Hotel Paraíso (eBook)

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2024 | 1. Auflage
176 Seiten
mareverlag
978-3-86648-839-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hotel Paraíso -  Arezu Weitholz
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Eines Tages bleibt Frieda beim Synchronsprechen im Studio die Stimme weg, die Worte haften nicht mehr. Jonas, ihr Freund, vermittelt ihr die Möglichkeit, an der portugiesischen Algarve ein Hotel zu hüten, das über den Jahreswechsel schließt. Allein mit Hotelhund Otto, dem Hausmeister und Handwerkern hat Frieda nicht viel zu tun: Strandspaziergänge, Einkaufen, Kochen, Schauen. Sie lüftet Zimmer und ihre Gedanken. Das Hotel Paraíso ruft bei ihr Erinnerungen an einen anderen Ort wach, an dem sie sich wohlfühlte, aber nicht bleiben konnte: die Tankstelle in einem niedersächsischen Dorf, wo sie aufwuchs, bis sie irgendwann erfuhr, warum sie trotzdem nicht dazugehörte. Und während Frieda in Portugal darauf wartet, dass Jonas nachkommt, wird eine Frage immer drängender: Kann das Dazwischen ein Zuhause sein?

Arezu Weitholz, 1968 bei Hannover geboren, lebt in Berlin und Schleswig-Holstein. Sie ist Autorin, Journalistin, u.a. für den Reiseteil der FAS, Illustratorin und Songtexterin. Im mareverlag erschien von ihr zuletzt »Beinahe Alaska« (2020), das von Publikum und Presse gefeiert und mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet wurde.

Arezu Weitholz, 1968 bei Hannover geboren, lebt in Berlin und Schleswig-Holstein. Sie ist Autorin, Journalistin, u.a. für den Reiseteil der FAS, Illustratorin und Songtexterin. Im mareverlag erschien von ihr zuletzt »Beinahe Alaska« (2020), das von Publikum und Presse gefeiert und mit dem Hans-Fallada-Preis ausgezeichnet wurde.

Es hat Flausen geregnet gestern Nacht. Die Scheiben sehen aus, als hätte sie jemand mit einem sehr fusseligen Tuch gewischt, überall kleben hauchfeine Fäden auf dem feuchten Glas. Die Welt draußen ist milchig. Die Büsche zittern im Wind. Die drei Palmenköpfe gucken dumm. Stumm wirft sich das schiefergraue Meer ans Land. Regungslos hockt die Plastikeule auf dem First. In aller Seelenruhe erstreckt sich der etwas zerzauste Garten vor dem Balkon.

Meine Schritte machen kaum ein Geräusch auf dem Weg nach unten, nur das Rauschen schwappt von draußen bis hierher. Die Hauptküche liegt im Halbdunkel, in den Ecken leuchten die Kontrolllampen der Spülmaschinen und Kühlhäuser. Ich schalte die Kaffeemaschine ein und suche eine Tasse.

Neongrell scheint die Deckenbeleuchtung der Personalküche auf die silbernen Oberflächen. Ich gehe hinein und rutsche beinahe aus. Der Boden ist glitschig, weil jemand nicht aufgewischt hat. Auf fast allen Oberflächen liegt ein Fettfilm, das weiße Emaillegeschirr stapelt sich schief und krumm in den offenen Metallregalen. An den Wänden hängen gewaltige Pfannen und Siebe, unter dem Tresen stehen Töpfe, so groß wie Babybadewannen. Der Geruch von Masse hängt in der Luft, von riesigen Eimern Mayonnaise, von Fünfziger-Packs Koteletts, von Kilopackungen Paprikagewürz, von Abwaschmittel und Fußbodenreiniger, von nicht gespülten Tellern und von Fett. Und überall liegt dieser Fettfilm, in den Näpfen, auf den Oberflächen, alles ist schmierig, die Ölflaschen, die Gewürze, die Messer, die Tische, der Boden.

Ich öffne den Kühlschrank und finde mehrere angebrochene Plastikflaschen Ketchup, eine angebrochene Tüte Thunfisch fettet vor sich hin. In einem Metallbehälter liegen Wurst und Aufschnitt. Ich schnuppere daran. Noch gut. Der Kühlschrank brummt. Seine Tür will nicht richtig schließen, als wäre sie schon Zehntausende Male zugeknallt worden, von eiligen, überarbeiteten, gleichgültigen Händen: Auf, zu, auf, zu, rumms. Immer und immer wieder, immer in Eile, immer ohne Zärtlichkeit. Ich taufe ihn Silberrücken.

