Von Büchern und Menschen (eBook)

Begegnungen fürs Leben
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
176 Seiten
Schöffling & Co. (Verlag)
978-3-7317-0012-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von Büchern und Menschen -
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Wenn Menschen Bu?cher schreiben, lesen, vorlesen, in der Buchhandlung entdecken, kaufen, verleihen, verschenken, ist nicht abzusehen, welche Kettenreaktionen das auslöst. An manche besondere Lektüre, an literarische Sternstunden oder Begegnungen mit anderen Buchmenschen erinnert man sich ein Leben lang.Dieser Band versammelt viele solcher Momente aus der literarischen Welt und heitere Einblicke in das Leben zwischen den Bücherstapeln. Wahre und erfundene Geschichten von Ines Berwing, Mirko Bonné, Carolin Callies, Mara-Daria Cojocaru, Franziska Gerstenberg, Susan Kreller, Gert Loschütz, Elsemarie Maletzke, Anna-Elisabeth Mayer, Anselm Oelze, Inka Parei, Lilli Polansky, Sascha Reh, Jana Scheerer, Silke Scheuermann, Margit Schreiner, Burkhard Spinnen, Jürgen Teipel, Julia Trompeter, Jan Wilm und anderen.

Jan Wilm
Grişautomat. Versuch über das Spiel des Lesens


Alles begann auf dem Tibidabo, einem der beiden Stadtberge von Barcelona, im Jahr 1991, bevor die Olympischen Spiele im darauffolgenden Jahr und die folgenschweren Touristenfluten die Stadt für immer veränderten. Ganz oben auf dem Tibidabo thront ein Vergnügungspark. 1899 erbaut, wurde er kurz darauf, nach Überquerung der Jahrhundertschwelle, fürs Publikum geöffnet und ist bis heute einer der ältesten noch betriebenen Freizeitparks der Welt geblieben.

Mich interessierten damals nicht die Adrenalinkitzler wie Kettenflieger und Achterbahn, sondern die eher literarischen Attraktionen. Denn damals wie immer schon war ich ein Leser, ganz gleich, ob ich ein Buch, einen Menschen oder eine Stadt vor der Nase hatte. Ich war auf diesen Berg gefahren, um das rätselhafte Spiegelkabinett zu besuchen, das geheimnisvolle Gruselhaus und ganz besonders das 1982 eröffnete Museu d’Autòmats.

Das Automatenmuseum hatte etwas Geisterhaftes. Es roch nach rostigem Metall und Staub. Die Wände, mit dunkelblauem Samt verhangen, verschluckten den Klang, der dem einer Spielhalle ähnelte. Vor den Samtwänden stand eine wahre Automatenparade von vier oder fünf Dutzend Maschinen aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. Der Großteil der Automaten bestand aus menschenhohen Glaskästen, vertikale, in Stahlgeometrie gefasste Rechtecke; darin hockten stumme Puppen, die auf eine Münze hofften, um zu singen, zu tanzen, Schach zu spielen, die Zukunft vorauszusagen oder eine Geschichte zu erzählen.

Für Jean Paul waren die Erzählautomaten, die man Bücher nennt, einfach »gedruckte Menschen«. Für mich waren diese erzählenden Automaten hier vor mir halbmenschliche Bücher. Ich schaute mir jede der Maschinen ganz genau an, auch wenn ich ihre Lieder und Geschichten nicht verstand – damals sprach ich noch kein Spanisch, lo siento mucho –, doch ausgerechnet der letzte der Automaten war der außergewöhnlichste. Vermutlich gerade deshalb hätte ich ihn beinahe übersehen.

Wie ich viel später herausfinden würde, war der Automat, der mein Leben veränderte, ein wortwörtlich literarischer Automat, ein Literaturautomat. In dem letzten automatisierten Glaskasten vor dem Ausgang saß ein Zauberer. Er trug einen Zylinder, sein Torso war mit einem Frack bekleidet, er hatte funkelnde, zufriedene, leicht geschlossene Augen, die tiefer und echter wirkten als die Augenpaare all der anderen Automatenpuppen. Ein verschmitztes Lächeln umspielte den Mund, der verziert war mit der graubuschigen Bürstenlinie eines Schnäuzers; das Gesicht war umrahmt von den Buchstützen eines wolkig weißen Backenbarts. Die untere Hälfte des Kastens, die das mechanische Innenleben verbarg, war mit dunklem Stahl verkleidet. Darauf standen in herzensroten abgerundeten Lettern drei Worte: ¡VIVA MARÍA! und daneben DIOGÈNE.

