Firma Anton Sauerwald (eBook)

Eine Biographie und Unternehmensgeschichte
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
240 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-4072-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Firma Anton Sauerwald -  Dorothee Haentjes-Holländer
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Am 1. April 1896 schließt der noch nicht ganz dreißigjährige Anton Sauerwald zum ersten Mal sein Geschäft in der Kölner Breite Straße auf. Er hat einen Musikalienhandel eröffnet, in dem er zunächst Noten, Streichinstrumente und Zubehör verkauft. Für ihn ist es ein besonderes Wagnis. Denn seit seinem achtzehnten Lebensjahr ist Anton Sauerwald blind. Im Gründungsjahr ist das Unternehmen noch klein und in beengten Räumen untergebracht. Bis in die 1920er-Jahre aber wird sich Anton Sauerwalds Geschäft zu einem der größten Pianomagazine auf dem Kölner Prachtboulevard Hohenzollernring entwickelt haben. "Firma Anton Sauerwald" ist die Geschichte eines Mannes, der sich durch seine körperliche Einschränkung nicht entmutigen lässt, sondern seinen Lebenstraum verwirklicht. Darüber hinaus spiegeln sich in der Biographie und Unternehmensgeschichte die kulturellen Entwicklungen Westfalens im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie der rheinischen Metropole Köln bis in die 1930er-Jahre. Nicht zuletzt berichtet das Buch über die Blütezeit der deutschen Klavierindustrie sowie ihren Abschwung durch das Aufkommen des Radios.

Dorothee Haentjes-Holländer, geboren 1963 in Köln, betätigt sich seit mehr als dreißig Jahren als freiberufliche Autorin und Übersetzerin. Nach zahlreichen Veröffentlichungen im Bereich Kinder- und Jugendbuch wendet sie sich inzwischen mit Publikationen zu kunstgeschichtlichen Themen sowie mit Biographien und Romanen hauptsächlich an ein erwachsenes Publikum. Dorothee Haentjes-Holländer ist verheiratet und lebt in Bonn.

2. Die Erblindung


Im Frühjahr 1884, mit siebzehneinhalb Jahren1, erfährt Antons Leben eine schicksalhafte Wendung. Er hat einen Eiterpickel im Gesicht, an der Nase oder am Kinn, und er kratzt ihn auf. Die Wunde entzündet sich und führt zu einer schweren Blutvergiftung. Es ist eine lebensgefährliche Situation, denn Penicillin und andere Antibiotika, mit denen eine Sepsis heute zu heilen ist, gibt es zu dieser Zeit noch nicht. Anton muss ohne diese Hilfsmittel überleben. Monatelang ist er schwer krank.2

An welchem Ort Anton mit seiner Erkrankung rang, ist nicht überliefert. Es scheint allerdings nicht in Magdeburg gewesen zu sein – dies wäre in die Familienerzählungen eingegangen –, sondern in seiner Heimat Nuttlar, in die er nach dem Ende des Schuljahres auf der Handelsschule zu Ostern 1884 zurückkehrte.

Zum Glück kommt Anton zwar schließlich doch noch mit dem Leben davon, aber er hat sein Augenlicht verloren. Eine kleine Brille mit Metallrand, die er fortan trägt, mag ein Hinweis darauf sein, dass er vielleicht einen letzten Rest seiner Sehkraft behalten hat und Schemen oder Schatten erkennen kann. Die Brille kann aber auch ganz einfach Unbekannte, denen Anton in Zukunft begegnet, darauf hinweisen, dass er sehbehindert ist. Eine letzte Möglichkeit ist, dass sie einen gewissen Schutz vor physischen Einwirkungen bieten soll.

Mit der Erblindung sind die Pläne für Antons Einstieg in die Firma Josef Sauerwald Söhne hinfällig geworden – bei Vater Carl mit seinem Kompagnon August ebenso wie bei Anton selbst. Zu jener Zeit kann sich noch niemand vorstellen, dass man auch als Mensch mit körperlichen Einschränkungen eine höhere Position in einem Wirtschaftsunternehmen bekleiden kann – zumal in einer Doppelspitze mit einem sehenden Kompagnon, wie dies für Anton und seinen Cousin Hermann in der Firma ihrer Väter vorgesehen ist. Somit muss Anton kurz vor seinem Berufsstart seine gesamten bisherigen Lebenspläne begraben. Das ist ein großer Schock für ihn, für seine Eltern und für alle, die ihn als einen der Nachfolger in der Firma sahen.

