Fragen hätte ich noch -

Fragen hätte ich noch (eBook)

Geschichten von unseren Großeltern
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-03973-046-9 (ISBN)
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Das Leben meiner Großeltern: Was weiß ich darüber? Diese Frage wollte Wolfram Schneider-Lastin für sich und sein privates Umfeld beantworten. Doch es geschah Unerwartetes: Seine Familienerinnerungen waren für viele seiner Freundinnen und Freunde ein Anstoß, sich selbst zu erinnern und eigene Geschichten zu erzählen. Lange Zeit Verschüttetes kam zutage, zeithistorisch Spannendes, Berührendes, aber auch Schmerzhaftes. Die Idee - inzwischen zu einem Buch­projekt geworden - zog weitere Kreise und Wolfram Schneider-Lastin begann, gezielt auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller zuzugehen und sie nach ihren Großeltern zu befragen. So ist eine vielfältige Sammlung von Erzählungen entstanden, in der sich das 20. Jahrhundert in seinen schrecklichen Facetten spiegelt, aber auch in Momenten von Glück. Die Spuren­suche der Enkelkinder führt quer durch die Schweiz, nach West- und Ostdeutschland, Österreich, Italien, Ungarn, Polen, Israel und Pakistan.

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere - nach der Promotion über Johann von Staupitz - an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht. Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Lukas Hildebrand (D), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

Wolfram Schneider-Lastin, geboren 1951 in Schwäbisch Gmünd, studierte Schauspiel, Germanistik, Geschichte, Altphilologie und Kunstgeschichte an den Hochschulen Stuttgart, Tübingen, Wien und Rom. Seit 1988 lebt er in der Schweiz, wo er seine wissenschaftliche Karriere – nach der Promotion über Johann von Staupitz – an verschiedenen Universitäten und als Redakteur der Zeitschrift Librarium fortsetzte. Als Schauspieler hat er sich vor allem mit literarischen Lesungen einen Namen gemacht. Die Autorinnen und Autoren: Fabio Andina (CH), Esther Banz (CH), Nelio Biedermann (CH), Sabine Bierich (D/CH), Zora del Buono (CH/D), Alex Capus (CH), Verena Dolovai (A), Daniela Engist (D), Oded Fluss (ISR/CH), Romana Ganzoni (CH), Roswitha Gassmann (CH), Alice Grünfelder (D/CH), Lukas Hildebrand (D), Gottfried Hornberger (D), Waseem Hussain (PAK/CH), Markus Knapp (D), Andreas Kossert (D), Martin Kunz (CH), Hanspeter Müller-Drossaart (CH), Christa Prameshuber (A), Helmut Puff (D/USA), Klemens Renoldner (A), Christian Ruch (D/CH), Ariela Sarbacher (CH), Thomas Sarbacher (D/CH), Herrad Schenk (D), Gerrit Schneider-Lastin (DDR/CH), Wolfram Schneider-Lastin (D/CH), Ruth Werfel (CH), Anke Winter (D/CH)

Andreas Kossert
»Ist es nicht herrlich, unser Lodz?«


Meine Großmutter Else passte nicht an diesen Ort. Stets schien sie am falschen Platz zu sein. Die westdeutsche Provinz, wohin sie die Wogen des 20. Jahrhunderts gespült hatten, blieb ihr fremd. Wie ein Schuh, der nicht passen wollte, war es nicht ihr Ort, nicht ihr Land und nicht ihre Zeit.