Damals grundlos, heute scheinbar wie geplant, ging für mich eine wunderliche Faszination von diesem Automaten aus. Ich mutmaßte häufig, dass die Anziehungskraft dieser Attraktion für mich im Namen des Automaten lag. Denn am oberen Ende des Glaskastens war ein Blechschild angebracht, auf dem in jugendstilhaften, gelackten Buchstaben ein merkwürdiges Wort prangte: GRIȘAUTOMAT. Der kleine Rosendorn an dem stacheligen S zog mich in Bann. Wie sprach man das Wort aus? Griesautomat? Grissautomat? Grischautomat?

Ganz gleich, wie er hieß, ich fütterte ihn mit den damals gängigen, schönen 25-Peseten-Münzen – die mit dem Loch in der Mitte –, worauf sich ein magischer, nahezu kosmischer Vorgang vor meinen Augen abspielte. Ich hörte die Münze in der dunklen Mechanik des Automatengewinkels herumrollen, für einen Augenblick wurde alles totenstill. Es schien mir, dass ich jetzt ganz allein hier war, umgeben von Dunkelheit und Schweigen. Und dann hörte ich ein verborgenes, zartschwaches Brummen, wie das gespenstische Grollen eines weit entfernten Sommergewitters.

Ein schwaches Licht flackerte auf, bis es den Glaskasten ganz ausfüllte, und die Puppe des Grișautomaten, der Zauberer Diogène, erwachte zum Leben. Sein vormals starres Gesicht schien weich zu lächeln, als vom Band eine lausbübische, aber feste Stimme sprach. Zu meiner riesigen Überraschung nicht auf Katalanisch oder Spanisch, sondern … auf Deutsch, und dazu noch mit einem dezent österreichischen Akzent.

Was ging hier vor sich? Warum sprach der Zauberer die folgenden Worte, denen ich mit der fieberhaften Aufmerksamkeit eines Kindes lauschte?

Stimm an die Jukebox! Magisches wird sich vollziehen: schieb eine Münze in den blechgestanzten Schlitz, stoße mit dem Ballen nach, rüde, brutal: der Zeitgeist wird ins Klingen kommen, dröhnend, klirrend, schmetternd, trommelfellsprengend: die Hand des Zeitgeists wird das Getöse auslösen, Hand eines jungen Ölprospektors, Tankwarts, Fernfahrers, Knabenhand und schon Werkmannspranke, sie kennt nur ein paar Griffe, mechanisch eingeübtes Zupacken, Zerren, Schieben, Drehen, Stoßen, sie kennt nicht den Müßiggang gelöster Finger, keine beredte Gebärde, die ein Wort umbaut, einen Gedanken räumlich werden läßt, eine Zärtlichkeit andeutet. Zeitgeisthand, kein Instrument mehr zur Auslösung sublimer Vorgänge, keine Hand, die malt wie die Piero della Francescas, keine Hand, die Töne zum Klingen bringt wie die Hände des Kindes Mozart, keine, die schreibt wie Eichendorff. Landsknechthand: Der Daumen ist hornhäutig vom Zählen des Solds, immer wieder schiebt er Geld über den Zeigefinger, der krumm ist vom Abzug der Schießwerkzeuge, blank vom Umgang mit Mordbesteck: Geldrafferhand – laß die Münzen zum Klingen bringen, schieb sie ein in den gestanzten Schlitz.

Ich war – in dieser Reihenfolge – verwirrt, begeistert, entgeistert, verblüfft. Weshalb war dieser Automat hier, warum war ich derart nebenbei auf ihn gestoßen? Zufall oder Schicksal? Am meisten packte mich dieser Automat, weil er von einem anderen Automaten sprach, weil er sich seiner Automatenartigkeit bewusst war.

