Verlassene Nester (eBook)

Roman
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2024 | 1. Auflage
304 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12364-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verlassene Nester -  Patricia Hempel
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»Wie Patricia Hempel über den Verlust der Unschuld und über die Nachwendezeit schreibt, ist ein Ereignis.« Florian Valerius Sommer 1992 im ehemaligen Elbe-Grenzgebiet. Pilly ist dreizehn und sehnt sich nach Zugehörigkeit. Aber auch zwei Jahre nach der Wiedervereinigung hängt ihre Familie noch immer an den Idealen von Gestern. Der Vater flüchtet in die Gaststätte, die Tanten träumen vom Goldenen Westen und von Pillys Mutter fehlt nach wie vor jede Spur. Halt findet Pilly nur in der älteren Mitschülerin Katja. Ein Trugschluss. Sie ahnt nicht, dass am Ende dieses Sommers ihre Welt abermals eine andere sein wird. Die Mischanlagen und Fließbänder des Betonwerks stehen still. Ebenso wie das Leben der Menschen in dem fiktiven Planort an der Elbe. Während Pilly um jeden Preis versucht, die Aufmerksamkeit der älteren Schulkameradin Katja zu gewinnen, trinkt ihr Vater gegen die Erinnerungen an. Die Mutter ist schon lange weg, angeblich im Westen, auch wenn darüber eisernes Schweigen herrscht. Die Tanten wollen sich den Traum vom Goldenen Westen verwirklichen und setzen dabei ihre Lebensgrundlage aufs Spiel. Der Sommer nimmt eine drastische Wende, als eines Tages die Gärten der vietnamesischen Vertragsarbeiter abbrennen und Pilly plötzlich einer Frau gegenübersteht, die behauptet, ihre Mutter zu sein. »Patricia Hempel ist eine Meisterin des Untergründigen. Lebenslust und Lebenslügen verwachsen in diesem Roman zu einem beängstigenden Gestrüpp.« Katja Kullmann

Patricia Hempel, geboren 1983 in Berlin, studierte erst Ur- und Frühgeschichte, bis es sie von der Archäologie zum Studium Literarisches Schreiben/Lektorat an die Universität Hildesheim zog. 2017 erschien bei Tropen/Klett-Cotta ihr erster Roman 'Metrofolklore?. Sie ist seit 2020 Redaktionsmitglied des queeren Literaturmagazins GLITTER und setzt sich in der Queer Media Society (QMS) als Netzwerkerin für queere Sichtbarkeit und Diversität in Literaturbetrieb und Buchhandel ein. Sie ist Gründungsmitglied des PEN Berlin und beteiligt sich an der AG Diversität. Ihre Texte erschienen in diversen Magazinen und Anthologien, zuletzt in 'Neue Schule - Prosa für die nächste Generation' Claassen/Ullstein (2021) und im Literaturboten 141 - Writing with Care (2023). Ihr aktueller Roman 'Verlassene Nester' wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem Stipendium für deutschsprachige Literatur gefördert und war für den Alfred-Döblin-Preis 2023 nominiert.    

Patricia Hempel, geboren 1983 in Berlin, studierte erst Ur- und Frühgeschichte, bis es sie von der Archäologie zum Studium Literarisches Schreiben/Lektorat an die Universität Hildesheim zog. 2017 erschien bei Tropen/Klett-Cotta ihr erster Roman "Metrofolklore". Sie ist seit 2020 Redaktionsmitglied des queeren Literaturmagazins GLITTER und setzt sich in der Queer Media Society (QMS) als Netzwerkerin für queere Sichtbarkeit und Diversität in Literaturbetrieb und Buchhandel ein. Sie ist Gründungsmitglied des PEN Berlin und beteiligt sich an der AG Diversität. Ihre Texte erschienen in diversen Magazinen und Anthologien, zuletzt in "Neue Schule - Prosa für die nächste Generation" Claassen/Ullstein (2021) und im Literaturboten 141 – Writing with Care (2023). Ihr aktueller Roman "Verlassene Nester" wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt mit dem Stipendium für deutschsprachige Literatur gefördert und war für den Alfred-Döblin-Preis 2023 nominiert.    