Antons Beziehungen zur Familie Grimme werden während seines Aufenthalts in Magdeburg nicht abgerissen sein. Besonders mit dem nur eineinhalb Jahre jüngeren Meinulf Grimme verband ihn schon während seiner Heiligenstädter Zeit eine tiefe Freundschaft, die auch Jahre später noch anhalten sollte.3 Mit Sicherheit hat daher auch die Familie Grimme früh von Antons Erblindung erfahren.

Für Anton stellt sich die Frage, wie er nun mit seiner Blindheit umgehen kann. Was kann er tun? Ist er ab jetzt darauf angewiesen, dass seine Familie für ihn sorgt? Oder hat er eine Möglichkeit, als Blinder einen Beruf auszuüben?

Eines ist ganz klar: Anton muss die Punktschrift erlernen, die der ebenfalls blinde Franzose Louis Braille im Jahr 1825 erfunden hat. Sie ist der Schlüssel für ein Mindestmaß an Selbständigkeit. Und am besten sollte er auch irgendwie die Möglichkeit erlangen, einen Beruf auszuüben.

Zum Glück für Anton hat sich gerade im Jahrzehnt vor seiner Erkrankung eine Menge für die Blinden getan. Denn mit der Gründung des Kaiserreiches 1871 blühte das Gesundheitswesen in Deutschland auf. Damit einher gingen auch ein Ausbau der klinischen Augenheilkunde sowie ein Aufschwung der Blindenbildung durch die Einrichtung von Blindenschulen.4 Seit 1873 werden alle drei Jahre Blindenlehrerkongresse abgehalten.5

Blindheitsprophylaxe im Kaiserreich

Dass es zu jener Zeit bedeutend mehr Blinde gab als heute, ist auf das damalige Fehlen von Antibiotika zurückzuführen. Im 19. Jahrhundert verloren rund 35 % aller Blinden ihr Augenlicht durch die Pocken.6 Ebenso stellten Typhus und Scharlach eine Gefahr für die Augen dar, vor allem aber Masern und Hirnhautentzündung.7 Auch die Augenentzündung der Neugeborenen (Blennorrhoea neonatorum) spielte eine große Rolle. Sie wird durch Eiterbakterien übertragen, die häufig beim Geburtsvorgang von einer mit Tripper infizierten Mutter in die Augen des Kindes geraten.8

Durch die Aufklärung der Bevölkerung über Hygiene und Vorsorge vor Augenleiden und auch durch die Credé-Prophylaxe – eine Vorsorgemaßnahme, die der Leipziger Frauenarzt und Geburtshelfer Carl Siegmund Franz Credé entwickelte und bei der jedem Säugling nach dem ersten Bad nach der Geburt eine Silbernitratlösung in die Augen geträufelt wurde9 – sollte es gelingen, die Blindheit im Deutschen Reich zurückzudrängen: Entfielen zur Zeit der Reichsgründung 1871 noch 88 Blinde auf 100.000 Einwohner, so waren es im Jahr 1900 nur noch 60. Das ist in dreißig Jahren ein Rückgang von rund 30 %.10

Im von Nuttlar etwa 60 Kilometer entfernt liegenden Paderborn gab es seit 1842 ein kleines Privatinstitut für Blinde11, das die Ordensschwester Pauline von Mallinckrodt (1817-1881) eingerichtet hatte. Schon 1847 ist diese Gründung in ein Provinzial-Blindeninstitut umgewandelt worden. Hier werden nur Katholiken aufgenommen, in der im selben Jahre entstandenen Provinzialanstalt in Soest ausschließlich Protestanten.12 Seit 1858 bildet die Paderborner Anstalt Blinde in Korbflechten und Bürstenmachen aus13, während für Protestanten in Soest seit 1865 sogar eine Ausbildung zum Organisten möglich ist.14

Organist – das wäre vielleicht eine berufliche Möglichkeit für Anton. Er ist ja ein „recht wackerer” Pianist, wie Friedrich Wilhelm Grimme ihm bereits vor Jahren attestiert hatte. Aber Anton gehört nicht der evangelischen Kirche an, sondern er ist katholisch. Somit kann er in Soest nicht ausgebildet werden.

