Gebärende unter Beobachtung - Lucia Aschauer

Gebärende unter Beobachtung

Die Etablierung der männlichen Geburtshilfe in Frankreich (1750-1830)

(Autor)

Buch | Softcover
344 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-50955-6 (ISBN)
45,00 inkl. MwSt
Zwischen 1750 und 1830 vollzog sich in Frankreich ein medizinischer Paradigmenwechsel: War die Geburtshilfe bis dato in weiblicher Hand, machten sich nun männliche Ärzte und Chirurgen mit aufklärerischem Eifer an die Erschließung des schwangeren und gebärenden Frauenkörpers. Ihr Ziel war es, sich als neue wissenschaftliche Autorität in der Geburtshilfe zu etablieren - zum Nachteil der Hebammen und ihres Erfahrungswissens, die allmählich verdrängt wurden. Anhand von circa 300 Fallberichten aus medizinischen Zeitschriften eröffnet Lucia Aschauer neue Perspektiven auf die Geschichte von Schwangerschaft und Geburt und legt die Entstehungsbedingungen einer bis heute fortwirkenden geburtshilflichen Wissensordnung offen.

Lucia Aschauer promovierte an der Universität Bochum; sie arbeitet derzeit an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) und am Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA) in Paris.

Inhalt
1. Einleitung 9
1.1 Der Fall Siccaud.
Konstitution des Untersuchungsgegenstandes 9
1.2 Fall, Fallwissen, Fallgeschichte.
Forschungsstand und Begrifflichkeiten 16
1.3 Quellen und Untersuchungszeitraum 27
1.4 Methode und Aufbau 35
Teil I. Die geburtshilfliche observation als »epistemic genre«. Theorie und Praxis einer issenschaftlichen Gattung
2. Wissenschaftliche Beobachtung im 18. Jahrhundert.
Der epistemische Kontext der geburtshilflichen observation 49
2.1 Der ideale Beobachter 52
2.2 Beobachtungswissen und medizinische Doktrin 57
2.3 Theorie und Praxis kollektiver Beobachtung 60
2.4 Konkurrierende epistemische Konzepte.
»Observation« und »expérience« 64
2.5 Die Beobachtungsliteratur als Mittel der Profilierung? 66
3. Gattungskonventionen, Gattungsbewusstsein und Gattungswissen.
Die observation zwischen Poetologie und geburtshilflicher Praxis 70
3.1 Theoretische Anforderungen. Die Poetiken der observation 71
3.2 Die geburtshilflichen observations aus dem Journal de médecine. Autorschaft und Gattungswissen 81
4. Spurensuche. Elemente einer vergleichenden Gattungsgeschichte der geburtshiflichen observation 94
4.1 Hybridisierungen. Die historischen Vorläufer der observation 95
4.2 Wechselseitige Beeinflussungen.
Zeitgenössische Gattungen und ihr Verhältnis zur observation 101
5. Epistemische Funktionen. Die geburtshilfliche observation in der wissenschaftlichen Kommunikation 116
5.1 Wirkungsorte und Funktionen 129
5.2 Die Debatte über die Schambeinsektion.
Souchot (1777) vs. Vepres (1778) 141
5.3 Zum paradigmatischen Charakter
der geburtshilflichen observation 153
Teil II. Die geburtshilfliche observation als »Wirklichkeitserzählung«. Die narrative Etablierung einer neuen geburtshilflichen Wissensordnung
6. Zur Narrativik der geburtshilflichen observation 159
6.1 Grundzüge und Herausforderungen einer Narratologie des Faktualen 161
6.2 Der epistemische Pakt oder die Herstellung epistemischer Autorität in der observation 166
6.3 Die Erzählstruktur der geburtshilflichen observation 172
6.4 Narrative Evidenz und epistemische Leerstelle 188
6.5 Der Wandel geburtshilflichen Erzählens (1750–1830) 199
7. Der männliche Geburtshelfer.
Vom lüsternen Peiniger zum heroischen Retter 205
7.1 Das Schreckensbild des grausamen Accoucheurs am Beispiel von de Sades La nouvelle Justine (1799) 206
7.2 Das neue Selbstverständnis der männlichen Geburtshelfer.
Zwei narrative Umdeutungsstrategien 212
7.3 Die Formulierung eines Identifikationsangebots 220
8. Die Hebammenfigur.
Von der diskreditierten Konkurrentin zur gefügigen Gehilfin 224
8.1 Aggressive Diskreditierung 226
8.2 Harmonische Unterordnung 236
9. Anschreiben gegen das weibliche Erfahrungswissen.
Die Herausbildung einer geburtshilflichen Expertenstimme 241
9.1 Von der frühmodernen Vielstimmigkeit 244
9.2 Zur Einstimmigkeit der (Accouchier-)Klinik 252
10. Schluss 264
Quellen und Literatur 272
Anhang 296
Dank 343