2


An unserer Schule sahen die Mädchen meiner Klassenstufe in ihren bunten Nickis alle gleich aus, mit ihren straff nach unten gekämmten Haaren, die schnurgerade an den Wangen aufhörten, als hätte ihnen jemand beim Schneiden eine Salatschüssel übergestülpt. Die Älteren trugen Pferdeschwanz und Micky-Maus-Motive aus den neuen Katalogen. Katja war anders. Sie schnitt auf dem Pausenhof ihre Locken mit einer Bastelschere extra schief und wickelte bunte Halstücher zu Stirnbändern. Einzelne Strähnen filzte sie mit der Bürste aus ihrem Sportbeutel und verzierte sie mit den biegbaren Silberaufsätzen von Einwegfeuerzeugen. Die rechteckigen Metallteile klemmten sogar überall an ihrer Kleidung. Am Saum ihrer Fliegerjacke, am Schaft ihrer Schnürstiefel und sogar an den Reißverschlussseiten der runden Federtasche aus Leder, die wir alle hatten. Nur war Katjas mit Sprühfarbe bemalt. Sie spielte in den großen Pausen nicht Fangen oder Gummitwist wie die anderen, sondern versteckte sich hinter irgendeiner Hecke und rauchte Schmuggelzigaretten mit den Jungs aus der Zehnten.

Katja und Bine waren in der Nachbarklasse, und alle Mädchen hatten Angst vor ihnen. Sogar die Lehrer kuschten, wenn sie sich auf der einzigen Tischtennisplatte breitmachten und eins der verbotenen Taschenradios aufdrehten. Normalerweise nahmen sie die Geräte sofort an sich und räumten sie bis zur nächsten Elternversammlung ins Lehrerzimmer. Weil beide das Schuljahr wiederholen mussten, starteten wir zum ersten Mal gegeneinander beim Thälmann-Lauf, der die Ortsmitte jeden Sommer in eine Rennstrecke verwandelte. Das Rennen begann mit feierlichem Schulappell am zentralen Festplatz neben der St.-Nikolaus-Kirche, auf deren Hof Tante Fuchs und ich den verendeten Dackel im Schatten einer Rotbuche beerdigt hatten. Die Läufer schlängelten sich durch die Hauptstraße bergauf, vorbei am Schrauben-Hiller, an der Wäscherei Brunig und der Gaststätte Bandauer, bis die Tour am Schuttkontor außerhalb des Orts an der Stelle endete, wo die Kanalschiffer einfuhren. Insgesamt 4,2 Kilometer Schweiß, der auf den Filzdecken eines Massenpicknicks versiegte, an dem die Eltern früher nur teilgenommen hatten, um heimlich untereinander Westwaren auszutauschen, jedenfalls meinte das mein Vater. In diesem Jahr wurde das Fest vom Rohbau eines skandinavischen Bettenlagers überschattet, neben dem zum Ärger von Schrauben-Hiller ein Baumarkt mit angeschlossenem Gartencenter eröffnet hatte.

Katja gehörte immer zu den Besten. Sie lief direkt hinter mir, und ich lauschte, wie ihr Atem schwerer wurde. Ich rannte in ihrem Schattenwurf, der fast senkrecht auf meinem lag, und rechnete damit, jeden Moment von ihr überholt zu werden. Wurde ihr Keuchen leiser, ließ ich mich zurückfallen, bis sich ihre Silhouette wieder vor mir auf dem Asphalt abzeichnete. Ich hörte, wie ihre Sohlen die losen Kiesel wegtraten und ihr Schnaufen dumpfer wurde, wenn sie sich das Gesicht am Saum ihres T-Shirts abwischte. Es klang wie ein hastiger Spaziergang durch Tiefschnee, bei dem sie immer wieder ein »Ha« ausstieß, wenn ihre Kräfte nachließen. Kurz nach der Zielgeraden umarmte nicht sie mich, sondern meine Klassenlehrerin und drückte mir einen Korb mit Mineralwasser in die Hand, um die Flaschen an diejenigen zu verteilen, die hinter mir eintrudelten. Als wir uns bei der Siegerehrung nebeneinander einfanden, um unsere Urkunden entgegenzunehmen, riss sie mir meine sofort aus der Hand und kreischte: »Zwei Sekunden? Du blöde Kuh!«, und ich war stolz. Zum ersten Mal war ich das Tagesgespräch der Schule, und Katja schien beeindruckt, dass ihr jemand das Wasser reichen konnte. Eine Woche später konnte ich in der Siegergalerie mein Bild bewundern, das genau neben ihrem aufgehängt wurde. Auf dem Porträt des Schulfotografen wirkte mein Überbiss noch schlimmer als in echt, doch beim stufenübergreifenden Zirkeltraining für die Kinder- und Jugendsportspiele spürte ich trotzdem vom anderen Ende der Turnhalle Katjas Blick im Rücken.

