Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln - Julian Barnes

Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln

(Autor)

Buch | Softcover
416 Seiten
2009
btb Verlag (TB)
978-3-442-73877-9 (ISBN)
9,99 inkl. MwSt
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In seiner "Geschichte der Welt in 10 Kapiteln" jongliert Julian Barnes auf höchst gekonnte Weise mit dem Arche-Noah-Mythos. In zehn Kapiteln schreibt Barnes über Gott und die Welt, kühn kalkuliert und sprachlich brillant. Das schönste Kapitel ist jedoch jenes halbe über die Liebe.

Julian Barnes, geb. 1946, arbeitete nach dem Studium der modernen Sprachen zunächst als Lexikograph und dann als Journalist. Seit 1980 hat Julian Barnes zahlreiche Romane geschrieben. Für sein Werk wurde er weltweit mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. 2004 und 2005 erhielt er den 'Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur'. Julian Barnes lebt in London.

Gertraude Krueger, 1949 geboren, lebt als Dozentin und freie Übersetzerin in Berlin. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. Sketche der Monty-Python-Truppe und Werke von Julian Barnes, Alice Walker, Siri Hustvedt und Jhumpa Lahiri.

Die Behemoths haben sie mit den Nashörnern, den Flußpferden und den Elefanten zusammen in den Laderaum gesteckt. Es war eine vernünftige Entscheidung, sie als Ballast zu verwenden; aber ihr könnt euch vorstellen, wie es da stank. Und es war niemand zum Ausmisten da. Die Männer waren schon mit dem Fütterdienst überlastet, und ihre Frauen, die unter den lodernden Feuerzungen ihrer Duftwässer bestimmt genauso schlimm rochen wie wir, waren viel zu zart dafür. Wenn also überhaupt ausgemistet werden sollte, mußten wir das schon selber machen. Sie haben alle paar Monate den dicken Lukendeckel auf dem Achterdeck hochgekurbelt und die Putzvögel reingelassen. Na ja, erst mußten sie mal den Geruch rauslassen (und es meldeten sich nicht sehr viele freiwillig zum Kurbeln); dann sind sechs oder acht nicht gar so zartbesaitete Vögel etwa eine Minute lang vorsichtig um die Luke rumgeflattert, bevor sie da reintauchten. Ich kann mich nicht erinnern, wie die alle hießen - und eins von diesen Pärchen gibt es auch gar nicht mehr -, aber ihr wißt schon, was für welche ich meine. Habt ihr schon mal Flußpferde mit offenem Maul gesehen, und muntere kleine Vögelchen picken ihnen wie wildgewordene Dentalhygieniker zwischen den Zähnen rum? Stellt euch das so ähnlich vor, nur viel größer und dreckiger. Ich bin eigentlich nicht zimperlich, aber selbst mich hat's geschüttelt bei dem Anblick unter Deck: eine Reihe schielender Monster läßt sich in einer Kloake maniküren. Es herrschte strenge Disziplin auf der Arche: das ist schon mal der erste Punkt. Es war nicht so wie bei diesen Kindergartenausgaben aus angemaltem Holz, mit denen ihr früher vielleicht auch gespielt habt - allenthalben glückliche Pärchen, die aus der Behaglichkeit fein geschrubbter Boxen fröhlich über die Reling lugen. Ihr dürft euch das nicht wie eine Mittelmeer-Kreuzfahrt vorstellen, wo wir träge Roulette spielten und alle sich zum Dinner umzogen; auf der Arche gingen nur die Pinguine im Frack. Denkt daran: Das war eine lange und gefährliche Seereise - gefährlich, auch wenn die Regeln zum Teil vorher festgelegt worden waren. Denkt auch daran, daß wir das gesamte Tierreich an Bord hatten: Hättet ihr etwa die Geparden in Sprungweite der Antilopen untergebracht? Ein gewisser Sicherheitsstandard war unerläßlich, und doppelt verriegelte Schlösser, Boxeninspektionen, eine nächtliche Ausgangssperre nahmen wir hin. Doch leider gab es auch Bestrafungen und Isolierzellen. Irgendwer ganz oben kriegte einen Informationensammeltick; und gewisse Mitreisende ließen sich als Lockvögel einspannen. Ich muß zu meinem Bedauern berichten, daß das Verpfeifen bei der Obrigkeit mitunter weit verbreitet war. Das war kein Naturschutzpark da auf unserer Arche; bisweilen war das eher so etwas wie ein schwimmendes Gefängnis. Also, ich weiß ja, daß die Darstellungen auseinandergehen. Eure