Meine Großmutter entstammte einer anderen Epoche. Vieles an ihr blieb unergründlich, geheimnisvoll, exotisch und furchtbar altmodisch. In ihrem Garten wuchsen seltsame Kräuter, zu denen Boretsch, Estragon, Liebstöckel und Unmengen Dill gehörten. Dill nutzte sie als kulinarische Allzweckwaffe, die sie schonungslos einsetzte. Und der Knoblauch unterschied sie endgültig von den deutschen Köchinnen. Ihre Küche kam nicht ohne Knoblauch aus, lange bevor er – so die Legende – dank den türkischen Gastarbeitern in den deutschen Kochtöpfen Einzug hielt. Dutzende von dicken, teils noch erdigen Knoblauchknollen hingen in ihrem Freisitz – so nannte sie die überdachte Terrasse – an Haken und Schnüren von den Holzbalken. Täglich kaute sie eine Knoblauchzehe, ihr Patentrezept für eine gesunde Lebensführung. Wenn wir in den Sommerferien bei ihr Urlaub machten, saß sie abends mit uns im Freisitz unter den Knoblauchbündeln. Dann hatte sie bereits ihr Tagwerk erledigt und war eigentlich schon bettfertig. Über ihrem Nachthemd trug sie einen hellblauen gesteppten Hausmantel mit Blumenmuster, der auf uns schrecklich altertümlich wirkte. Ihre silberne Haarpracht hatte Else für die Nacht mit einem Netz bedeckt, während ihre braun-glatte Haut dick mit Nivea eingecremt war. Sie schwor auf das Original mit dem weißen Schriftzug auf blauer Dose.

Das Erscheinungsbild meiner Großmutter entsprach kaum dem einer Land-Oma ihrer Generation, von denen viele Kittelschürze trugen und geduckt gingen. Else schien vom Schicksal nicht gebeugt, sondern schritt kerzengerade durchs Leben, ohne dass es künstlich wirkte. Sie war von kleiner Statur mit vollem Busen. Ihr dunkler, mediterraner Teint wurde durch ihre grünen Augen verstärkt. Mal strahlte sie, mal lächelte sie freundlich, aber gelegentlich blickte sie auch so streng, dass sie ihr Umfeld einschüchterte. Eine aus der Zeit gefallene Dame, die meistens ein Kostüm trug, manchmal moderne Hosen. Ihr Innerstes fremdelte mit dem Ort, an dem sie zu leben gezwungen war, das spürte jeder. Else kam aus der Großstadt. Gezwungenermaßen lebte sie nun in einem Dorf, doch im Herzen hielt sie der großen Stadt – ihrer Stadt – die Treue: Lodz.

Mit jedem Satz verriet sie sich. Ein merkwürdiges Deutsch. Manchmal fanden wir es ulkig, manchmal war es uns einfach peinlich. Seltsame Wörter kamen über ihre Lippen, die sie aus ihrer Vergangenheit mitgebracht hatte und mit tiefer Stimme klar und deutlich betonte. Ihr R rollte sie halsbrecherisch hart, sprach von Hiehnern und Kiehen, von der Tramwaj, von Gamaschen und Manchesterhosen, ein wenig war bei ihr a bissl, den Teekessel nannte sie czajnik. Die Enkel waren ihre wnuczki, Bonbons landrinkes – ich erinnere mich besonders an die polnischen Kuhbonbons, krówki, die an den Zähnen klebten –, das Finanzamt das urząd skarbowy. Else sprach das Amalgam einer multiethnischen Textilmetropole, die Mundart der deutschsprachigen Minderheit im polnischen Lodz, einen Dialekt, der gespeist war aus verschiedenen deutschen Mundarten, gespickt mit polnischen und jiddischen Wörtern.