»Du bist die Personalküche«, sage ich laut in den Raum. »Du bist die Küche hinter der Küche. Du solltest besser aussehen.« Ich nehme mir vor, sie später zu putzen, finde eine saubere Tasse und lösche das Licht.

Ich liebe Kaffee auf nüchternen Magen. Im Studio ist das verboten. Magenknurren ist das einzige Geräusch, das kein Tonmeister wegbekommt. Aber hier? Keiner nimmt mich auf. Nichts, was es zu sagen gibt. Das Rauschen hallt durch die Leere des Hotels.

Das Sofa hier im Wintergarten kommt mir vor wie der Ausguck auf einem Geisterschiff. Ich bin Walbeobachter. Nein. Ich sitze in einem Kinosessel, und da draußen läuft ein Film aus Himmel und Wasser und Garten und Wind. Allein mit einer Scheibe Zeit. Aber bin ich das wirklich, allein?

Vor zwei Jahren übernachteten Jonas und ich in Wien in Nadjas Wohnung. Nadja war gerade verreist, ich hatte sie zuvor dort noch nie besucht und wunderte mich über die magere Ausbeute im Kühlschrank. Auch hatte sie keinen Zettel dagelassen, aber wir hatten es eilig, ich packte aus, hängte mein Kleid auf, und wir brachen auf, zu irgendeinem Konzert. Als wir spätnachts nach Hause kamen, passte der Schlüssel nicht mehr ganz ins Schloss hinein. Gerade als ich ein letztes Mal darin herumfuhrwerkte, riss jemand von innen die Tür auf.

»Wer sind Sie?«, fragte die kleine Frau böse und sah uns an.

Jonas wich in den Schatten des Hausflurs zurück.

»Wer sind Sie denn?«, fragte ich zurück. »Was wollen Sie in Nadjas Wohnung?«

»Wer ist Nadja?«, sagte sie wütend.

Hinter mir hörte ich Jonas unterdrückt kichern.

»Sie wohnt hier«, sagte ich, »wir waren doch vorhin erst da.«

»Ach, dann sind das wohl Ihre Sachen?« Die Frau deutete auf unsere Koffer neben der Tür, auf dem Boden stand mein Kulturbeutel, darüber lag, zerknittert, mein schönes Kleid.

»Ich wohne hier!«, sagte die Frau.

Und das tat sie wirklich. Nadjas Bürokollegin hatte uns den falschen Schlüssel gegeben. Erst als wir irgendwann ein Stockwerk höher in der richtigen Wohnung auf dem Sofa saßen und Jonas seinen Lachanfall überwunden hatte, fiel mir ein, dass es schon auf dem Hinflug Probleme gegeben hatte. Auf unseren Tickets stand »Reihe 13«, aber die gibt es in Flugzeugen nie.

Jessica Au hat mal geschrieben, beim Hüten einer fremden Wohnung fühle man sich wie Gast und Gastgeber in einer Person. Ich empfinde noch etwas in den Häusern anderer Leute. Ich bin dort seltsam vorläufig. Jederzeit kann die Tür aufgehen, und das Unvorhergesehene springt herein. Als Gast gehört man eigentlich ins Hotel. Man braucht eine Tür, die man zumachen kann und zu der nur man selbst einen Schlüssel besitzt. In einem Hotel ist es mir bisher nur ein Mal widerfahren, dass jemand die gleiche Zimmerkarte hatte wie ich, aber das war in Montreal, und weil die Kanadier so lustig sind, war das eher ein Spaß.

Ich schreibe Jonas, dass es mir gut geht. Er schreibt zurück, dass er sich auf mich freut. Ich tue ein Herz dran und lasse unser Gespräch auf dem Zimmer.

Ich habe der Besitzerin versprochen, den Hausstrand immer mal wieder nach Strandgut abzusuchen, vor allem nach einem Sturm. In den Siebzigerjahren seien einmal haufenweise Haschisch-Pakete angeschwemmt worden, sagte sie, doch das war nicht der Grund, warum sie mich ums Absuchen bat. »Das machen wir hier so. Das Meer ist unser Wohnzimmer. Nach einer Party räumt man eben auf.« Zwischen den Felsen finde ich ein paar Plastikteile, ein Stück Holz und einen Gitterkasten, in dem üblicherweise Hummer gefangen werden. Er ist leer. Hummer, die das Pech haben, in so ein Ding zu geraten, leben manchmal eine ganze Weile darin. Sie können nicht entkommen. Es ist ein schreckliches Ende. Sie warten, zehren von ihren Fettreserven und schrumpfen innerlich. Man erkennt sie auf dem Fischmarkt an den weißlichen Kalkablagerungen auf dem Panzer, dem sogenannten German writing. Warum das so heißt, weiß ich nicht.

