Der letzte Cimamonte (eBook)
496 Seiten
Atlantis Literatur (Verlag)
978-3-7152-7542-0 (ISBN)
Matteo Melchiorre, geboren 1981, Studium der Geschichte an der Universität Ca' Foscari in Venedig, leitet die Bibliothek des Museums von Castelfranco Veneto. Nach verschiedenen Sachbüchern zum Thema Berge und Wälder erschien 2022 sein erster Roman Der letzte Cimamonte beim bekannten Turiner Verlag Einaudi. Das Buch, mit dem die Kritik ihn in moderner Nachfolgerschaft von Alessandro Manzoni oder Umberto Eco sieht, sorgte in Italien für großes Aufsehen, war nominiert für den Premio Strega und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
Matteo Melchiorre, geboren 1981, Studium der Geschichte an der Universität Ca' Foscari in Venedig, leitet die Bibliothek des Museums von Castelfranco Veneto. Nach verschiedenen Sachbüchern zum Thema Berge und Wälder erschien 2022 sein erster Roman Der letzte Cimamonte beim bekannten Turiner Verlag Einaudi. Das Buch, mit dem die Kritik ihn in moderner Nachfolgerschaft von Alessandro Manzoni oder Umberto Eco sieht, sorgte in Italien für großes Aufsehen, war nominiert für den Premio Strega und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.
I. Der Rücken des Drachen
Erstes Kapitel
Es waren etwa zehn Krähen. Sie schimpften. Kreischten.Flatterten herum. Blindwütig, zornig. Sie flogen wild kreisend in einem wütenden Gedränge hoch, sich aufeinanderstürzend. Dann plötzlich zerstreuten sie sich, stoben in verschiedene Richtungen davon, und im leer gefegten Himmel blieb ein einziges wirres Flügelschlagen zurück, ein zankendes Bündel, das sich drehte, herumwirbelte und schließlich, wie von einem Gewehrschuss getroffen, Schnabel voran ins Leere stürzte.
Doch kaum war dieses Bündel auf dem Boden gelandet, genau im Hof der Villa, erkannte ich einen Mäusebussard: offener Schnabel, grausamer Blick, gesenkte Flügel. Er drückte mit den Krallen eine schwarze junge Krähe zu Boden; die schlug mit den Flügeln, verdrehte den Kopf, wand sich in Qualen, zuckend, um sich zu befreien.
Ich fand es richtig, einzuschreiten. Ich hob eine Handvoll Kies auf und ließ ihn in Richtung dieses dramatischen Kampfs regnen, in der Hoffnung, er würde sich so ohne Blutvergießen auflösen. Der Mäusebussard war davon kaum beeindruckt. Er schlug zweimal mit den Flügeln, flog auf, schleppte die Krähe mit sich fort, einen Halbkreis über den Häusern von Vallorgàna beschreibend, und kurz darauf war er in der Ferne verschwunden, mit den kahlen Wäldern der Berge verschmolzen.
Der Fall schien mir ungewöhnlich, geradezu wundersam. Üblicherweise ist der Ausgang der nicht selten stattfindenden Gemetzel zwischen Bussarden und Krähen im Himmel über Vallorgàna ein anderer, grausame Auseinandersetzungen, die einen althergebrachten Groll vermuten ließen. Sobald die Krähen den Ruf des Mäusebussards am Himmel hören, steigen sie wie von der Leine gelassen auf. Sie umkreisen den Bussard, schreiend und Volten drehend, attackieren ihn mit dem Schnabel, der Reihe nach, in einem fort. Der überraschte, ungläubige Raubvogel, in der Linie seines Fluges für einen Augenblick gestört, schlägt ungeschickt mit den Flügeln. Doch schließlich kommt der Augenblick, in dem sich eine Lücke auftut und er nach oben schießt; denn dort oben, im freien Himmel, gibt es eine Grenze, die der Bussard überfliegt, der die Krähen sich nicht einmal zu nähern wagen. Ist diese Grenze erreicht, steigt er mit gespannten Flügeln auf, schwebend, während die Krähen sich zerstreuen. Sie ziehen Siegeskreise und sinken langsam wieder herab, zufrieden, in ihre alltäglichen Lagen.