Spezies hat ihre vielfach wiedergekaute Version, die auch Skeptiker noch immer entzückt; und die Tiere haben ein Kompendium sentimentaler Mythen. Aber die werden euch schon nicht den Wind aus den Segeln nehmen, nicht wahr? Wo man sie doch als Helden gefeiert hat, wo es doch mittlerweile Ehrensache ist, daß der hinterste und letzte seinen Stammbaum stolz direkt bis zur Arche zurückverfolgen kann. Sie waren auserwählt, sie haben durchgehalten, sie haben überlebt: da ist es nur normal, daß sie verfängliche Episoden vertuschen, daß ihr Gedächtnis sie im geeigneten Moment im Stich läßt. Aber ich bin frei von solchen Befangenheiten. Ich war niemals auserwählt. Genaugenommen war ich, wie diverse andere Arten, ausdrücklich nicht auserwählt. Ich war ein blinder Passagier; ich habe gleichfalls überlebt; ich bin entwischt (von Bord zu gehen war kein bißchen leichter, als an Bord zu gehen); und ich floriere. Ich stehe etwas außerhalb der übrigen Tiergesellschaft, die noch immer ihre nostalgischen Zusammenkünfte hat: da gibt es sogar einen Club der Seefesten für Arten, denen kein einziges Mal schlecht geworden ist. Wenn ich an Die Reise zurückdenke, fühle ich mich niemandem verpflichtet; mir verschmiert keine Dankbarkeitsvaseline die Linse. Meiner Darstellung könnt ihr vertrauen. Daß die «Arche» mehr als nur ein einziges Schiff war, habt ihr vermutlich erfaßt? Wir haben die ganze Flottille so genannt (man konnte wohl kaum hoffen, das gesamte Tierreich in einen Kasten von gerade mal dreihundert Ellen Länge zu pferchen). Es regnete vierzig Tage und vierzig Nächte? Ha, natürlich nicht - das wäre ja nicht mehr gewesen als ein gewöhnlicher englischer Sommer. Nein, es regnete ungefähr anderthalb Jahre lang, nach meiner Rechnung. Und die Wasser waren auf Erden hundert und fünfzig Tage? Macht da mal ruhig an die vier Jahre draus. Und so weiter. Im Umgang mit Daten war eure Spezies immer schon ein hoffnungsloser Fall. Ich erklär mir das mit eurem komischen Tick mit der Sieben. Am Anfang bestand die Arche aus acht Schiffen: Noahs Galeone, die das Proviantschiff im Schlepptau hatte, dann vier etwas kleinere Schiffe, auf denen jeweils einer von Noahs Söhnen das Kommando führte, und dahinter, in sicherer Entfernung (da die Familie, was Krankheiten anging, abergläubisch war) das Hospitalschiff. Das achte Schiff sorgte kurze Zeit für Rätselraten: eine pfeilschnelle kleine Schaluppe mit filigranem Sandelholz-Prunkheck, die Hams Arche hinterherscharwenzelte. Wenn man leewärts kam, wurde man bisweilen von seltsamen Düften gekitzelt; nachts, wenn der Sturm nachließ, konnte man ab und zu flotte Musik und schrilles Gelächter hören - überraschende Töne für uns, da wir angenommen hatten, alle Frauen von allen Söhnen Noahs seien auf ihren eigenen Schiffen in sicherer Hut. Doch dieses parfümierte, lachende Boot hielt nicht viel aus : es sank bei einer jähen Sturmbö, woraufhin Ham wochenlang Trübsal blies. Das Proviantschiff ging als nächstes verloren, in einer sternenlosen Nacht, als der Wind abgeflaut war und der Ausguck döste. Am Morgen zog Noahs Flaggschiff nichts als einen dicken Tampen hinter sich her, der durchgenagt war von etwas, das scharfe Schneidezähne besaß und ein Geschick, sich an nasse Taue zu klammern. Das hat heftige Auseinandersetzungen zur Folge gehabt, kann ich euch sagen; ja, vielleicht war das der erste Fall, daß eine Art über Bord ging. Nicht lange danach ging das Hospitalschiff verloren. Es wurde gemunkelt, daß es zwischen den beiden Ereignissen einen Zusammenhang gebe, daß Hams Frau - der es etwas an Gelassenheit gebrach - beschlossen habe, an den Tieren Rache zu üben. Offenbar war ihr Lebenswerk an gestickten Bettdecken mit dem Proviantschiff untergegangen. Aber bewiesen wurde nie etwas. Trotzdem, das weitaus schlimmste Desaster war, daß wir Varadi verloren. Ham und Sem und der andere, dessen Name mit J anfängt, sind euch ja bekannt; aber von Varadi wißt ihr nichts, oder? Er war der jüngste und stärkste von Noahs Söhnen; was ihn bei der Familie natürlich nicht allzu beliebt machte.


