Ein unmögliches Leben (eBook)

Die außergewöhnliche Geschichte einer Frau, die die Regeln der Männer brach und ihren eigenen Weg ging
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2020 | 1. Auflage
496 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-25749-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein unmögliches Leben -  Dame Stephanie Shirley,  Richard Askwith
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Als eine der ersten Frauen weltweit gründet Stephanie Shirley 1962 in ihrem Wohnzimmer eine Softwarefirma, lange bevor Computerprogramme alltäglich wurden. Mit der Idee Software zu verkaufen, ging sie neue Wege. Doch niemand reagiert auf ihre Angebote - weil sie eine Frau ist. Sie wird verspottet und ausgelacht. Erst als sie ihre Briefe mit ?Steve? unterschreibt, erhält sie nach und nach gewinnbringende Aufträge. Die Firma, in der sie nur Frauen anstellt, floriert bald und ermächtigt eine ganze Generation Programmiererinnen in einer Männerdomäne. Ihre Biografie erzählt eindrucksvoll vom steinigen Weg zum Erfolg, ihrem Kreuzzug für die Frauen und gibt auch sehr persönliche Einblicke in ihr Leben: in ihre Flucht im Zweiten Weltkrieg mit dem jüdischen Kindertansport von Wien nach England, in ihre Familiengeschichte und in den tragischen Verlust ihres autistischen Sohnes Giles. Eine inspirierende Geschichte über eine außergewöhnliche Frau!

Dame Stephanie Shirley ist eine britische Geschäftsfrau, IT-Pionierin und Philanthropin. Sie gründete in den Sechzigern die Softwarefirma »Freelance Programmers«. Den größten Teil ihres Lebens widmete sie der Autismusforschung und den MINT-Fächern. Shirley zählt zu den 100 mächtigsten Frauen Großbritanniens.

Richard Askwith arbeitete als Redakteur für »The Independent« und ist preisgekrönter Autor von sieben Büchern.

1.
Eine merkwürdige Reise

Meine erste Erinnerung an England ist die Ankunft am Bahnhof Liverpool Street. Es war ein grauer Tag im Juli, wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Ich weiß nicht mehr, ob es geregnet hat und wie spät es war, als ich aus dem Zug gestolpert und auf dem Bahnsteig gelandet bin. Ich erinnere mich nur an Schatten, an große gusseiserne Säulen, an lange Gänge und an meine Füße, die wehtaten.

Ich war fünf Jahre alt und zusammen mit meiner neun Jahre alten Schwester vor mehr als zwei Tagen in Wien zu dieser trostlosen, tränenreichen Fahrt aufgebrochen. Wir kannten kaum ein halbes Dutzend englische Wörter, und ich zumindest hatte nur eine sehr vage Ahnung davon, wohin die Reise gehen sollte und warum.

Wir zählten etwa tausend Kinder, alle jüdisch – abgesehen von zwei (!) jungen Frauen, die auf alle aufpassen sollten – und fast alle verstört. Um den Hals hatte man uns nummerierte Karten gehängt, als wären wir Fundsachen, was wir ja irgendwie auch waren.

Zweieinhalb Tage vorher hatten wir unseren Eltern (bei mir war es nur meine Mutter) Lebewohl sagen müssen, und die meisten von uns sahen sie nie wieder. Wir gehörten zu den letzten – und ich war fast das jüngste – von etwa zehntausend Flüchtlingskindern, die Hitlers Terror zwischen Hoffnung und Verzweiflung mithilfe dieses großen Glücksspiels namens Kindertransport entkommen konnten. Millionen von Juden in Deutschland und Österreich (und später in der Tschechoslowakei und in Polen) hatten sich lange Zeit gesträubt und das Undenkbare nicht glauben können: dass die zivilisierte Nation, in der ihr Leben verwurzelt war, in tödliche Barbarei verfallen war. Viele fügten sich in ihr Schicksal und beschlossen, auszuharren und darauf zu hoffen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Andere wiederum schätzten die Situation richtigerweise so ein, dass Bleiben so viel hieß, als würde man das Todesurteil für seine Familie unterzeichnen. Aber die übrige Welt hatte ihre Grenzen für Flüchtlinge weitgehend geschlossen. Als sich dann im Vereinigten Königreich besorgte Gruppen zur Kindertransportbewegung Movement for the Care of Children from Germany zusammenschlossen (die später Refugee Children‘s Movement genannt wurde) und offiziell die Erlaubnis bekamen, bis zu zehntausend jüdische Kinder als Flüchtlinge ins Land zu holen, entschlossen sich einige Familien, die keinen anderen Ausweg mehr wussten, ihre Kinder nach Großbritannien in eine Pflegefamilie zu schicken. Meine Familie gehörte zu ihnen.