Lodz, das polnische Manchester, wie manche die zweitgrößte Stadt Polens nannten, war ihr ganzer Stolz. Dorthin führten alle ihre Erzählungen. Bereits als Kind kannte ich die Straßen jener Stadt im fernen Osten, ohne je dort gewesen zu sein. Ihre Namen klangen wie Musik in meinen Ohren. Ausgangspunkt war stets die schnurgerade Hauptstraße, die die Metropole von Süd nach Nord durchzog, die Piotrkowska, an deren Ende sich der imposante Freiheitsplatz – Plac Wolności – mit Rathaus und evangelischer Trinitatiskirche anschloss. Den großen Markt im weitgehend jüdisch geprägten Bałuty, den Bałucki Rynek, den Else Bazares nannte, stellte ich mir wie einen orientalischen Souk vor. Noch vertrauter klangen die Namen jener Orte, an denen sie aufgewachsen war. Sie rezitierte die Straßennamen wie ein Lied … Aleksandrowska, Zgierska, Sierakowskiego. Zum Hintergrundrauschen meiner Kindheit gehörten die Stadtteile Żubardz, Bałuty, Radogoscz, Żabieniec … Wie im Schlaf konnte ich alle Namen aussprechen, ohne damals auch nur ein Wort Polnisch zu beherrschen. Nirgendwo auf der Welt gab es für Else einen vergleichbaren Ort. Jener Mikrokosmos in der mittelpolnischen Tiefebene blieb ihr mentales Koordinatensystem, obwohl er unerreichbar geworden war.

Else war ein Kind des späten Zarenreichs, als Lodz am westlichen Ende des russischen Imperiums lag. Ihre Eltern waren wohlhabend, zu ihrem Vermögen zählten Mietshäuser und Baugrundstücke. Früh erfuhr ich von den Textilmagnaten, die einst den Wohlstand von Lodz begründet hatten und deren Fabriken die Stadt prägten, hörte von Scheibler & Grohmann, von Buhle, von Poznański. In Lodz tickten die Uhren anders. Die Fabriksirenen gaben den Tagesablauf an, was anderswo die Kirchenglocken taten. Die Lodzer Fabriken verfügten über unterschiedliche Signaltöne, damit die Arbeiter sie ihrem Arbeitgeber zuordnen konnten. Else erzählte vom jüdischen Lodz, von ihren Spielfreundinnen Ester und Hannele, dem Nachbarn Kraut Mojsze, vom Laubhüttenfest Sukkot mit den eigens zum Fest errichteten Zelten auf Straßen und in Hinterhöfen, von Mazze und Pessach. Von ihren polnischen Nachbarn, von festlichen katholischen Prozessionen, von Pan Artur, Pani Borkowska, von Marysia und Tosia. Von Besuchen im feinen Grand Hotel schwärmte Else ebenso wie von den Einladungen bei ihrer geliebten Tante Meissnern, die sie in ihrer prachtvollen Stadtwohnung mit Bergen von Kuchen verwöhnte. Von der Armut der Mietshäuser, in denen Arbeiterfamilien mit vielen Kindern auf engstem Raum lebten und wo noch ein Handwebstuhl in den dunklen Wohnstuben stand. Elses Erzählungen waren so eindrücklich, dass ich die Geräusche der Hinterhöfe, das Kindergeschrei und das Klappern der Weberschiffchen zu hören glaubte.

Als junge Frau erlebte sie glückliche Jahre in der Zweiten Polnischen Republik. Doch der 1. September 1939 veränderte alles. Vom ersten Tag an war der Zweite Weltkrieg für Else kein fernes Geschehen. Das Grauen fand buchstäblich vor ihrer eigenen Haustür statt. Die deutschen Besatzer hatten Elses Heimatstadt zur Zentrale für Deportationen und Massenmord erkoren. Bereits 1940 errichteten sie unweit von Elses Wohnung das erste Getto für die jüdische Bevölkerung. Aus Lodz machten die Nazis Litzmannstadt. Es sollte Symbol für unvorstellbare Verbrechen werden.