»Das Buch überzeugt durch seine kluge Analyse der Texte.« Jürgen Schlumbohm, H-Soz-Kult, 27.04.2021

»Lucia Aschauer [liefert] mit ihrer Studie nicht nur einen fundierten Überblick über die bestehenden Ansätze auf dem stetig wachsenden Feld der Fallgeschichtsforschung, sondern bereichert dieselbe mit einem innovativen und akribisch recherchierten Beitrag. Mit ihrer Analyse der Narratologie des (geburtshilflichen) Falls wendet sich die Historikerin einer neuen, durchaus erkenntnisreichen Facette der historischen Fallgeschichtsforschung zu, die nicht nur im spezifischen Kontext der Geburtshilfe wertvolleImpulse liefert, sondernauch darüber hinausAnwendungin der Wissenschafts-, Kultur- und Medizingeschichte finden sollte.« Marina Hilber, Zeitschrift für historische Forschung, 48 (2021) 1

»Atemberaubend gut!« Eva Hallama, WeiberDiwan, 25.07.2022

1. Einleitung 1.1 Der Fall Siccaud. Konstitution des Untersuchungsgegenstandes Im Herbst des Jahres 1754 tritt die 37-jährige Demoiselle Siccaud in den Stand der Ehe. Kurze Zeit darauf häufen sich die Zeichen einer beginnenden Schwangerschaft: Unwohlsein, Übelkeit und Erbrechen, Veränderungen in der Farbe und Form der Brüste sowie eine unbändige Lust auf bestimmte Nahrungsmittel. Rasch kommen die untrüglichen Bewegungen des im Mutterleib heranwachsenden Kindes dazu. Der hinzugerufene Arzt Monsieur Deydier bestätigt bei seiner Ankunft im Hause der Schwangeren die Selbstdiagnose seiner Patientin. Lediglich die fortdauernde Monatsblutung der Demoiselle bereitet ihm Sorgen, die sich bald als begründet erweisen: Im vierten Schwangerschaftsmonat erleidet die Patientin eine Fehlgeburt und statt eines Kindes wird dem Arzt ein blutiges, heuschreckenartiges Etwas vorgelegt. Auf den Schrecken dieser unheilvollen Niederkunft folgt wenige Zeit später eine zweite Schwangerschaft. Zunächst deutet alles auf einen unproblematischen Verlauf hin, doch erneut lässt das Unglück nicht lange auf sich warten. Die erwartete Geburt bleibt aus und die Demoiselle leidet monatelang unter schmerzhafter Wassersucht, die sie zur Bettruhe zwingt. Nahezu zwei Jahre vergehen, bevor sie im Februar des Jahres 1757 schließlich mithilfe ihrer Hebamme ein totes Kind zur Welt bringt. Noch im selben Jahr wird die Geschichte der Demoiselle Siccaud und ihrer kuriosen Schwangerschaften in der Rubrik »Observations de Médecine« der Zeitschrift Recueil périodique d’observations de médecine, de chirurgie et de pharmacie unter der Überschrift »Histoire d’une fausse-couche singulière, suivie peu de tems après d’une grossesse extraordinaire« einem medizinischen Fachpublikum präsentiert. Die erste Konfrontation der Leserin mit dem Fall Siccaud löst heute Befremden aus. Aus der ärztlichen Schilderung spricht eine beunruhigende Unkenntnis der weiblichen Physiologie, Aderlass und Purgieren werden als wertvolle Therapiemaßnahmen bei Schwangerschaftskomplikationen gepriesen und die Demoiselle erfährt zu keinem Zeitpunkt eine Linderung ihrer Schmerzen. Mit anderen Worten, dieser Fall von Monstergeburt und nicht enden wollender Gravidität scheint einem obskuren, geradezu vorwissenschaftlichen Zeitalter zu entspringen. Um Sinn aus dieser auf den ersten Blick unsinnigen Erzählung zu schaffen, führt der Weg – so die methodische Grundvoraussetzung vorliegender Untersuchung – über die Historisierung, die mit Glenn Most als »a specific mode of cognitive activity which defines a body of knowledge […] by its temporal structure« definiert werden kann. Im Fall der Demoiselle Siccaud bedarf das Befremdliche, seien es medizinische Begriffe, ärztliche Argumentationsweisen oder geburtshilfliche Praktiken, einer Rückführung in seine ursprünglichen epistemischen Welten. Gleichzeitig gilt es, irreführenden retrospektiven Diagnosen vorzubeugen, indem Vorannahmen, die auf heutigen medizinischen Kenntnissen gründen, kenntlich gemacht werden. