Videotime (eBook)
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491710-8 (ISBN)
Roman Ehrlich, geboren 1983 in Aichach, aufgewachsen in Neuburg an der Donau, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Freien Universität Berlin. Bislang sind von ihm die Bücher »Das kalte Jahr« (2013), »Urwaldgäste« (2014), »Das Theater des Krieges« (2017, mit Michael Disqué) und »Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens« (2017) erschienen. 2020 erschien sein Roman »Malé«, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Im August 2024 erschien sein Roman »Videotime«, der für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2024 nominiert war. Literaturpreise: Bremer Literaturpreis (Förderpreis) 2014 Robert Walser-Preis 2014 Ernst Toller-Preis 2016 Alfred Döblin-Medaille 2017
Roman Ehrlich, geboren 1983 in Aichach, aufgewachsen in Neuburg an der Donau, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Freien Universität Berlin. Bislang sind von ihm die Bücher »Das kalte Jahr« (2013), »Urwaldgäste« (2014), »Das Theater des Krieges« (2017, mit Michael Disqué) und »Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens« (2017) erschienen. 2020 erschien sein Roman »Malé«, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Im August 2024 erschien sein Roman »Videotime«, der für den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2024 nominiert war. Literaturpreise: Bremer Literaturpreis (Förderpreis) 2014 Robert Walser-Preis 2014 Ernst Toller-Preis 2016 Alfred Döblin-Medaille 2017
Die geschickte Montage und die elegante Sprache geben dem Text einen ganz
eigenen Charakter, der Inhalt und Form innovativ und überzeugend verbindet.
ein bemerkenswert tiefgründiges, weitläufiges Portrait eines Jungen und seiner Umwelt
[...] ein brillanter, überraschender und [..] höchst unheimlicher Roman.
Großartig ist die genaue Sprache, die den Filmbildern ein literarisches Registrieren entgegenhält.
Aus: Total Recall (1990)
Die Verleihvideothek Videotime ist aus der fensterlosen Blechbaracke, in der mein Vater und ich sie jahrelang aufgesucht haben, verschwunden. Der große Schriftzug auf dem Dach, der abends von zwei Baustrahlern angestrahlt wurde und verheißungsvoll leuchtete, wurde abmontiert. Die separaten Eingangstüren für Familien- und Erwachsenenvideothek sind verschlossen.
Auf dem Parkplatz vor der Blechbaracke, die jetzt eher aussieht wie ein Lager für Maschinenteile, in der ich mir aber gerne noch einen ähnlich magischen Ort vorstellen möchte wie den, den ich jahrelang mit meinem Vater besucht habe – ein Noctarium vielleicht oder ein Labor zur Aufzucht psychoaktiver Pilze –, ist ein verbeulter Container für Bauschutt abgestellt, aus dem oben Fetzen blauer Müllsäcke herausragen, die im leichten Wind, der über den Parkplatz geht, leicht rascheln. Ein alter Passat mit abgeschraubten Nummernschildern ist in einem halbschattigen Winkel des Platzes zwischen Gestrüpp, das aus den Rissen im Asphalt wächst, permanent geparkt. An einen Baum gelehnt stehen ein paar rostige Fahrräder aneinandergeschichtet und mit einem langen Stahlseil zusammengeschnürt.
Die Einfahrt zum Parkplatz vor der fensterlosen Blechbaracke der ehemaligen Verleihvideothek geht von einer verkehrsberuhigten Wohnstraße am Stadtrand ab. Das Leuchten des Videotime-Schriftzugs war von der Straße aus von Bäumen und Hecken und Wohnhäusern verdeckt. Erst wenn man in die Einfahrt zum Parkplatz einbog, leuchtete einem das angestrahlte Schild entgegen. An der Straße selbst wies nichts auf die Videothek hin. Man musste schon wissen, dass sie da war.
Mir erschien das angestrahlte Schild auf dem Dach der Baracke, wenn mein Vater und ich mit dem Auto absichtsvoll und zielgerichtet in die Einfahrt einbogen, um auf den Parkplatz zu fahren, jedes Mal aufs Neue wie die feierliche Versicherung, dass die Videothek noch da war, für uns, ihre Stammkundschaft, dass sie geöffnet hatte, dass noch mehr neue Filme eingetroffen waren, die ausgeliehen und zu Hause angeschaut werden konnten. Ich war jedes Mal wieder in aufgeregter Erwartung, wenn mein Vater den Blinker setzte, um von der verkehrsberuhigten Wohnstraße in die Einfahrt abzubiegen, und euphorisch, nervös gespannt, wenn uns der Schriftzug nach dem Abbiegen entgegenleuchtete.