Als Lodz am 19. Januar 1945 befreit wurde, stand Else als Deutsche auf der Seite der Geächteten. Aus ihrem Haus gejagt, war sie mit ihren Kindern – sieben und drei Jahre alt – und ihrer Mutter obdachlos. Dann wurden alle einheimischen Deutschen inhaftiert. Else kam in ein sowjetisches Arbeitslager. Ihre größte Sorge galt ihren Kindern, von denen sie im Lager getrennt war. Die Kleinen überlebten, indem sie von sowjetischen Soldaten Essenreste erbettelten. Was Else im Lager erlebte, behielt sie für sich. Nur manchmal deutete sie an, dass sich viele internierte Frauen das Leben nahmen. Doch Else gab nicht auf, unermüdlich kämpfte sie für ihre Familie. Nach gut einem Jahr nutzte Else ihre russischen Sprachkenntnisse, um auf abenteuerliche Weise aus dem Lager zu entkommen. Auf einem sowjetischen Militär-LKW floh sie mit ihren Kindern und ihrer Mutter quer durch Polen. Mehr als zwei Jahre einer Odyssee lagen hinter ihr, als sie 1947 über das Rote Kreuz erfuhr, dass ihr Mann, mein Großvater Paul, den Krieg überlebt hatte.

Höchste Zeit, endlich von Paul zu erzählen. Er war zu diesem Zeitpunkt aus britischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden und schlug sich als Knecht bei einem Bauern durch. Zuvor war Paul Soldat in der polnischen Armee gewesen, hatte 1939 gegen die Deutschen gekämpft und war in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Später galt er als »Volksdeutscher« und musste in eine neue – die deutsche – Uniform schlüpfen. Zwei Uniformen, in einem Krieg.

Wie Else war auch Paul noch im Zarenreich geboren, doch eigentlich waren beide mit Leib und Seele Kinder der Zweiten Polnischen Republik, die 1918 das geschundene Land wiedererstehen ließ. Beide sprachen fließend Russisch, aber Polnisch – das war ihre Sprache. Wenn sie miteinander Polnisch redeten, erlebten wir bei Else und Paul eine seltsame Verwandlung. Plötzlich waren sie ganz andere Persönlichkeiten. Solange mein Großvater lebte, war Polnisch allgegenwärtig, vor allem dann, wenn wir etwas nicht verstehen sollten. Auf Polnisch kam selbst der ansonsten wortkarge Paul in Plauderlaune. Wenn die weit verstreut lebenden Verwandten, die Tanten Tabea, Olga, Genia, Lydia, Wanda und Leokadia oder die Onkel Roman, Ludwik und Zenon auf Besuch kamen, dominierte der weiche Klang der polnischen Sprache, schienen alle lebendiger, authentischer und um vieles gelöster. Meine Großeltern sangen mit mir die Nationalhymne Noch ist Polen nicht verloren – Jeszcze Polska nie zgineła, die ich irgendwann auswendig und fehlerfrei singen konnte. Im Esszimmer sangen wir gemeinsam, Else und Paul hatten stets Tränen in den Augen. Beide waren völlig unmusikalisch, vor allem Else sang...

Erscheint lt. Verlag 6.9.2024
Reihe/Serie Edition Blau
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Anthologien
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Alex Capus • Alice Grünfelder • Andreas Kossert • Anke Winter • Anthologie • Ariela Sarbacher • Christa Prameshuber • Christian Ruch • Daniela Angist • Eltern • Enkel • Erinnerung • Erster Weltkrieg • Erzählen • Erzählung • Esther Banz • Fabio Andina • Familie • Flucht • Gedächtnis • Generationen • Gerrit Schneider-Lastin • Geschichten • Gottfried Hornberger • Grosseltern • Grossmutter • Grossvater • Hannes Binder • Hanspeter Müller-Drossaart • Helmut Puff • Herrad Schenk • Holocaust • Klemens Renoldner • Lukas Hildebrand • Markus Knapp • Martin Kunz • Nelio Biedermann • Oded Fluss • Oma • Opa • Romana Ganzoni • Roswitha Gassmann • Ruth Werfel • Sabine Bierich • Thomas Sarbacher • Verdrängen • Verena Dolovai • Vergessen • Vorfahren • Waseem Hussain • Wolfram Schneider-Lastin • Zeitgeschichte • Zora del Buono • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-03973-046-0 / 3039730460
ISBN-13 978-3-03973-046-9 / 9783039730469
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