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Demoiselle Siccaud erfordert daher sowohl Kontextualisierung, das Vertrautmachen des Fremden, als auch Entfamiliarisierung, das Fremdmachen des Vertrauten. Über die Historisierung von konkreten medizinischen Begriffen und Praktiken hinaus muss die Analyse des Falls Siccaud eine tiefergreifende Historisierung von Körperlichkeit leisten. Wird der Demoiselle gleich im ersten Satz des ärztlichen Berichts ein »tempérament sanguin, vif & bileux« attestiert, deutet dies auf den nachhaltigen Erfolg humoralpathologischer Erklärungsmuster hin, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Diskurse zugleich prägten. Spätestens die detailreiche Beschreibung des toten Fötus, den der Arzt einer gewissenhaften Sektion unterzieht, zeugt jedoch von dem Herannahen eines neuen, anatomisch-physiologischen Körperbildes. Auch die Darstellung der monströsen Fehlgeburt der Demoiselle ist nicht frei von Ambivalenz. Wird die Imagination der Leserin zunächst angeregt durch die Erwähnung eines »corps solide de la figure d’une sauterelle privée de ses ailes« , bricht der Verfasser des Berichts schon im nächsten Halbsatz mit der Heraufbeschwörung des Kuriositätendiskurses und stellt in aufklärerischer Manier fest: »[…] je ne doute point que cet objet, vu par des gens crédules, n’eût donné lieu à un de ces contes avec lesquels nous savons qu’on abuse trop souvent de la simplicité du peuple […].« Wie ist dieser erzählerische Bruch zu deuten? Der mäandernde Verlauf der zweiten Schwangerschaft der Demoiselle stellt die Leserin des ärztlichen Berichts vor ein weiteres Rätsel. Bereits die einleitende Schwangerschaftsdiagnose erfolgt in zweideutiger Rede: »Environ cinq mois après, elle éprouva les maux de cœur, les nausées, les vomis¬semens, les envies pour certains alimens […]. Elle se crut grosse […].« Dass der Verfasser des Berichts die Eindrücke der Demoiselle zitiert, statt seine eigene Diagnose zu erstellen, zeugt von seiner starken Abhängigkeit gegenüber dem Erfahrungswissen seiner Patientin, aber auch von einer Distanziertheit, die im Laufe der Fallerzählung in offenes Misstrauen umschlägt. Als die zweite Schwangerschaft seiner Patientin kein Ende nehmen will, formuliert Monsieur Deydier seinen Argwohn explizit: »Je ne cessois […] de l’assurer positivement [dans l’idée] d’une grossesse d’enfant […]; j’avoue que j’en avais dès long-tems une tout autre […].« Was verbirgt sich hinter diesen zähen Verhandlungen zwischen dem Arzt und der Demoiselle über die korrekte Schwangerschaftsdiagnose? Eine weitere Figur sticht schließlich bei der Lektüre des Falls Siccaud hervor: die Hebamme, die in der geburtshilflichen Handlung eine tragende Rolle spielt. Sie bleibt stets an der Seite der Demoiselle, betreut sie während ihrer Schwangerschaften, führt die Entbindungen durch und wirft somit die Frage auf: Wer ist in diesem geburtshilflichen Bericht eigentlich der wahre Geburtshelfer? Auch in dieser Hinsicht scheint eine starke Informationsabhängigkeit