Im Rückblick und die behütete Sicherheit von heute als Selbstverständlichkeit betrachtend, kann man sich kaum mehr die seelischen Qualen vorstellen, die diese Eltern erdulden mussten. Ihnen wurde ein Übermaß an Vertrauensvorschuss und Vorstellungskraft abverlangt – Vertrauen auf die Freundlichkeit noch nie gesehener Fremder und eine Vorstellung davon, wozu der Nationalsozialismus letztendlich fähig wäre. Die Zweifel und die Verzweiflung müssen unerträglich gewesen sein.

Für uns Kinder war es einfacher. Das Leben, so wie wir es bisher kennengelernt hatten, war schon wieder zu Ende, kaum dass es begonnen hatte.

Längst nicht alle von uns hatten das volle Ausmaß des Schrecklichen erfasst, denn es schien ja so, als ob unsere Familien sich aus freien Stücken aufgelöst hätten. Ich vermute, dass sich meistens nicht einmal die Eltern der nackten Wahrheit gestellt, geschweige denn mit ihren Kindern unmissverständlich darüber gesprochen hatten. Aber die Abschiedsszenen auf dem Bahnsteig in Wien waren herzzerreißend. Es gab zu viele wehklagende Erwachsene und weinende Kinder, als dass die um Tapferkeit ringenden Gesichter noch hätten Hoffnung machen können. Vielleicht war noch das ein oder andere Kind unter uns, das tatsächlich glaubte, dass wir nur zu einem aufregenden Abenteuer aufbrachen. Aber es war schwer, die Wahrheit zu ignorieren, die aus den Augen der Erwachsenen sprach.

Vielleicht hätte ich für die Schmerzen in meinem Fuß dankbar sein sollen. Die meisten meiner Leidensgenossen hatten nichts, das sie von ihrem Schmerz ablenken konnte, in die Fremde weggeschickt worden zu sein. Aber mir war zu elendig zumute, um noch Mitgefühl mit jemand anderem zu verspüren. Ein paar Tage vorher hatte ich mir den großen Zeh aufgeschürft, und jetzt hatte sich die Wunde entzündet. Der dumpfe, pochende Schmerz wurde von Stunde zu Stunde quälender. Vielleicht trat deshalb der Trennungsschmerz in den Hintergrund, oder vielleicht ist in meinem Gedächtnis all die ganze Unbill miteinander verschmolzen.

Nach so vielen Jahren ist es schwer zu sagen, was wirkliche Erinnerungen an die Reise sind und was Vorstellung. War der Himmel wirklich grau? Oder habe ich einfach zu viele Schwarz-Weiß-Fotos vom Kindertransport gesehen? Ging ein Junge während der vielen ungeplanten Stopps tatsächlich immer wieder hinaus, um sich zu übergeben? Oder habe ich das nur geträumt?

Ich bin mir ziemlich sicher, dass manche Kinder auf dem Boden geschlafen haben und andere auf den langen Holzbänken entlang der Wagenseiten; es gab breite Streifen aus Wellpappe, die als Matratzen dienten. Wahrscheinlich habe auch ich geschlafen, erinnern kann ich mich aber nicht mehr daran. Ich nehme an, dass unsere Eltern uns Butterbrote für die Reise mitgegeben haben; aber auch hier kann ich mich irren.

Dass wir von unseren Eltern Geschenke mitbekommen haben, weiß ich aber noch genau. Bei mir waren es zwei winzige Spielzeughunde, die mit einer Minileine zusammengebunden waren. Die Päckchen durfte man aber erst aufmachen, wenn sich der Zug in Bewegung setzte – sodass wir es kaum erwarten konnten, bis es losging. Ich weiß auch noch, dass ich auf der Reise meine Lieblingspuppe fast ununterbrochen verzweifelt umklammert hielt.

Ich erinnere mich an zahlreiche Stopps und an Schaffner in Uniform, die für gelegentliche, angsteinflößende Unterbrechungen sorgten. Ich habe noch den kalten, öligen Geruch des Meeres in der Nase – eine ganz neue Erfahrung, als wir schließlich am Ärmelkanal angekommen waren (vermutlich in Hoek van Holland); und ich erinnere mich vage an eine ekelhafte Überfahrt in einer Kabine, die sich unter Deck befand. Ich bin mir sicher, dass auf der Zugfahrt ab einem bestimmten Zeitpunkt Kinder in den oberen Gepäckablagen geschlafen haben – obwohl die Szenen in meiner Vorstellung überhaupt nicht mit dem Inneren der Waggons übereinstimmen, das ich später auf Archivfotos gesehen habe. Und ich glaube auch nicht, dass mein Eindruck ganz falsch ist, dass es während dieser zweieinhalb Reisetage kaum mal einen Augenblick gab, in dem wir nicht durch das Schluchzen und Jammern der anderen an unser Elend erinnert wurden.