Die Behemoths haben sie mit den Nashörnern, den Flußpferden und den Elefanten zusammen in den Laderaum gesteckt. Es war eine vernünftige Entscheidung, sie als Ballast zu verwenden; aber ihr könnt euch vorstellen, wie es da stank. Und es war niemand zum Ausmisten da. Die Männer waren schon mit dem Fütterdienst überlastet, und ihre Frauen, die unter den lodernden Feuerzungen ihrer Duftwässer bestimmt genauso schlimm rochen wie wir, waren viel zu zart dafür. Wenn also überhaupt ausgemistet werden sollte, mußten wir das schon selber machen. Sie haben alle paar Monate den dicken Lukendeckel auf dem Achterdeck hochgekurbelt und die Putzvögel reingelassen. Na ja, erst mußten sie mal den Geruch rauslassen (und es meldeten sich nicht sehr viele freiwillig zum Kurbeln); dann sind sechs oder acht nicht gar so zartbesaitete Vögel etwa eine Minute lang vorsichtig um die Luke rumgeflattert, bevor sie da reintauchten. Ich kann mich nicht erinnern, wie die alle hießen - und eins von diesen Pärchen gibt es auch gar nicht mehr -, aber ihr wißt schon, was für welche ich meine. Habt ihr schon mal Flußpferde mit offenem Maul gesehen, und muntere kleine Vögelchen picken ihnen wie wildgewordene Dentalhygieniker zwischen den Zähnen rum? Stellt euch das so ähnlich vor, nur viel größer und dreckiger. Ich bin eigentlich nicht zimperlich, aber selbst mich hat's geschüttelt bei dem Anblick unter Deck: eine Reihe schielender Monster läßt sich in einer Kloake maniküren. / Es herrschte strenge Disziplin auf der Arche: das ist schon mal der erste Punkt. Es war nicht so wie bei diesen Kindergartenausgaben aus angemaltem Holz, mit denen ihr früher vielleicht auch gespielt habt - allenthalben glückliche Pärchen, die aus der Behaglichkeit fein geschrubbter Boxen fröhlich über die Reling lugen. Ihr dürft euch das nicht wie eine Mittelmeer-Kreuzfahrt vorstellen, wo wir träge Roulette spielten und alle sich zum Dinner umzogen; auf der Arche gingen nur die Pinguine im Frack. Denkt daran: Das war eine lange und gefährliche Seereise - gefährlich, auch wenn die Regeln zum Teil vorher festgelegt worden waren. Denkt auch daran, daß wir das gesamte Tierreich an Bord hatten: Hättet ihr etwa die Geparden in Sprungweite der Antilopen untergebracht? Ein gewisser Sicherheitsstandard war unerläßlich, und doppelt verriegelte Schlösser, Boxeninspektionen, eine nächtliche Ausgangssperre nahmen wir hin. Doch leider gab es auch Bestrafungen und Isolierzellen. Irgendwer ganz oben kriegte einen Informationensammeltick; und gewisse Mitreisende ließen sich als Lockvögel einspannen. Ich muß zu meinem Bedauern berichten, daß das Verpfeifen bei der Obrigkeit mitunter weit verbreitet war. Das war kein Naturschutzpark da auf unserer Arche; bisweilen war das eher so etwas wie ein schwimmendes Gefängnis. / Also, ich weiß ja, daß die Darstellungen auseinandergehen. Eure Spezies hat ihre vielfach wiedergekaute Version, die auch Skeptiker noch immer entzückt; und die Tiere haben ein Kompendium sentimentaler Mythen. Aber die werden euch schon nicht den Wind aus den Segeln nehmen, nicht wahr? Wo man sie doch als Helden gefeiert hat, wo es doch mittlerweile Ehrensache ist, daß der hinterste und letzte seinen Stammbaum stolz direkt bis zur Arche zurückverfolgen kann. Sie waren auserwählt, sie haben durchgehalten, sie haben überlebt: da ist es nur normal, daß sie verfängliche Episoden vertuschen, daß ihr Gedächtnis sie im geeigneten Moment im Stich läßt. Aber ich bin frei von solchen Befangenheiten. Ich war niemals auserwählt. Genaugenommen war ich, wie diverse andere Arten, ausdrücklich nicht auserwählt. Ich war ein blinder Passagier; ich habe gleichfalls überlebt; ich bin entwischt (von Bord zu gehen war kein bißchen leichter, als an Bord zu gehen); und ich floriere. Ich stehe etwas außerhalb der übrigen Tiergesellschaft, die noch immer ihre nostalgischen Zusammenkünfte hat: da gibt es sogar einen Club der Seefesten für Arten, de

Erscheint lt. Verlag 12.1.2009
Reihe/Serie btb
Sprache deutsch
Original-Titel A History of the World in 10 1/2 Chapters
Maße 118 x 187 mm
Gewicht 342 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Literatur
Schlagworte Arche Noah; Romane/Erzählungen • Weltgeschichte; Romane/Erzählungen
ISBN-10 3-442-73877-6 / 3442738776
ISBN-13 978-3-442-73877-9 / 9783442738779
Zustand Neuware
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