des Arztes gegenüber einem durch die Hebammenfigur verkörperten weiblichen Erfahrungswissen zu bestehen. Da dem Mediziner bei der Untersuchung seiner Patientin nur das äußere Abtasten des schwangeren Bauchs gestattet ist, muss er sich auf die Beobachtungen und Sinneseindrücke der erfahrenen Hebamme stützen: »[…] la sage-femme ayant poussé par mon ordre ses recherches plus avant, elle me rapporta qu’elle avoit touché dans la matrice quelque chose de dur et d’arrondi, qu’il lui avoit paru éprouver la même sensation, que seroit sur ses doigts une petite portion de poitrine d’agneau […].« Das Können der Hebamme wird zwar anerkannt, die Betonung der rein praktischen Beschaffenheit ihres Wissens durch das Wortfeld des Handwerks (»habile«, »expérience«, »emploi«) legt aber zugleich nahe, ihre Expertise als eine den gelehrten Kenntnissen des ärztlichen Erzählers untergeordnete Wissensform zu begreifen. Wie ist diese zweideutige Charakterisierung der Hebamme einzuordnen? Die im Rahmen dieser kurzen Vorstellung des Falls Siccaud lediglich angerissenen Fragestellungen genügen, um die Relevanz ärztlicher Fallberichte für die Medizin- und Kulturgeschichte der Geburt zu belegen. Als Zeugnisse vergangener geburtshilflicher Praktiken geben sie Auskunft über eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Sie berichten von der langsamen Ablösung humoralpathologischer Erklärungsmuster durch anatomisch-physiologische Modelle und von der Herausforderung weiblich tradierten Erfahrungswissens durch neue geburtshilfliche Instrumente, die ins Körperinnere vordrangen und die Grenzen des Wahrnehmbaren verschoben. Auch in die schwer zugänglichen Bereiche der histoire du sensible, beispielsweise in die Geschichte des Schmerzes oder die Geschichte der Mutterliebe, bieten die ärztlichen Erzählungen Einblicke. Vor allem aber zeugen sie von Machtkämpfen zwischen rivalisierenden geburtshilflichen Akteur*innen. War die Geburtshilfe bis ins 18. Jahrhundert noch weitgehend weiblich kontrolliert, machten sich die Ärzte und Chirurgen zwischen 1750 und 1830 mit aufklärerischem Eifer an die wissenschaftliche Erschließung des schwangeren und gebärenden Frauenkörpers. Den männlichen Geburtshelfern gelang es, sich als neue Autorität zu behaupten und die Geburtshilfe als eine Spezialdisziplin innerhalb der sich allmählich professionalisierenden und institutionalisierenden Medizin zu etablieren. Die Hebammen wurden in diesem Prozess zu reinen Erfüllungsgehilfinnen der männlichen Geburtshelfer degradiert und so mit nachhaltiger Wirkung aus dem Machtzentrum der Geburtshilfe verdrängt. Die vorliegende Untersuchung schließt an die Historiografie der Geburtshilfe an, möchte jedoch einen bisher unberücksichtigten Aspekt in den Blick nehmen. Im Fokus der Studie steht die Frage nach der Rolle von spezifischen Verschriftungen in der Geschichte dieses geburtshilflichen Umbruchs. Welchen Beitrag leisteten Texte wie der Fall Siccaud zum dem hier skizzierten Übergang von einer weiblich dominierten, schwach institutionalisierten zu einer männlich dominierten, wissenschaftlichen Geburtshilfe? Eine erste Spur zur Beantwortung dieser Frage ergibt sich aus der näheren Betrachtung des Veröffentlichungskontexts. Der Fall Siccaud erschien in der Juniausgabe 1757 des Recueil périodique d’observations de médecine, de chirurgie et de pharmacie. Zweck der neu gegründeten Fachzeitschrift war, wie ihr Titel bereits andeutet, die