Die Gleichzeitigkeit der Dinge (eBook)
224 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8096-7 (ISBN)
Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er-Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 debütierte sie mit dem Roman »In Sachen Joseph«, der für den aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2012 legte sie den vielgelobten Nachfolger »Das Glück von Frau Pfeiffer« vor und 2013 den Geschichtenband »Fragen Sie nach Fritz«. 2014 erschien »Der tadellose Herr Taft« sowie zuletzt die Romane »Hier sind Drachen« (2017) und »Land sehen« (2018) im Berlin Verlag. Jüngst wurde ihr der renommierte Literaturpreis der Konrad Adenauer Stiftung (2019) verliehen. Husch Josten lebt heute wieder in Köln.
Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er-Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 debütierte sie mit dem Roman »In Sachen Joseph«, der für den aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2012 legte sie den vielgelobten Nachfolger »Das Glück von Frau Pfeiffer« vor und 2013 den Geschichtenband »Fragen Sie nach Fritz«. 2014 erschien »Der tadellose Herr Taft« sowie zuletzt die Romane »Hier sind Drachen« (2017) und »Land sehen« (2018) im Berlin Verlag. Jüngst wurde ihr der renommierte Literaturpreis der Konrad Adenauer Stiftung (2019) verliehen. Husch Josten lebt heute wieder in Köln.
Sourie freute sich auf den Tod. Davon erzählte er – mein durchaus lebensfroher junger Stammgast – Tessa an dem hellblauen Septembertag, als die beiden in meinem Restaurant auftauchten. Sie miteinander zu sehen, war so verwirrend wie die zufällige Begegnung mit Menschen, die man sonst nur in einer bestimmten Umgebung trifft und in jeder anderen nicht zuordnen kann. Ich wusste nicht, dass sie sich kannten, und da sie derart unterschiedlichen Bereichen meiner Welt angehörten, kam ihr Zusammentreffen für mich der Kollision zweier Planeten gleich. Bezeichnenderweise fiel ihre Begegnung in das Jahr, in dem der heißeste Sommer seit Beginn der Messungen verzeichnet wurde, die Weltbevölkerung erstmals die Acht-Milliarden-Marke überschritt und sich allerorten eine diffuse Unruhe ausbreitete. Es war das Jahr, in dem das kollektive Empfinden, dass sich die Dinge ändern mussten, zur alarmierenden Gewissheit wurde, worauf alle politischen Lager in sämtliche Himmelsrichtungen losstürmten. Und jeder und jede Einzelne stürmte schließlich auch noch irgendwohin, erschrocken, überrumpelt, ratlos.
Erst als Sourie mich darüber aufklärte, dass sie einander im Pflegeheim begegnet waren, wo er als Pförtner arbeitete, fiel mir wieder ein, dass Tessa zwei oder drei Jahre zuvor von Sorgen um ihre Eltern erzählt hatte. Ich hatte es vergessen, wollte zu einer Entschuldigung anheben, aber sie wehrte ab. Vor zwei Tagen war im Augustinus-Haus nur vier Monate nach ihrer Mutter auch ihr Vater gestorben. Eben hatte sie seine Sachen gepackt und abgeholt, sein Bett wurde benötigt. Sie hatte erwogen, seine Pyjamas, Hemden, Strickjacken, die Lieblingsdecke, Rasierapparat und Aftershave dort zu lassen und nie wieder anzufassen, zu riechen, anzusehen. Aber das war ihr pietätlos erschienen. Gerade erst, so wenigstens kam es ihr vor, hatte sie die Habseligkeiten ihrer Mutter aus den Schränken geräumt, Kleider, Röcke und Nachthemden gefaltet und in einen Koffer gelegt, ohne zu wissen, warum und für wen, es verreiste ja niemand. Damals war ihr Mann Hans bei ihr gewesen, um zu helfen, aber sein Mitleid hatte es nur schlimmer gemacht. Die weichen Blicke, seine hilflose Besorgtheit bei jedem Kleidungsstück, die Ehrfurcht vor dem Nageletui ihrer Mutter. So hatte sich Tessa geschworen, nie wieder einen Koffer im Heim zu packen und schon gar nicht im Beisein von Hans, der es gut meinte, das wusste sie natürlich.
»Aber Gutmeinende kann ich derzeit am allerwenigsten vertragen«, gab sie zu. »Ich habe es doch selbst als Fledderei empfunden, alles zu durchwühlen und mitzunehmen. Jeder einzelne Gegenstand tat weh. Ich hab mir gewünscht, Hans würde mich anbrüllen: Alles nur Krempel! Das hätte geholfen. Stattdessen hatte er Tränen in den Augen, als ein Pfleger ihm eine Papiertüte mit der Brille und dem Portemonnaie meiner Mutter überreichte. Deswegen bin ich heute allein ins Heim gegangen. Und an der Pforte hat er«, sie zeigte auf Sourie, »mich netterweise zum Essen eingeladen. Erst auf dem Weg über die Brücke ist mir klar geworden, dass sein Restaurant das Tobelmann ist, Johannes. Es ist schön, dich zu sehen. Schön, gerade heute jemanden zu sehen, der meine Eltern gekannt hat. Früher, meine ich …«
Ich nahm Tessa in die Arme. Sie war eine Freundin, wie es nur Menschen sein können, die schon immer da waren. Die miterlebt hatten, wie man als unbeschriebenes Blatt leichtsinnig genug gewesen war, der Welt unverstellt entgegenzutreten und Träume zu hegen, denen die Erwachsenenwelt bestenfalls skeptisch begegnet war. Sie hatte die ihren vor vierzig Jahren konsequent verfolgt, war Fotografin geworden. Ich hatte meinen Traum vom Schriftsteller-Dasein bald an den Nagel gehängt, was sie taktvoll nie kommentierte. Trafen wir uns, was nicht allzu oft geschah, knüpften wir mühelos an, wo wir aufgehört hatten, gingen unserer Wege, trafen uns wieder. Im Alter von fünfzehn hatte sie mir mit ihren roten Locken und Efeu-Augen zeitweise den Kopf verdreht, aber gegen Hans Blumenkamp war niemand angekommen. Die beiden waren praktisch seit dem Abitur verheiratet, und wie zur Demonstration, dass sich daran nichts änderte, traf allweihnachtlich ein Fotogruß von ihnen ein. Ich ließ ihn alle Jahre wieder unbeantwortet – Weihnachtskarten habe ich noch nie etwas abgewinnen können. Nicht einmal denen von Tessa, die keine glücksposaunende Familienaufstellung, sondern schnörkellose Winterimpressionen schickte.
