Betrifft: Tod der Ehefrau (eBook)
452 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-5976-3 (ISBN)
Renate Müller-Martens wurde 1956 in Kassel geboren und promovierte im Fach Kulturanthropologie. (Renate Müller: Ideal und Leidenschaft. Sexuelle Sozialisation der akademischen Jugend im Biedermeier. Berlin, Hamburg 1999.) Sie arbeitete in Museen und als Genealogin, bevor sie sich der Erforschung ihrer eigenen Familiengeschichte zuwandte. Die eindringlichen Erzählungen ihres Vaters über Krieg und Nationalsozialismus und ein umfangreicher Nachlass aus Dokumenten und Fotos motivierten sie zur Biographie ihrer Großeltern, die beide den 2. Weltkrieg nicht überlebt haben.
Meine Kinder, deine Kinder, unsere Kinder
Das westfälische Daseburg liegt 40 km nordwestlich von Kassel am Fuße des Desenbergs, der mit seiner Kegelform aussieht wie ein Vulkan. Als einzige auffällige Erhöhung inmitten einer flachen Ackerlandschaft erhebt sich der kleine Berg mit seiner Burgruine wie eine märchenhafte Erscheinung an der Straße zwischen Warburg und Daseburg.
Am 31. August 1891 ereignete sich in einer Scheune Daseburgs ein schwerer Unfall. Beim Versuch, eine Dreschmaschine genau waagerecht zu positionieren, war der Maurer und Maschinist Josef Müller zwischen das schwere Gefährt und die Scheunenwand geraten. Er starb noch am Unfallort, wie Dorfchronik und Kirchenbuch berichten, abends gegen 7 Uhr.
Josef Müller hinterließ seinen einjährigen Sohn Heinrich und seine Ehefrau Emilia Müller, geb. Stoppelkamp, die, als der Unfall passierte, im dritten Monat schwanger war. Die Witwe gebar gut ein halbes Jahr später am 13. Februar 1892 ihren zweiten Sohn, den sie nach ihrem verstorbenen Mann Josef nannte. Die wenigen Familiennamen und die begrenzte Auswahl an üblichen Eigennamen führten dazu, dass es in der kleinen Gemeinde Daseburg mehrere Heinrich und Josef Müllers gab. Aus diesem Grund versah man die beiden Knaben mit dem Mädchennamen ihrer Mutter und nannte sie im Dorf Stoppelkamps Heinrich und Stoppelkamps Josef.
Ebenfalls im Jahr 1892 am 24. August wurde in einem Daseburger Bauernhaus ein Mädchen geboren, das den Taufnamen Auguste Elisabeth Wienholt erhielt. Nach der Taufe der kleinen Auguste Elisabeth kam das Ehepaar Wienholt seiner Bürgerpflicht nach und suchte den Standesbeamten des Dorfes auf. Der zweite Vorname ihrer Tochter, Elisabeth, sollte der Rufname des Mädchens werden, so hatten sie entschieden. Dem Standesbeamten, wahrscheinlich ein mit den entsprechenden Befugnissen betrauter Bauer oder Händler, unterlief an diesem Tag jedoch ein Fehler, der noch zwei Generationen später die Phantasie der Einheimischen anregt, wenn man sie zu diesem Thema befragt: Es war in Daseburg und nicht nur dort üblich, die Geburt eines Kindes in der Stube des Standesbeamten mit hochprozentigem Schnaps zu begießen. So manches falsche Geburtsdatum soll seine Ursache in diesem Brauch haben. Wie auch immer es geschehen ist, der im Kirchenbuch eingetragene zweite Vorname Elisabeth, der eigentliche Rufname des Kindes, wurde vom Standesbeamten nicht aufgezeichnet. Das Mädchen, das im Dorf nur als Lisbeth bekannt war, hieß somit offiziell Auguste.
