Die Mütze oder Der Preis des Lebens (eBook)
560 Seiten
Pantheon Verlag
978-3-641-32725-5 (ISBN)
Dies ist eines der wichtigsten Holocaust-Bücher der letzten Jahrzehnte: Roman Fristers Schilderung seiner Zeit in Auschwitz, des moralischen Verfalls der Häftlinge, der dunklen Seite der Opfer. Es ist die Geschichte seiner Verwandlung, vom glücklichen Kind zum unbarmherzigen KZ-Häftling, vom Gezeichneten zum Lebenshungrigen, Liebhaber und Bohemien, der sich sein Leben nicht mehr aus der Hand nehmen lässt.
Roman Frister, der jüdische Junge aus gutem Hause im Polen der Kriegszeit, der junge Mann, der im Nachkrigspolen endlich im guten Leben ankommen will, geht durch »siebenundsiebzig Höllen, um zu erfahren, wie man überlebt«. Er ist kein Heiliger, und die Gesetze der Zeit des Lichts sind außer Kraft gesetzt. Auch im Ghetto und im Lager gelten Freundschaft und Menschlichkeit nichts, wenn der Strudel alle in den Abgrund zu reißen droht. Am Ende entscheidet eine Mütze über Leben und Tod.
Roman Frister wurde 1928 in Bielsko/Bielitz (Polen) geboren. Er überlebte Konzentrationslager und Überlebensmärsche. Nach Kriegsende arbeitete er bis zu seiner Verhaftung durch die kommunistischen Behörden als Journalist in Polen. 1957 emigrierte er nach Israel. Nach langjähriger Tätigkeit als Redakteur der führenden israelischen Tageszeitung Ha´aretz übernahm Roman Frister 1990 die Leitung der Journalistenschule Koteret in Tel Aviv. Seine Bücher - Romane, Theaterstücke und Sachbücher - wurden in mehrere Sprachen übersetzt. Roman Frister starb 2015 in Warschau.
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Die Freiheit von der Verantwortung hatte Farben, und sie hatte auch einen Geruch. Im Hof des Hauses, in dem wir bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten, standen zwei große, weit ausgreifende Fliederbüsche, einer weiß und der andere violett. Obwohl sie im Schatten eines gewaltigen Kastanienbaumes standen, entwickelten sie sich prächtig und nahmen schließlich den größten Teil des Hofes ein. Im Mai und Juni, wenn sie in voller Blüte standen, öffnete ich oft das Fenster und schlief berauscht von dem Fliederduft ein. Fünfzig Jahre sind seither vergangen. Ich bin wieder dort gewesen. Ich sah das Haus, vom Alter gezeichnet, vernachlässigt wie ein alter Mann, für den niemand mehr sorgt. Ich sah die Fenster meines Zimmers, an rostigen und verbogenen Scharnieren halbgeöffnet in der Luft hängend. Ich sah den Stumpf des Kastanienbaumes, den jemand gefällt hatte. Die Büsche waren aus der Erde gerissen worden und verdorrt. Trotzdem ist nichts verlorengegangen: Wann immer ich das süßliche Aroma eines Fliederbusches rieche, tauchen aus der Tiefe des Vergessens verlorene Szenen aus der Vergangenheit auf.
Ich weiß nicht, warum meine Eltern sich dazu entschlossen, sich ausgerechnet in Bielsko, zu deutsch Bielitz, niederzulassen, einer Stadt im südlichen Schlesien, die vor allem von der Textilindustrie lebte. Es war eine Gegend, in der die polnische und die deutsche Kultur aufeinandertrafen, ja aufeinanderprallten.
Umweltbelastung war damals noch kein Thema, aber da die Spinnereien und Färbereien außerhalb der Vororte angesiedelt waren, kannte die Stadt auch den Fluch der Luftverschmutzung noch nicht. Bielitz lag am Fuße der Beskiden, eines Gebirges, das nicht wie die Tatra mit scharfen Granitspitzen den Himmel zerschnitt, sondern mit weichen Hängen leicht ins Tal wehte, grün im Sommer und weiß im Winter. Es war nur natürlich zu glauben, dass diese Schönheit und dieser Frieden nie Schaden nehmen würden. Dort wurde ich geboren und verbrachte den Anfang meines Lebens in einer Umgebung, die für eine glückliche Kindheit ihresgleichen sucht.