Doch wie verhält es sich mit meinem Gefühl, dass auf dem Bahnsteig völlige Stille herrschte, als wir endlich am Bahnhof Liverpool Street angekommen waren? Es scheint irgendwie unwahrscheinlich zu sein, und vielleicht habe ich meine betäubten Gefühle auf die Vergangenheit projiziert. Wie auch immer, in meiner Vorstellung hat es sich so abgespielt: Wir sind auf dem Bahnsteig gelandet, sprachlos, mit weit aufgerissenen Augen, als würden wir träumen. Die meisten von uns trugen Hüte und Mäntel. Da wir nur so viel Gepäck mitnehmen durften, wie wir auch tragen konnten, hatten unsere Eltern unsere kleinen Koffer prallvoll gepackt und uns sicherheitshalber ein paar zusätzliche Kleidungsstücke übergeworfen – voller Sorge, dass wir in der seltsamen neuen Welt, in die sie uns verbannten, frieren könnten oder nicht genug zum Anziehen hätten. Unsere Mäntel trugen noch immer die gelben Sterne, die wir in Österreich hatten annähen müssen.

Langsam und lautlos bewegte sich der Strom der erschöpften, verwirrten und verweinten Gesichter den Bahnsteig hinunter. Meine Schwester Renate und ich fanden uns in einer gähnend großen Halle wieder, in der wir nach einem kurzen Anwesenheitsappell auf unsere neuen Familien warteten. An einer Wand stapelten sich mit Stroh gefüllte Säcke, und in der Luft lag der süßliche Geruch von ungewaschenen Kindern.

Niemand von uns hatte eine Ahnung davon, was ihn erwartete. Das Refugee Children‘s Movement – kurz RCM – hatte einfach in verschiedenen britischen Zeitungen um Familien geworben, die bereit dazu wären, ein oder zwei Flüchtlingskinder aufzunehmen, und Renate und ich wussten außer dem Namen nichts über das Ehepaar, das sich freiwillig gemeldet hatte, um sich um uns zu kümmern. Ab und zu ließen Erwachsene um uns herum beiläufig eine Bemerkung fallen, oder es gab irgendwelche Ankündigungen, aber mit der seltsamen Sprache hier konnten wir nichts anfangen. Unser Vater hatte uns zwar auf den letzten Drücker eine Handvoll englischer Ausdrücke eingetrichtert, aber das waren skurrile und zufällige Begriffe wie »Scheibenwischer« und »Dauerbrandofen«. Ich konnte nicht einmal fragen, wo die Toiletten sind, geschweige denn verstehen, wenn Fremde uns zu erklären versuchten, was mit uns passieren würde.

Der Nachmittag zog sich dahin. Renate und ich saßen auf einem Strohsack an der Wand und sahen zu, wie immer mehr Kinder, normalerweise einzeln oder zu zweit, weggeführt wurden. Nie schien eines zu protestieren, wenn es sich seinen neuen Eltern gegenübersah. Vielleicht waren die Kinder zu müde und verängstigt dafür. Oder vielleicht habe ich das einfach nicht mitbekommen, weil ich schon genug mit meinem eigenen Elend zu tun hatte.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so dasaßen. Irgendwann wurden Renate und ich schließlich doch aufgerufen. Ein ernst dreinblickender, dunkel gekleideter Mann mittleren Alters mit barscher Stimme führte uns...

Erscheint lt. Verlag 21.9.2020
Übersetzer Albrecht Schreiber
Zusatzinfo farb. Bildteil 8 S.
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Let it Go: My Extraordinary Story - From Refugee to Entrepreneur to Philanthropist
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geschichte Teilgebiete der Geschichte Wirtschaftsgeschichte
Mathematik / Informatik Informatik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Autismus • Biografie • Biographien • Businessfrau • eBooks • Empowerment • Feminismus • Inspiration • IT-Pionierin • Kindertransport • Software • Starke Frauen • Wahre GEschichte • Wirtschaft
ISBN-10 3-641-25749-2 / 3641257492
ISBN-13 978-3-641-25749-1 / 9783641257491
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