschaften Psychologie Persönlichkeitsstörungen
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Islam
Recht / Steuern Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bildungsverlierer • Einwanderungsland • Erziehung • Integration • Integrationspolitik • Jungen Gewalt • Muslime Eltern • Muslime Erziehung • Muslime Gewalt • Muslimische Familien • Pädagogik
ISBN-10 3-8437-2162-9 / 3843721629
ISBN-13 978-3-8437-2162-2 / 9783843721622
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