Ich erinnere mich an den Innenraum unseres Autos, die verkehrsberuhigte Wohnstraße vor der Windschutzscheibe im gelben Licht der Straßenlaternen, das in einzelnen, langgezogenen Reflexen über die Motorhaube wanderte. Innen die schwach leuchtenden Armaturen, mein Beobachten der lenkenden Hände meines Vaters aus dem Augenwinkel, vom vorüberziehenden gelben Licht der Laternen durch die Scheibe beschienen, pulsierend in diesem Licht, als dränge es von innen gegen die Haut. Mein Wissen, dass etwa zwanzig Meter vor der Einfahrt der Mittelfinger der linken Hand meines Vaters den Hebel nach oben schieben und ein grüner Pfeil zwischen Tacho und Drehzahlmesser aufleuchten würde. Sofort auch das akustische Signal des Blinkens, das elektronische Klacken, dessen kalte Bestimmtheit mir immer angenehm war, weil es das Abbiegen mit jeder Wiederholung zwingend einforderte und ein Vorbeifahren an der Einfahrt, wenn der Blinker einmal gesetzt war, sicher ausgeschlossen werden konnte.
Später ist mir aufgefallen, wie dieses Klacken in seiner rhythmischen Unnachgiebigkeit in verschiedenen Filmen eingesetzt wurde, um auf dramatische Weise menschliches Versagen oder gescheiterte Versuche des Entkommens zu inszenieren. Wenn zum Beispiel nach schweren Unfällen oder Drive-By-Shootings nur noch dieses monotone, unbeirrte Klacken des Blinkers im stehenden Fahrzeug zu hören ist, ohne Musik oder Hintergrundgeräusche, Signalgeber für einen Abbiegevorgang, der niemals stattfinden wird.
Auf meinem Schoß befanden sich auf diesen Fahrten die neutralschwarzen Plastikhüllen mit den zurückzubringenden VHS-Kassetten darin, die wir beim letzten Mal ausgeliehen und zu Hause angeschaut oder zumindest auf Leerkassetten überspielt hatten, um sie der umfangreichen Piratenvideothek meines Vaters hinzuzufügen. Für diese Raubkopiervorgänge hatte mein an sich vordergründig weitestgehend gesetzestreuer Vater, der als Vollzugsbeamter im Mittleren Dienst in der Justizvollzugsanstalt am Stadtrand angestellt war, vom befreundeten Fernsehtechnikermeister Bernd Letterau eine Kombination aus Abspiel- und Aufnahmegeräten in den heimischen HiFi-Schrank eingebaut bekommen, die hochwertig und zuverlässig waren, aber vor allem alt genug, um den Kopierschutz auf den Leihkassetten zu umgehen, da sie ihn wohl schlicht noch nicht erkannten mit ihren alten Abtastköpfen.
Letterau spielte im selben Verein in der Ü40-Herrenmannschaft Tennis, in dem mein Vater sowohl ehrenamtlich als Platzwart tätig war als auch regelmäßig meinen Bruder mit harten Drills trainierte, zu der Zeit, in der mein Bruder als Kind und Jugendlicher überregionale Hoffnungen geweckt hatte, von einem Sportausstatter mit Ausstattung gefördert wurde und geringe Summen bei Preisgeldturnieren gewann, was die Hoffnungen, die Ambitionen und die Erwartungen vor allem meines Vaters mit jedem Erfolg ein wenig steigerte und sich wiederum in noch härterem, anspruchsvollerem Training niederschlug und schließlich in eine Stressfraktur im Schlagarm meines Bruders mündete, die ihn wochenlang außer Gefecht setzte und hinterher nie wieder zu alter Form zurückfinden ließ, zu dem erbarmungslosen Durchschwingen ohne Angst, das seinen Spielstil von Anfang an geprägt und seine Gegner eingeschüchtert hatte.
Die Videothek war ein Raumschiff, das in der Kleinstadt, in der Wohnsiedlung am Stadtrand, gelandet war. Und es brachte den Kleinstadtbewohnern Nachrichten aus phantastischen Welten: fremde Orte, verstörende Bilder, Gewalt, Sex, Sternenkrieg, Dinosaurier, schnellen Witz und unendlichen Verweisreichtum, den ich nicht fassen konnte, vielleicht nie würde fassen können und umso mehr angezogen wurde, zurückwollte, mehr schauen, mehr gezeigt bekommen, was sich anderswo abspielte, wo der Verkehr nicht beruhigt war und das Leben entsprechend entfesselt.