Lisbeth Wienholt und Heinrich Müller (Stoppelkamps Heinrich) wurden in unterschiedliche soziale Verhältnisse hineingeboren unabhängig von dem schweren Unglück, das der jungen Witwe Emilia Müller widerfahren war und den materiellen Folgen, die der Unfall ihres Mannes nach sich zog. Daseburg ist früher eigentlich eine Zweiklassengesellschaft gewesen, so berichten die Einheimischen: Auf der einen Seite die Bauern, die von den Erträgen ihres Vieh- und Landbesitzes leben konnten, sogar in der Regel gut leben konnten, weil der Boden der Warburger Börde fruchtbar war, und auf der anderen Seite die ländlichen Handwerker und Tagelöhner, die auf Lohnarbeit angewiesen waren, aber in den meisten Fällen auch über ein kleines Stück Ackerland oder zumindest über einen Gemüsegarten verfügten.
Nicht alle Mitglieder der damals kinderreichen Familien fanden in Daseburg ihr Auskommen. Die ländliche Unterschicht zog es in die Fabriken des Ruhrgebietes, wo sie mehr verdienten als die Landarbeiter im Heimatdorf, und die Bauernsöhne suchten in den Nachbargemeinden eine Anstellung in Gewerbe und Landwirtschaft oder waren in den Städten als Händler tätig, je nach Startkapital und der Möglichkeit, in ein Geschäft einzuheiraten.
Derartige Perspektiven boten sich der Witwe Emilia, geb. Stoppelkamp nicht. Als Mutter von einem Säugling und einem Kleinkind hätte sie in Daseburg eventuell als Hebamme oder Schneiderin arbeiten können. Es fehlte ihr aber die entsprechende Ausbildung. Ein glücklicher Umstand war, dass die Güter in der Nähe Daseburgs, vor allem im Sommer und im Herbst, Saisonarbeiter suchten. Sie wird also zusammen mit anderen Tagelöhnerinnen Rüben gehackt und Kartoffeln ausgegraben haben, gelegentlich nach ihren Söhnen schauend, wenn der Jüngere in seinem Körbchen schrie oder der Ältere sich gar zu weit aus ihrem Gesichtsfeld entfernt hatte. Wenn sie dann abends müde nach Hause kam, musste ihre Ziege gemolken und das Schwein gefüttert werden, der Säugling verlangte nach ihrer Brust und der kleine Heinrich forderte ihre Aufmerksamkeit. Aus der frühen Kindheit der Brüder Heinrich und Josef Müller, genannt Stoppelkamp, sind im Nachlass nur die Impfscheine überliefert worden. Man muss seine Phantasie jedoch nicht allzu sehr anstrengen, um zu ermessen, in welcher Situation sich die junge Witwe befand.
Emilia wohnte in ihrem Elternhaus, einem kleinen Fachwerkhäuschen, zu dem ein Garten gehörte. Sie verfügte also neben einer kleinen Invalidenrente über einen bescheidenen Besitz. Da aber ihre Eltern bereits vor der Geburt von Heinrich gestorben waren und ihre Geschwister Daseburg verlassen hatten, erhielt sie nicht die Unterstützung der nächsten Verwandten, auf die sie unter günstigeren Umständen ganz selbstverständlich hätte zählen können. Die kleine Rente ernährte keine Familie, sie verhinderte aber die Armenunterstützung aus der Gemeindekasse. Die Mutter von zwei Kleinkindern, zwischen denen der Altersunterschied noch nicht einmal zwei Jahre betrug, musste also arbeiten, um ihre Familie zu ernähren.
Emilias Leben war beschwerlich, sicher auch leidvoll, aber zu bewältigen vor dem Hintergrund von Nachbarschaftshilfe und der Unterstützung durch die Familie ihres Mannes. Mit Bedacht hatte die junge Witwe den Paten für ihren zweiten Sohn Josef gewählt. Es war August Müller, der jüngere Bruder ihres verstorbenen Mannes. August Müller wurde später, als Emilia nach einer zwölfjährigen Witwenschaft zum zweiten Mal heiratete, auch der Vormund von Heinrich und Josef. Er übernahm gegenüber seinen Neffen die Position des Vaters und hatte zu ihnen Zeit seines Lebens ein enges Verhältnis.