Das ist die Regel, weshalb man im Himmel über der Villa, auf den Wiesen rund um Vallorgàna und in den Wäldern, die im gesamten Val Fonda wuchern und die Berge hinaufklettern, die Krähen inzwischen nicht mehr zählen kann. Darüber hinaus sind sie unverschämt und anmaßend. Spielen sich als Herren auf. Sie kreuzen den Himmel in Scharen. Flitzen im Tiefflug dahin, dicht über der Wiese oder um die Häuserecken. Sie gleiten dahin, wo es ihnen gefällt. Sie picken auf den Feldern. Sitzen aufgereiht auf Zäunen. Rufen sich etwas zu. Wühlen unter den Hecken. Setzen Posten auf Dächer und die höchsten Bäume. Kurz, sie überwachen das Gelände, und jede Grenzüberschreitung wird gnadenlos geahndet.
Ich dachte also, wie die Dinge lagen, dass die vornehme Gleichgültigkeit der Mäusebussarde sich an diesem Tag, bei diesem aufsehenerregenden Zwischenfall in Rebellion verkehrt hatte, weil auch sie, die Mäusebussarde, und das ist verständlich, das herrische Gebaren der Krähen satthaben mussten. Die Auflehnung ist plausibel, sagte ich mir, doch ein Mäusebussard, der im Flug eine Krähe greift, sie mit sich in die Tiefe reißt, sie an den Boden nagelt und schließlich mit sich fortschleppt, bleibt dennoch eine außerordentliche Tatsache: Nie zuvor gesehen, noch nie davon gehört.
Deshalb schien mir, dass in einem solch ungewöhnlichen Vorkommnis auch etwas wie eine Weissagung liegen konnte; doch natürlich maß ich dem keinerlei Bedeutung bei. Ich nahm einen Armvoll Zweige und dickere Holzstücke vom Stapel, ging zurück in die Villa, befüllte den Kamin in der Küche, das heißt den ältesten all der alten Kamine der Villa, und wartete, bis die Flammen aufschlugen.
Doch wie es häufig in den Wochen der Unentschlossenheit zwischen Herbst und Winter geschieht, blieb mein Feuer schwach, zögernd. In der schwarzen Öffnung des Kamins erblickte ich nicht das behagliche häusliche Inferno des Winters. Stattdessen wehte mich ein Hauch Melancholie an.
Da hörte ich, wie es an einer der Fensterscheiben klopfte. Und dort, hinter dem Glas, stand Nelso Tabióna. Er betrachtete mich schweigend, einem gewissen Prinzip der Diskretion folgend, das er sich selbst auferlegte. Er fand tatsächlich, dass es angemessen wäre, so auf sich aufmerksam zu machen. Er kommt in den Hof, späht in die Fenster im Erdgeschoss, eins nach dem anderen, methodisch, und wenn er mich endlich entdeckt, bleibt er da stehen und wartet schweigend. Wenn ich ihn bemerke, gut. Wenn nicht, dann klopft er eben mit den Knöcheln an die Scheibe. Einmal habe ich Nelson mit gebührendem Respekt zu sagen versucht, dass diese Methode vielleicht ein wenig fragwürdig sei. Er war beleidigt. Seiner Meinung nach lag hier keineswegs Dreistigkeit vor, sondern lobenswerte Rücksichtnahme, ausnehmende Diskretion.
Nelso, und in Vallorgàna sagt man, dass dies in der Natur aller Tabiónas liege, ist kein Mann, der in Erwägung zöge, er könne sich irren, der an sich zweifeln würde, an den eigenen Einstellungen oder Handlungen. Demzufolge neigt er sowohl zu großen Taten als auch dazu, sensationelle Geschichten über sie zum Besten zu geben; und auch das wird im Dorf den ererbten, charaktereigenen Instinkten der Tabiónas zugeschrieben. Wenn Nelso erzählt, er habe einen Hirsch gesehen, ist es ein Hirsch mit einem Geweih, das an Größe diejenigen aller anderen Hirsche der Welt übertrifft. Wenn er einen Baum gefällt hat, ist er so groß, dass niemand außer ihm, dem König der Holzfäller, sich träumen ließe, es mit ihm aufzunehmen. Es kann vorkommen, dass er in die Berge fährt, im Jeep, ohne Schneeketten, bei dichtem Schneefall, und mit dem Anhänger voller Holz an einer Stelle wendet, wo nicht einmal eine Schubkarre hätte umdrehen können.