In der Umkleide zog sie sich immer dann aus, wenn ich gerade hinsah. Sie war die Einzige, die schon einen echten Büstenhalter tragen konnte. Über den Waschbecken vernebelte der Wasserdampf die Sicht, Katja vornübergebeugt mit einem Stück Seife in der Hand, Schaum unter den Achseln. Ich zählte jeden ihrer Wirbel und stützte mich an die beschlagenen Fliesen, um nicht auszurutschen. Trafen sich unsere Augen, schoss mir das Blut bis in die Haarspitzen. Ich versteckte mich so gut es ging hinter dem Stoff meines Waschlappens, aus Angst, Katja könnte sich an den Monaten stören, die unsere Körper voneinander trennten.

»Kein Wunder, dass deine Mutter abgehauen ist, Pilly! Hätte mein Kind so eine Pferdefresse, würde ich mich auch voll schämen!«

Marijan und Jonathan nutzten die Pausen, um mich zu ärgern, weil sie sich vor unserer Klassenlehrerin Frau Leopold nicht trauten. Sie waren vom Sportplatz in meine Richtung gerannt, sobald sie mich entdeckt hatten. Ich stand allein vor der Sandgrube, die am Ende der Sprintbahn in den Boden eingelassen war. Die anderen Mädchen standen wie immer um Joseba herum, die auf der Tischtennisplatte voltigierte und auf den Knien »Die Fahne« demonstrierte. Ihr Bein reckte sich durchgedrückt nach hinten, den linken Arm streckte sie weit vor dem Gesicht aus. Sie hielt die Pose so lange, bis ihr Körper zu zittern begann und sie mit einem Salto auf beiden Füßen landete. Die Traube klatschte Beifall, als Joseba sich verbeugte und einer nach der anderen auf die Platte half, doch keine konnte die Figur so gut halten wie sie. Ich hielt nicht viel von Pferden und aus diesem Grund erst recht nichts von meinen Klassenkameradinnen mit ihren Wendy-Heften, aus denen sie sich gegenseitig vorlasen. Beides bereitete mir Unbehagen, die Tiere mit ihren klobigen Hufen und die Mitschülerinnen in ihren geputzten Reitstiefeln.

»Hast du deinem Vater heute Morgen schon eine Bierflasche geöffnet?« Jonathan tippte gegen seine Schneidezähne und balancierte einen Ball auf der Fußspitze.

»Die Beißer sind auch super für Konservendosen. Schließlich kocht Mutti nicht mehr«, setzte Marijan nach.

»Ihr seid so dumm, echt!« Ich lief in Richtung des Schulhauses und hoffte auf einen der Pausenlehrer.

»Na klar, schön feige zu den anderen Mädchen!« Marijan holte mich ein und baute sich vor mir auf. »Wie es aussieht, brauchen die sowieso ein echtes Pferd.«

Die Jungs lachten.

»Vielleicht können wir die Zähne gerade schießen.« Jonathan nahm Anlauf und bretterte mir den Fußball gegen das Kinn. Ich drehte mich weg und rechnete schon mit einem weiteren Schuss, als ich Katjas Stimme hörte.