Ich platzierte die beiden an Souries angestammtem Tisch nahe der Bar, holte einen leichten Pfälzer Weißwein und setzte mich dazu.
»Wir kennen uns vom Sehen«, erzählte Sourie, der den Zufall unserer Zusammenführung offenbar nicht weiter bemerkenswert fand. »Schon lange. Haben uns nie länger unterhalten, aber ich wusste natürlich, dass ihr Vater vorgestern verstorben ist. So kamen wir ins Gespräch.«
Ich wunderte mich, dass er sich wie ein Schuljunge erklärte.
»Jedenfalls sprachen wir über frühere Zeiten: Kindheit, Jugend.«
»Die Zeit, in der keiner an den Tod denkt«, ergänzte Tessa. »Er hatte keinen Platz. Natürlich war er da. Jeden Tag in den Nachrichten oder in Filmen. Aber er fand ausschließlich woanders und weit weg statt, nicht wahr? Man konnte ihn mit der Fernbedienung ausknipsen. Also haben wir ihn in absurde Theorie gewickelt und für später auf dem Dachboden verstaut.«
Ich nickte nur.
»Als sie das sagte, hatte ich eine Idee«, verkündete Sourie. »Tessa hat mich auf einen Gedanken gebracht, und so habe ich sie zum Essen überredet. Man muss den Tod aus seiner Verpackung wickeln und vom Dachboden herunterholen, verstehst du?«
»Nicht ganz …«, gestand ich, aber seinen Überlegungen war gelegentlich schwer zu folgen. Manchmal kam es dem flüchtigen Lesen von Plakaten oder Werbebannern gleich, wenn das Gehirn in aller Schnelle Buchstaben falsch zusammensetzt. Erst vor wenigen Tagen war im Vorbeifahren für mich aus der Werbung für einen Firestick ein Restfick geworden, worauf ich dann doch angehalten und erneut gelesen hatte. Mit Souries rasanten Gedankensplittern, nein, mit ihm selbst verhielt es sich ähnlich. Worte zerbröselten an seinem Wesen, zerfielen in ihre Einzelteile, bezeichneten ein paar seiner Eigenschaften, schlossen jedoch die entgegengesetzten aus, die genauso zu ihm gehörten. Sourie war – anders. Zu alt für seine siebenundzwanzig Jahre. Verblüffend belesen. Zwingend. Immer liebenswürdig. Schrullig. Spielerisch. Er übte eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich bis heute kaum erklären kann und der ich mich von Anfang an nicht entziehen konnte, sosehr ich mich generell bemühte, persönliche Kontakte zu meiden. Aber er war die Ausnahme, seit er zweieinhalb Jahre zuvor erstmals zum Essen gekommen war. Da hatte ich als Nachfolger meines Vaters, Groß- und Urgroßvaters gerade das Tobelmann übernommen, und mit der Selbstverständlichkeit zweier Menschen, die es nicht darauf anlegten, waren wir im Laufe der Zeit so etwas wie Freunde geworden. Nicht im herkömmlichen Sinn von Freundschaft. Wir verabredeten uns nicht, gingen nicht gemeinsam zu Konzerten oder ins Kino, unternahmen keine Ausflüge und trafen uns auch nicht in seiner oder meiner Wohnung. Wir sahen uns, so hatte es sich eingespielt, ausschließlich in meinem Restaurant. Wenn alle Gäste gegangen waren, saßen wir zusammen, redeten über alles und nichts, spielten Backgammon, tranken Wein, oder er half mir, wenn ich aufräumte, etwas in der Küche sortierte. Meine Belegschaft wurde nicht müde, uns damit aufzuziehen, was ein junger Kerl wie Sourie an einem doppelt so alten wie mir interessant finden mochte, und vermutlich war es wirklich der Altersunterschied, der mich davon abhielt, ihn meinen Freund zu nennen. Es machte mich verlegen, jemanden so zu bezeichnen, der mein Sohn sein konnte.
»Botschafterin gegen Einsamkeit!«, rief er. »Ist das nicht eine fabelhafte Idee? Viele unserer Bewohner erhalten nie Besuch. Für sie ist es ein Geschenk, wenn jemand kommt und mit ihnen spricht.«
Tessa nahm ein Stück Baguette, aß aber nicht.
»Ich wundere mich, dass ich nicht schon längst darauf gekommen bin«, sprach Sourie weiter. »Denk daran, was ich immer sage: Man muss sich dem Tod nähern. Nicht nur, wenn er einen selbst angeht, sondern man sollte sich frühzeitig mit ihm beschäftigen. Mit seiner Allgegenwart. Damit, dass er jeden, absolut jeden betrifft. Und gleichzeitig macht man alten Leuten eine Freude, die niemanden mehr haben.«
»Er hat mir das vorgeschlagen.«...
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-8270-8096-7 / 3827080967 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8096-7 / 9783827080967 |
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