Immer wieder ließ ich den Automatenzauberer Diogène seinen Automatenmonolog vorsprechen, so oft, dass ich ihn notieren und in den folgenden Monaten wieder und wieder lesen und lesen konnte. Ich übertrug den Text in meinen Geist, in meinen Körper, kerbte meine Erinnerung damit. Ich nahm ihn in mich auf, lernte ihn auswendig, durchs Herz oder mit dem Herzen, wie es im Englischen (by heart) oder im Französischen (par cœur), nur leider nicht im Spanischen oder im Deutschen heißt, auch wenn man sich durchaus etwas »zu Herzen nehmen« kann.

Manchmal stellte ich mir vor, dass sich irgendwo im Gewinkel meines Herzens, in den Kammern und Gefäßen und Beuteln, wo das Blut mein Leben ganz automatisch durch die Zeit pulsiert, diese Worte herumströmten, diese seltsam schöne Sprachflut mein Blut mit Poesie anreicherte.

Während der Text jeden meiner Herzschläge begleitete, vergingen Jahre. Ich ging in ein Büro und hörte auf zu träumen.

Exakt ein Jahrzehnt nach meiner sonderlichen Automatenbegegnung von Barcelona hörte ich während meiner stupiden Bürobeschäftigungstherapie etwas Radio. In einer Literatursendung wurde das Buch Kain von dem vor einigen Jahren verstorbenen Schriftsteller Gregor von Rezzori besprochen, der mir nichts sagte. Der Rezensent des Buches pries das Werk als einen großen letzten Wurf und bemerkte, dass der Autor darin die Entzauberung der Kunst durch die Konsumwelt beklage. Eine Lesestimme übernahm nun: Stimm an die Jukebox!

Verblüffung, Entgeisterung, Begeisterung, Verwirrung katapultierten mich aus meinem Stuhl. Da ist der Text!, rief ich aus und wurde von meinen damaligen Kolleginnen und Kollegen angestarrt, als hätte ich den Verstand verloren. Und genau das hatte ich auch! Mit einem Mal hatte ich den Verstand und das Verständnis für dieses Leben, in das ich mich wehrlos gefügt hatte, verloren, endlich.

In den folgenden Monaten fand ich heraus, dass Gregor von Rezzori, der 1914 in der Bukowina geboren wurde und 1998 in Italien verstarb, in den 1970er Jahren ein Geschenk gemacht wurde. Ein befreundeter Künstler hatte den GRIȘAUTOMATEN, den ich in Barcelona gesehen hatte, zu Rezzoris Geburtstag angefertigt im Gedenken an die Nebenrolle des Diogène, die Rezzori in Louis Malles Film Viva Maria neben Brigitte Bardot und Jeanne Moreau spielte. Das stachelige S mit dem Unterkomma war ein Buchstabe des rumänischen Alphabets, und während Rezzori sein Leben lang auf Deutsch (und manchmal auf Englisch) schrieb, war seine Heimat, die Bukowina, nach dem Zerfall der Donaumonarchie rumänisch geworden, bevor sie ukrainisch wurde, was sie bis heute ist.

Auch fand ich heraus, dass Rezzori niemals Gregor genannt wurde. Wer ihn kannte, wer ihn mochte, wen er mochte, der nannte ihn immer bloß Grischa.

Grischautomat.

In den nächsten Jahren beschäftigte ich mich intensiv (obsessiv) mit Grischas Werk, mit seinen großen Romanen Ein Hermelin in Tschernopol, Der Tod meines Bruders Abel und dessen posthum erschienenem zweiten Teil: Kain.

Manche Lektüreerfahrungen sind lebensverändernd. Warum sie das sind, hat für jeden Menschen ganz eigene Gründe, die darin wurzeln, wer man...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
Sonstiges Geschenkbücher
Schlagworte Anthologie • Bibliophil • Buchliebhaber • Lesen • Schreiben • Verlag Schöffling & Co.
ISBN-10 3-7317-0012-3 / 3731700123
ISBN-13 978-3-7317-0012-8 / 9783731700128
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