Veröffentlichung von medizinischen observations, das heißt von kurzen verschrifteten Beobachtungen individueller Krankheitsverläufe, die den Herausgebern des Recueil périodique d’observations von einem ganz Frankreich umspannenden Korrespondentennetzwerk ärztlicher Autoren zugesandt wurden. Die Bezeichnung observation kennzeichnete im Untersuchungszeitraum dieser Studie demnach eine standardisierte Darstellungsform, deren Regeln sowohl den Autoren der einzelnen observations als auch den Herausgebern der Fachzeitschrift bekannt war. Doch wofür genau stand die Bezeichnung observation zwischen 1750 und 1830? Welchen Traditionen entstammten ihre Gattungskonventionen, wie wurden diese kommuniziert und weitergegeben? Ziel vorliegender Untersuchung ist es zunächst, die wissenschaftlichen Gattung der observation genauer zu konturieren. Über die morphologische Dimension hinaus gilt es zu erforschen, welche epistemischen und kommunikativen Funktionen die einzelne observation, aber auch die Fachzeitschrift insgesamt als Sammlung von observations innerhalb des wissenschaftlichen Systems erfüllten. Auf den Fall Siccaud bezogen, lässt sich konkret fragen: Handelt es sich bei den Schwangerschaften und Geburten der Demoiselle um einen kuriosen Einzelfall? Oder sind die in dieser observation geschilderten Komplikationen typisch für die Geburtshilfe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts? Der ärztliche Beobachter schildert in seinem Bericht zwar den Verlauf einer individuellen Krankengeschichte, verknüpft diese aber implizit und explizit mit medizinischer Doktrin, sei es, um diese zu bestätigen oder zu revidieren. Welchen Stellenwert hat diese Spannung zwischen pathologischer Individualität und übergeordnetem Krankheitsbild, Praxis und Theorie, Einzelfall und Regel für die Gattung der observation? Durch die Veröffentlichung des Falls Siccaud im Recueil périodique d’observations und die somit vollzogene Einbettung in eine größere Sammlung von observations verliert die Erzählung an Einzigartigkeit, sie wird vergleichbar und messbar. Die Auswahl der einzelnen observation und ihr spezifischer Ort innerhalb der Sammlung sind dabei keinesfalls zufällig. Gefragt werden muss also immer: Wieso wurde ausgerechnet dieser Fall von den Herausgebern der Zeitschrift für veröffentlichungswürdig befunden? Und um noch einen Schritt weiter zurückzudenken: Wieso hat der Verfasser der observation entschieden, ausgerechnet diese Schwangerschaften und Geburten schriftlich festzuhalten und somit die Voraussetzung für den Fall Siccaud überhaupt erst zu schaffen? Hinweise auf den Verfasser des Berichts befinden sich im Untertitel des Beitrags: »[…] par M. Deydier, Ecuyer, Docteur en Médecine de l’Université de Montpellier, & Médecin de l’Hôpital de Nismes« . Aus diesen spärlichen Informationen kann zunächst geschlossen werden, dass es sich hier um einen Mann von Rang und Namen handelte. Mit dem Adelstitel »Ecuyer« war Monsieur Deydier ein standesgemäßer Arzt für die Demoiselle, seine Patientin. Welche Rolle spielt der paratextuelle Verweis auf den sozialen Stand des Verfassers für die Funktionsweise der Gattung? Der Paratext selbst wirft wiederum neue Fragen zur Veröffentlichungspraxis der observation auf: Wie trugen die Herausgeber des Recueil périodique d’observations durch das Verfassen eines Titels, aber auch durch die Platzierung der observation in einer bestimmten Rubrik, ja vielleicht sogar durch die Auswahl