Unser Haus unterschied sich nicht von den anderen in der Nachbarschaft. Die wohlhabende Bourgeoisie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts hatte Bielitz eine Art österreichischen Sezessionsstil beschert, reich an Dekorationen und arm an architektonischen Ideen. Die Gebäude sollten den Wohlstand der Periode zeigen, nicht ihren geistigen Inhalt. Sie waren wie die Stadt selbst, die gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Fürstentum Bielsko von Alexander Józef Sułkowski, einem Günstling des polnischen Königs August III., erworben wurde, der so der langen Liste seiner Titel eine Prinzenkrone hinzufügte. Ihre Blütezeit erreichte die Stadt jedoch später, als sie zum Zentrum der Wollindustrie wurde. Der Zustrom deutscher und jüdischer Gelder beschleunigte ihre Entwicklung, bis sie eine der reichsten Städte Polens wurde.
Die Prinzenfamilie hingegen, die der Residenz in der Provinz das mondäne Leben vorzog und ihr Kapital in Paris und in den Kurorten an der französischen Riviera verprasste, büßte allmählich ihren Reichtum ein. Wie die meisten Adligen hatte sie Schwierigkeiten, sich der neuen, industriellen Welt anzupassen. Als die Verbindung von Bielitz zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich schließlich gekappt wurde, blieb eine etwa zweitausend Ar große Fläche im Herzen der Stadt, grün und unkultiviert, im Besitz der Familie Sułkowski. Anfang der dreißiger Jahre verkauften die Erben das Land an eine Gruppe von Bauunternehmern. Auf dem Rasen, auf dem ich unter Aufsicht meiner deutschen Gouvernante, Hilde Baron, gespielt hatte, wurden die Fundamente für ein neues Wohnviertel ausgehoben. Bald schossen dort Häuser in die Höhe.
Vielleicht wegen des Bauhausstils oder vielleicht, weil die meisten Bewohner dieser protzigen Wohnungen wohlhabende Juden waren, wurde das neue Viertel im Volksmund »Tel-Aviv-Viertel« genannt. Viele Freunde unserer Familie, die Wert auf eine repräsentative Adresse legten, zogen dort ein. Nicht so mein Vater. Er hing an dem grauen, charakterlosen Haus, in dem ich im Januar 1928 geboren wurde, im, wie man behauptete, strengsten Winter seit der Jahrhundertwende, in dem Tausende von Obdachlosen dem Frost zum Opfer gefallen waren. Als ich als Erwachsener die Berliner Nationalgalerie besuchte, fand ich heraus, dass George Grosz zu eben jener Zeit sein Bild Die Stützen der Gesellschaft gemalt hatte. Ich betrachtete die verzerrten und bösartigen Gesichter der kriegshetzenden Generale, der korrupten Richter und Politiker, der verlogenen Journalisten, und ein Zittern überfiel mich. Es lag etwas Prophetisches in diesem Gemälde. Damals jedoch, als ich nahe der Mutterbrust war, war meine Welt warm und geborgen.
Fast alle Zimmer unserer Wohnung im zweiten Stock gingen auf die Straße hinaus. Das Rauchzimmer mit seinen Sesseln, der Bar auf Rädern und der Bibliothek aus kaukasischem Walnussholz war den Gästen meines Vaters vorbehalten. Ich liebte es, mich hineinzuschleichen, auf einen Stuhl zu klettern und in den Büchern des obersten Regals zu blättern. Jeder der Einbände war abgenutzt, ein Zeichen, dass sie nicht nur zur Dekoration dort standen. Das Schlafzimmer meiner Eltern mit seinen aus Rosenholz geschnitzten Möbeln war das hellste der Wohnung. Ein Teppich, von einem Heimweber handgewebt, fiel vom Sofa auf den blankpolierten Parkettboden und strahlte eine intime Wärme aus. Ganz anders dagegen war die Atmosphäre im düsteren Wohnzimmer, das sich durch dicke Brokatvorhänge gegen die Sonne schützte. Sogar den kleinen Perserteppichen, die meine Mutter so gern sammelte und ohne die sie nicht gewillt war, dem Nazi-Terror zu entfliehen, gelang es nicht, die Steifheit des Zimmers zu mildern, das der Stolz meiner Eltern war und Symbol ihres gesellschaftlichen Standes. Manchmal fragte ich mich, wie sich wohl die Rosenthal-Porzellanballerinen fühlten, die hinter der Glastür der Eckvitrine ihren ewigen Tanz vollführten. An einer Wand stand ein riesiges Mahagonibuffet, dessen Fächer vor Tischdecken aus Damaszener Seide, erlesenem Porzellan und solidem Wiener Silber überquollen. Den Sarg nannte ich es insgeheim.