So einem Mann, im Übrigen der Mensch, der mir im Dorf am vertrautesten ist und der noch dazu, als genüge diese Aura der großen Taten nicht, ein Alter erreicht hat, dass er mein Vater sein könnte, wie er gern betont, so einem Mann, sagte ich, muss man bereit sein zuzuhören und die eigene Bedeutungslosigkeit einzugestehen. Einerseits, und andererseits sollte man doch auch Standhaftigkeit, Entschlossenheit und Nützlichkeit demonstrieren, denn ein nicht standhafter, nicht entschlossener, nutzloser Mann ist in Nelsos moralischem System die schlimmste aller Schanden.
Deshalb bedeutete ich ihm an diesem Tag, nachdem er an die Scheibe geklopft hatte, einzutreten und stellte dabei eine gewisse herrische Forschheit zur Schau. Nelso deutete auf seine schmutzigen Bergschuhe, die Wollmütze, die Militärjacke, die Zigarette in der Hand. Er schüttelte den Kopf. »Reinkommen!«, sagte ich zu ihm. Also drückte er die Zigarette an der Schuhsohle aus, steckte den Stummel in eine seiner Jackentaschen und trat ein.
In seinen Augen lag ein Hauch von Streitlust und Ärger. Offensichtlich erwartete er, dass ich ihn zahm und scheu dazu befragen würde, was ihn bewegte. Doch ich wollte ihn herausfordern. Kaum hatte er sich an den Tisch gesetzt, erzählte ich ihm, dass ich, der ich hier vor ihm stand, obgleich seiner Gegenwart unwürdig, kurz zuvor etwas gesehen hatte, das er nicht nur niemals erlebt hatte, sondern sich auch nie hätte träumen lassen. Und nachdem solcherlei Provokationen Nelsos Blut wie nichts anderes in Wallung brachten, schloss er die Augen und schüttelte den Kopf. »Von wegen!«, sagte er.
Ich erzählte ihm von dem Krähentumult oben am Himmel, wie das Bündel aus Krähe und Mäusebussard zu Boden stürzte; wie der Mäusebussard die Krähe im Hof zur Erde drückte, wie ich eine Handvoll Kies warf und der Mäusebussard mit der Krähe in den Krallen davonflog.
Konnte Nelso Tabióna mir vielleicht einen, wenngleich minimalen, Erfolg zugestehen? Sicher nicht. Er sagte, das sei unmöglich: Zehn Krähen gegen einen Mäusebussard, daraus gingen die Krähen als sichere Sieger hervor; und gewänne aus Versehen einmal der Bussard, wäre es doch undenkbar, dass ein Bussard, zugegeben ein starker Vogel, einen schweren Vogel wie eine Krähe in die Luft hebt und sie fortträgt wie eine Maus.
Doch ich beharrte darauf, sagte zu Nelso, dass ich sicher sei, gesehen zu haben, was ich gesehen hatte, und fügte auch meine Erklärung an: Der Mäusebussard hatte sich rechtmäßig gegen die sich allzu herrisch gebärdenden Krähen an unseren Himmeln erhoben.
Zu meiner Überraschung erklärte Nelso da, wenn es einen einheimischen Vogel gäbe, der sich gegen die Krähen auflehnen könne, wäre es sicher nicht der Mäusebussard; weiterhin gab er zu, dass ich nicht irrte, wenn ich sagte, dass die Krähen sich herrisch gebärden, denn die zahlenmäßige Zunahme der Krähen sei unübersehbar. Und die sei, so Nelso, eine Neuigkeit der letzten Jahre, eine der vielen Folgen, die ihm natürlich im Einzelnen bekannt waren, der schlimmen Zeiten, in denen wir lebten. »Auch du wirst bemerken«, sagte er zu mir, »dass in Vallorgàna eine Beerdigung die andere jagt. Wir gehen. Die Krähen kommen. So sieht es aus.«
Dann fügte er hinzu, dass wir es in diesen schlimmen Zeiten mit Krähen zu tun hätten, die darüber hinaus ganz anders seien als die früheren. Unsere seien mutiger, listiger, verwegener, Krähen, in deren...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2024 |
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Übersetzer | Julika Brandestini |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alp • Bergdorf • Dorfgesellschaft • Entvölkerung • Italien • Kleinkrieg • Kulturwandel • Liebe • untergehender Adel • Veneto • Villa • Wald • Wolf |
ISBN-10 | 3-7152-7542-1 / 3715275421 |
ISBN-13 | 978-3-7152-7542-0 / 9783715275420 |
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