Ich werfe den Hummerkäfig, die Plastikteile und das Holz neben den Gartenzaun und breche zu einem Spaziergang auf. Im Osten gibt es viele Sandsteinfelsen, auf denen Gras, Büsche und Sukkulenten wachsen. Hohe Formationen, die bei Ebbe aussehen wie knorrige und krumme Torbogen einer verlassenen Stadt. Im Westen aber liegt ein kilometerlanger Sandstrand, so breit wie eine Flugzeuglandebahn. Die Dünen dahinter sind Naturschutzgebiet. Ein Investor aus Lissabon will da was hinbauen, hat die Besitzerin erzählt. Es gehe hoch her in der Gemeinde. Am Ende würde jemand geschmiert, jemand würde anfangen zu baggern, jemand würde protestieren, ändern würde es nichts. Wie so oft.

Hohe braune Felsen werden von Wellen umspült. Im gleißenden Dunst der Sonne sieht der breite Strand aus wie eine Fantasiewelt, in der alle Formen verschwimmen und jedes Ding aus sich heraus leuchtet. Die weißen Fassaden der entfernten Hochhäuser flimmern im Licht der Vormittagssonne wie eine Fata Morgana.

Ich lese die Blindenschrift des Strandes: Fußabdrücke, Löcher, Pfoten, Muscheln. Steine, Tang. Ich bin eine Museumsbesucherin und spaziere durch eine Installation. Alles ist taufrisch. Die Welt ist noch unheimlich. Jedes Detail ist bemerkenswert, weil es noch nicht vertraut ist. Und bei jeder Person, die mir entgegenkommt, denke ich: Solange ich nicht Bom dia sage, bin ich unsichtbar. Worte machen sichtbar. Worte sind Entscheidungen.

Früher verdrehte ich die Dinge aus Spaß. Wenn auf einer Werbetafel stand »Wir geben auf Sie acht«, las ich »Sie sind uns egal«. Aus »sichere Geldanlage« wurde »ruinöser Schwachsinn« und aus »mit Liebe gekocht« »ungenießbar zusammengematscht«. Man kann sich vielleicht vorstellen, um wie viel heiterer und zugleich seltsamer die Welt dadurch wird. In der Mathematik heißt dieser Vorgang Negation. Man stellt sich das Gegenteil vor, um ein besseres Gefühl für das zu bekommen, was wirklich ist.

Es waren jedoch die kleinen Unaufmerksamkeiten, die andeuteten, dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmte. Ich stand in der S-Bahn und las Vergewaltigungsmanagement, dabei stand da Verwaltungsmanagement. Ich las Robert Müsli, da stand aber Robert Musil. Ich sagte Anja und meinte Katrin, ich sagte Fuß und meinte Strumpf, ich sagte gesund und meinte zufrieden, ich sagte Kühlschrank und meinte Balkon.

Dann blieben sie nicht mehr da, wo sie hinsollten, die Worte. Sie hafteten nicht an, ich konnte sie auch nicht haftbar machen, in die Verantwortung ziehen, ich konnte eigentlich gar nichts mehr sagen, was nicht sofort verflog, sich verdaddelte, verpappte.

Wenn es eine Erkältung gewesen wäre, eine entzündete Schleimhaut, eine simple Frage von Ursache und Wirkung: Kugel rollt, weil Ebene schief. Wasser läuft, weil Hahn auf. Sprecherin stumm, weil Hals kaputt. War es aber nicht.

»Gut«, sagte der Regisseur. Nein, er stieß es aus, es war ein helles, falsches, abgehacktes »Gutt«, als hätte ihm jemand in den Po gekniffen.

Wir hatten gerade damit angefangen, eine amerikanische Fernsehserie zu synchronisieren, die im Herbst auf Netflix anlaufen sollte. Das Trio Infernal, das mich an jenem Vormittag umgab, war die klassische Kombi: Cutterin, Tonmeister, Regisseur. Die Cutterin war eine Schubsfrau, weil sie immer nur diesen einen Satz sagte: »Das können wir schubsen.« Der Tonmeister blickte so böse wie ein missgelaunter Rapper und saß hinter der Glaswand neben diesem jungen, zu Falschheiten neigenden Regisseur, der stets Wir sagte, wenn er Ich meinte. Wir machten keinen Take mehr als...

Erscheint lt. Verlag 2.8.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Algarve • Autofiktion • Erinnerung • Heimat • Hotel • Housesitting • Kindheit • Portugal • Zuhause
ISBN-10 3-86648-839-4 / 3866488394
ISBN-13 978-3-86648-839-7 / 9783866488397
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