»Sag mal, seid ihr total bescheuert?«

Sie kam mit einer Zigarette zwischen den Fingern aus dem Fliederbusch gestürzt. Bine schlurfte langsam hinter ihr her. Ich merkte, wie mir die Tränen kamen, und gab mir Mühe, nicht loszuheulen wie die Kuchenmädchen in ihrer Sandkiste.

Katja schoss Jonathans Fußball in hohem Bogen über die violetten Blüten. »Pilly gehört zu mir, ihr Vollidioten! Komm!«

Ihre Finger schnappten nach meinem Oberarm und zogen mich ins Gebüsch. Jonathan rief uns irgendetwas hinterher. Auf dem Boden lagen Kippenstummel verstreut, und die vertrockneten Fliederblüten standen so dicht, dass sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen mussten. Bine beschwerte sich bei Katja, dass es nicht gut sei, wenn ich ihr Hauptversteck kennen würde, doch sie überhörte ihren Einwand.

»Zeig mal, wo er dich getroffen hat.« Katja musterte mein Gesicht. »Alles noch dran!«

Sie griff in der Innentasche ihrer Weste nach einer Zigarettenschachtel und hielt sie erst Bine hin, dann mir. Ich angelte nach einem der Filter und steckte ihn mir ungeschickt zwischen die Zähne. Die Spitze knisterte, als die Flamme sie erfasste, und ich musste sofort husten. Die Feuerzeugteilchen in Katjas Haar funkelten, als sie den Knoten ihres Stirnbands löste. Sie kippte Wasser aus ihrer Trinkflasche auf das Tuch und hielt es mir ans Kinn.

Bine verdrehte die Augen. Das Band roch nach Haarwäsche und einem Öl, das Katja in einem Fläschchen bei sich trug und in der Umkleide nach dem Sport immer mit dem Zeigefinger hinter die Ohren strich. Der Geruch erinnerte mich an Waldspaziergänge, an das Harz von Nadelbäumen, das einem an den Händen kleben bleibt. Ich konnte es sogar dann riechen, wenn Katja nicht in der Nähe war. Manchmal stieg mir ihr Duft beim Schlafengehen in die Nase und ich sah sie in ihrem schwarzen BH neben mir im Bett liegen. Doch vor allem dachte ich seit dem Nachmittag in der Röhre fast jede Nacht an ihre weiße Haut.

Nach der Schule bestand Katja auf einer Runde geklaute Limonade auf dem Spielplatz, um meine offizielle Aufnahme in die Familie zu feiern. Sie wollte einen kurzen Umweg über die Schienen zum neuen Supermarkt machen, Bine und ich sollten vorgehen und in unserer Küche auf sie warten. Ich konnte mir nichts Besseres vorstellen, als mich den Rest des Tages von Katja anleinen zu lassen, aber den Gedanken, mit Bine alleine in der Röhre bleiben zu müssen, ertrug ich nicht. Ich wollte mich lieber von einem Stück Kuchen im Garten von Frau Klinge trösten lassen, die mir nachmittags oft bei den Hausaufgaben half und früher die Lehrerin meines Vaters gewesen war, doch an Montagen hatte sie Waschtag. Sie stiefelte mit einem riesigen Kleidersack über der Schulter durch den Auenwald ins Nachbardorf, wo sie eine winzige Wohnung besaß, und kam erst am Abend zurück in ihre Laube.

»Dann aber morgen, ja?«, befahl Katja noch und umarmte mich zum Abschied so fest, dass Bine ihren Blick abwenden musste.

Ich schleppte mich durch das Treppenhaus. Nach jeder Stufe sausten meine Ohren, und ich spürte, dass mein Kinn angeschwollen war. Mein...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1992 • Anne Rabe • BRD • DDR • DDR-Realität • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • Freundschaft • Geschenk für Frauen • Geteiltes Deutschland • Gittersee • Heranwachsen • Mütter und Töchter • Neuer Roman 2024 • neuerscheinung 2024 • Weihnachtsgeschenk
ISBN-10 3-608-12364-4 / 3608123644
ISBN-13 978-3-608-12364-7 / 9783608123647
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