Dennoch wird die Familie Sauerwald Kontakt nach Paderborn aufgenommen haben – oder vielleicht war es auch Friedrich Wilhelm Grimme, der in dieser Stadt immerhin sechzehn Jahre lang als Gymnasiallehrer tätig war. Die Paderborner Anstalt könnte darauf verwiesen haben, dass die Provinzialinstitute sehr wohl auch für Katholiken eine Ausbildung zum Organisten im Portfolio führen – sowie ebenso die Ausbildung zum Musiklehrer und Klavierstimmer. Und zwar in der Anstalt in Düren.

Sicher ist die Aussicht, seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer zu bestreiten, nicht mit einem Leben als Firmenchef zu vergleichen. Aber es ist immerhin eine Möglichkeit, die auch Antons Begabung und Interessen entspricht.

So begibt sich Anton am 1. Oktober 1884 nach Düren, um sich als „Zögling” der Blindenanstalt „in der Musik und im Klavierstimmen”15 ausbilden zu lassen.

Es ist wohl eine der besten Entscheidungen, die Anton für sein Leben treffen konnte.

Die Provinzial-Blindenanstalt in Düren

Schon im Jahr 1845 wurde in Düren die „Elisabethstiftung für Blindenunterricht in der Rheinprovinz” errichtet. Seit dem Jahr 1873 gehört die Einrichtung zu den Provinzialinstituten16, die sich im gesamten Einzugsgebiet der damaligen Rheinprovinz für die Förderung behinderter Menschen einsetzen.17 Die seit 1876 in der Dürener Nordstadt in einem neuen Gebäude untergebrachte Blindenanstalt ist eine moderne Anlage. Sie erstreckt sich mit vier getrennten

Die Dürener Blindenanstalt

Gebäuden, einem Gemüsegarten, fünf Höfen mit Sträuchern, Bäumen und Turn- und Klettergeräten über rund 3 Hektar.18 Das Wohngebäude verfügt über mehrere Badezellen.19 Schon seit 1868 verfolgt die Anstalt ein geradezu revolutionäres Ausbildungskonzept. Durch die folgenden baulichen Erweiterungen wird sie sich zur modernsten Blindeneinrichtung im deutschen Sprachraum entwickeln.20

Wilhelm Scheu genannt Mecker

Spiritus Rector der Anstalt in Düren ist Wilhelm Scheu genannt Mecker (1839-1898). Schon 1868 wurde ihm die Leitung des Hauses übertragen. Mecker ist der Sohn eines Landwirts aus Havixbeck bei Münster. Er hat in Münster und Bonn Philologie studiert und arbeitete bislang als Gymnasiallehrer in Düsseldorf und als Rektor der Höheren Bürgerschule in Cochem an der Mosel.21 Mit Verve stürzt Mecker sich in seine neue Aufgabe und beschreitet völlig neue Wege. An erster Stelle im Lehrplan „seiner” Blindenanstalt steht selbstverständlich das Erlernen der Brailleschrift, die seit 1879 als offizielle Blindenschrift für das Deutsche Reich anerkannt ist.22 Sie ist die Grundlage für alles Weitere: Das Lesen erfolgt durch Ertasten der Punktschrift, das eigenständige Schreiben durch das Durchbohren eines starken Papiers mit einem Punktierstift23.

Für den Unterricht der schulpflichtigen Kinder setzt Mecker neben den üblichen Fächern auch Sport auf die Lehrpläne seiner Anstalt; damit seine „Zöglinge”, die bislang vor allem saßen und von Sehenden geführt wurden, ein besseres Körpergefühl entwickeln, das...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Biografie • Erblindung • Klavierhandel • Köln • Unternehmensgeschichte
ISBN-10 3-7693-4072-8 / 3769340728
ISBN-13 978-3-7693-4072-3 / 9783769340723
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