In der Mitte des Zimmers stand wie ein schwarzer Pilz ein Tisch, an dem ein Dutzend Leute Platz fanden. Mindestens einmal im Monat kamen die wichtigsten Kunden meines Vaters zu einem Dinner zu uns, und auch ich durfte in Jackett und Krawatte bis neun Uhr abends neben diesen Würdenträgern sitzen. Hauptsächlich, um meiner Mutter die Gelegenheit zu geben, die guten Tischmanieren, die sie mir beigebracht hatte, meine europäische Erziehung, meine Kenntnisse in Literatur und Tagesgeschehen vorzuführen. Manchmal allerdings schaffte ich es nicht, den kleinen Dämon in mir zu zügeln, und ärgerte meine Eltern, indem ich ein verwöhntes Balg spielte. Dann sah mein Vater mich böse an und griff nach der Klingel, die wie ein Märchenzwerg aussah und an einer Kordel von einer antiken Alabasterlampe hing. Mein Vater drückte auf den Kopf des artigen Zwergs, und Paula, das Mädchen, erschien prompt aus der Küche.
»Bring ihn auf sein Zimmer«, sagte er mit strengem Gesicht. Paula streckte mir die Hand entgegen, und ich folgte ihr. Äußerlich wie ein gescholtenes Kind, innerlich jedoch in boshafter Freude.
Die duftende Szenerie der Hinterfenster indes gehörte allein Paula und mir. Paula schlief in einem kleinen Schlafraum hinter dem Badezimmer. Sie war eine große Frau, alterslos, mit einem breiten Gesäß und solide wie eine Maya-Statue, vom Schlage jener deutschen Bauern, die schon seit unzähligen Generationen die schlesischen Dörfer bewohnten. Für mich war sie die Stütze, an der unser Familienleben schon gelehnt hatte, lange bevor ich das Licht der Welt erblickte. Sie blieb zurück, als die Stürme des Krieges uns von dort hinwegfegten. Ich sehe ihre stille Figur noch in der Haustür, der Pforte zu unserem Exodus, stehen und höre sie sagen, sie werde auf uns warten und sollte es ein Jahr dauern. Mein Vater lachte, winkte ihr zu und versprach, vor dem Herbst zurück zu sein.
Als ich geboren wurde, gab mein Vater sein Arbeitszimmer auf und bezog ein Büro im Geschäftsviertel der Stadt. Er wurde sehr erfolgreich. Die Stadt erlebte gerade einen Aufschwung, und die sich entwickelnde Industrie brauchte Rechtsanwälte, die etwas von Genossenschafts- und Bankgesetzen verstanden. Das Büro expandierte, mein Vater beschäftigte mehrere Anwaltsgehilfen, und ähnlich wie bei uns zu Hause gab es auch hier eine unabkömmliche Angestellte – Fräulein Mila. Fräulein Mila empfing die Kunden und führte sie in das Wartezimmer. In ihren wenigen freien Momenten rollte sie mit einer Spezialvorrichtung die achtzig türkischen Zigaretten, die mein Vater täglich rauchte.
Die einfachen Kunden wurden von den Anwaltsgehilfen betreut. Nur die ganz wichtigen wurden in das Privatbüro meines Vaters gebeten und durften in den alten Ledersesseln Platz nehmen. Das Alter spielte dabei eine wesentliche Rolle, weil es Solidität, Kontinuität und Seriosität bewies. Ich selbst mochte das Büro nicht, vielleicht weil ich spürte, dass mein Vater hier weder die Zeit noch die Geduld hatte, sich mit mir zu beschäftigen. Die acht venezianischen Fenster in diesem Heiligtum waren immer bis zur Hälfte von Rollläden verdeckt, und das Halbdunkel verlieh dem Zimmer einen gewissen mystischen Zauber – besonders dann, wenn mein Vater und seine Kunden im grünen Licht der Tischlampen rauchend und flüsternd die Dokumente durchsahen, die aus dem Safe geholt worden waren. Der Safe selbst, ein Stahlschrank von enormen Dimensionen, war ebenfalls sehr alt.
Die Vorliebe meines Vaters für Dinge, die uns in die Vergangenheit zogen, war mir fremd. Mich zog es zu...
Erscheint lt. Verlag | 27.11.2024 |
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Übersetzer | Eva Basnizki, Georges Basnizki |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Self-Portrait With a Scar |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 2024 • 2. Weltkrieg • Auschwitz • Autobiografie • Biografie • Biographien • eBooks • Geschichte • Ghetto • Holocaust • Israel • Journalismus • Judentum • Konzentrationslager • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • NS-Diktatur • Polen • Verbrechen • Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-32725-3 / 3641327253 |
ISBN-13 | 978-3-641-32725-5 / 9783641327255 |
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