Emilia wird die Unterstützung durch ihren Schwager gebraucht haben, spätestens als offenkundig wurde, dass einer ihrer Mieter, mit denen sie ihr kleines Häuschen teilte, Alkoholiker war. Von ihm hieß es, dass er in die USA auswandern wollte, seine Absicht aber aufgab, nachdem er erfuhr, dass man in Amerika keinen Schnaps trinken durfte. Sein Haus war abgebrannt, sein Land hatte er verkauft. Nachdem er ein Jahr bei Emilia zur Miete gewohnt hatte, setzte sie ihn vor die Tür, mit oder ohne Hilfe von ihrem Schwager.
Mit Sicherheit haben Heinrich und Josef die Belastung, der ihre Mutter ausgesetzt war, gespürt. Ihre Kindheit verlief aber prinzipiell nicht anders als diejenige der besser gestellten Kinder im Dorf. Sie wurden mitgenommen aufs Feld, lagen auf dem Strohballen, während ihre Mutter die Kühe melkte, krabbelten im Garten umher, während sie im Gemüsebeet arbeitete, wurden ebenso wie die anderen Kleinkinder im Dorf kaum betreut, aber auch wenig kontrolliert. Nachdem die Brüder laufen und sprechen gelernt hatten, mischten sie sich unter die Kinderscharen, die in der Nachbarschaft, auf den Straßen und im nahe gelegenen Wäldchen unterwegs waren. Trotz allem jungenhaften Übermut waren beide friedvolle Naturen. Schnell lernten sie, dass man mit Verträglichkeit am weitesten kommt und die engsten Verwandten zusammenhalten müssen, vor allem zwei Brüder.
Auguste Elisabeth Wienholt wuchs in einer Familie auf, die zwar nicht zu den Großbauern des Dorfes gehörte, die aber durch ihren Landbesitz über eine gewisse materielle Sicherheit verfügte. Auch diese Familie wurde von den damals fast unvermeidlichen Schicksalsschlägen heimgesucht. Lisbeths Vater hatte zwei Mal geheiratet. Seine erste Frau gebar elf Kinder, von denen fünf das Erwachsenenalter nicht erreichten. Sie selbst starb im Wochenbett nach der Geburt ihres elften Kindes, einem Mädchen, das von ihrem Bruder, also dem Onkel des Kindes, adoptiert wurde. Der Witwer und Vater von fünf auf dem Hof verbleibenden Kindern heiratete kurz nach Ablauf des Trauerjahrs die 25jährige Theresa, die Mutter von Auguste Elisabeth. Lisbeth war das drittgeborene Kind ihrer Mutter. Sie hatte neben den fünf Halbgeschwistern aus der ersten Ehe ihres Vaters drei Brüder und eine ältere Schwester. Als Lisbeth sechs Jahre alt war, starb ihr Vater an einer Lungenentzündung, als sie neun Jahre alt war, erkrankte ihre ältere Schwester tödlich an Diphtherie.
Lisbeth blieb in der neunköpfigen Geschwisterschar die einzige leibliche Tochter der Witwe Theresa, eine Position, die sie zur Vertrauten und Stütze ihrer Mutter machte. Manchmal gab es morgens vor dem Aufstehen etwas zu besprechen zwischen Mutter und Tochter. Dann trippelte Lisbeth in die ungeheizte, im Winter bitter kalte Kammer ihrer Mutter und legte sich zu ihr ins Bett. Diese Nähe zum weiblichen Familienvorstand musste sie weder mit der um zehn Jahre älteren Halbschwester noch, zumindest in späteren Jahren,...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
ISBN-10 | 3-7693-5976-3 / 3769359763 |
ISBN-13 | 978-3-7693-5976-3 / 9783769359763 |
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