weiterer im selben Heft veröffentlichten observations zur Fallwerdung der einzelnen observation bei? An dieser Stelle soll die kurze Vorstellung des Falls Siccaud beendet werden, um die durch die Lektüre aufgeworfenen und hier zunächst assoziativ formulierten Fragen zu einem vorläufigen, im Lauf der Studie weiter zu schärfenden Forschungsziel zu bündeln: Das Anliegen dieser Untersuchung ist es, über eine genaue Bestimmung der Textsorte observation, ihrer Schreibkonventionen, ihrer epistemischen Funktionen und ihres Veröffentlichungskontexts zu einem besseren Verständnis des Beitrags von geburtshilflichen observations zur Etablierung der wissenschaftlichen Geburtshilfe in Frankreich zwischen 1750 und 1830 zu gelangen. 1.2 Fall, Fallwissen, Fallgeschichte. Forschungsstand und Begrifflichkeiten Vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zu einem interdisziplinären Forschungsfeld, das die epochen- und fächerübergreifende Bedeutung von fallförmiger Wissensproduktion und Wissenszirkulation untersucht. Geboren aus einer Reflexion der Geistes- und Sozialwissenschaften über ihre eigenen Forschungsinstrumente und der Weiterführung methodischer Impulse aus der microstoria (Carlo Ginzburg) und der metahistory (Hayden White), hat das Thema thinking in cases seit der Jahrtausendwende international Konjunktur. In der deutschsprachigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung gab Nicolas Pethes mit seinem 2005 veröffentlichten Aufsatz »Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung zwischen Recht, Medizin und Literatur« den Anstoß für eine intensive Auseinandersetzung mit Fall, Fallwissen und Fallgeschichte. Anlässlich der noch im selben Jahr an der Universität Frankfurt am Main ausgerichteten Tagung Fallstudien. Theorie – Geschichte – Methode vereinten Johannes Süßmann, Susanne Scholz und Gisela Engel Forschende aus den unterschiedlichsten Disziplinen, um in der Konfrontation der verschiedenen Forschungstraditionen, Quellen und Methoden herauszufinden, »was Fallstudien eigentlich sind, welchen Regeln sie gehorchen und was sie zu leisten vermögen« . Die Antwort auf diese Frage, nämlich eine genaue Definition des Untersuchungsgegenstandes, bleibt die mittlerweile umfangreiche deutschsprachige Forschungsliteratur auch nach über einem Jahrzehnt schuldig. So beklagen Katherina Kinzel und Ruben Hackler in der Einleitung eines der jüngsten Beiträge zur Fallforschung, der Sammelstudie Paradigmatische Fälle (2016), die »schwierige […] Bestimmung dessen […], was eine Fallgeschichte auszeichnet und ob ihr über unterschiedliche Disziplinen und Verwendungskontexte hinweg eine gemeinsame Form und Funktion zukommt.«

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Geschichte und Geschlechter ; 71
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 142 x 214 mm
Gewicht 431 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Medizin / Pharmazie Gesundheitsfachberufe Hebamme / Entbindungspfleger
Sozialwissenschaften Soziologie Gender Studies
Schlagworte Aufklärung • Frankreich • Frauen • Frauenarzt • Frauenärzte • frauenheilkunde • Frühe Neuzeit • Gebären • Geburt • Geburtshilfe • Geburtstechniken • Gynäkologie • Körpergeschichte • Medizin • medizinische Zeitschriften • Paris • Schwangersshcaft • Wissenschaft • Zeitschriften
ISBN-10 3-593-50955-5 / 3593509555
ISBN-13 978-3-593-50955-6 / 9783593509556
Zustand Neuware
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