Der Schatten, den die leerstehende Blechbaracke auf den Parkplatz wirft, zieht sich zum Gebäude hin zurück. Der permanent zwischen das Gestrüpp geparkte Passat steht jetzt schon zu mehr als der Hälfte in der Sonne dieses späten Vormittags. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass mein Vater in seiner Wohnung zu dieser Tageszeit wach vor dem Fernseher sitzt. Ich könnte zurückgehen zu seinem Haus und diesmal wirklich die Stufen hoch zu seiner Wohnung im zweiten Stock, klingeln und warten, ob er mir öffnet.
Das Glas der Frontscheibe und der vorderen Seitenfenster des Passats ist von innen beschlagen. Entweder ist der Innenraum feucht geworden, weil die bemoosten Türabdichtungen nicht mehr richtig schließen, und diese Feuchtigkeit verdunstet jetzt im warmen Sonnenlicht von den Armaturen und aus den Sitzpolstern gegen die Scheiben, oder jemand hat da drin übernachtet, geatmet, geschwitzt, liegt vielleicht jetzt noch da, denke ich, und wälzt sich. Ein Windstoß raschelt an den Fetzen der blauen Müllsäcke im verbeulten Bauschuttcontainer und bewegt die Haare auf meinem Kopf.
Zu der Zeit, als der Videotime-Schriftzug noch auf dem Dach der Baracke leuchtete, vor der ich, die schwarzen Plastikhüllen auf dem Schoß, mit dem Abschnallen so lange wartete, bis auch mein Vater sich abschnallte, nachdem er die Handbremse angezogen und seinen Schlüsselbund vom Zündschloss abgezogen hatte, mit der linken Hand den quer über die Brust verlaufenden Gurt fasste und mit dem Daumen der rechten Faust, aus der vorne der Zündschlüssel herausragte, den Öffner am Gurtschloss drückte, war der Parkplatz vor der Videothek ein in den Abendstunden häufig frequentierter Treffpunkt für die Stadtrandproleten der Kleinstadt, die sich dort gegenseitig ihre getunten Kleinwagen präsentierten, ihre Sportfahrwerke, Niederquerschnittreifen, Alufelgen, Rennlenkräder, verchromten Endrohrblenden, Heckspoiler und Wabengitterfrontschürzen. Sehr beliebt war unter den Kleinstadttunern dieser Zeit der Böse Blick, bei dem die Frontscheinwerfer mit zwei abgeschrägten Plastikstreifen so verblendet wurden, dass die Kleinwagen, wenn man vor ihnen stand und sich ihre Vorderansicht als Gesicht vorstellte, wütend wirkten. Die Stadtrandproleten wollten wohl so der latenten Niedlichkeit des Designs ihrer Kleinwagen entgegenwirken.
Das Innere der Verleihvideothek Videotime war zu jeder Tageszeit künstlich beleuchtet. An den Wänden im Eingangsbereich hingen Filmplakate, und der Boden war mit tiefdunklen, stets makellos sauber und neu wirkenden Teppichfliesen ausgelegt. Links vom Eingang ging ein kleiner Raum für Videospiele und Konsolen ab, nach rechts gelangte man in den langen Gang, der durch die Filmregale hindurchführte. Die Filmplakate am Eingang wurden zwar regelmäßig ausgewechselt, wenn ich aber daran denke, wie ich mit meinem Vater durch die Tür ins Innere eingetreten bin, sehe ich an der Wand, die der Eingangstür gegenüberliegt, immer dasselbe Plakat hängen: Total Recall – Die totale Erinnerung. Das angeschnittene Gesicht Arnold Schwarzeneggers in kalten Blautönen, das sich zur Mitte des Posters auflöst in die Dunkelheit des Alls mit den weißen Punkten der von unendlich weit her leuchtenden Sterne und dem Aufforderungstext: »Mach Dich bereit für die Reise Deines Lebens«.
Es gab nur einen einzigen Weg durch die...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 90er Jahre • Adoleszenz • Alien • Anspruchsvolle Literatur • Außerirdische • Bücher über das Erwachsenwerden • Die Einflüsse der Popkultur auf das Aufwachsen • Ein Buch von S. Fischer • Familie • Fantasy • Generation X in der Literatur • Geschlechter-Rolle • Horrorfilm • Identität • Mutter • Neunziger Jahre Kultur in Romanen • Popkultur der 90er • Provinz • Pubertät • Raumschiff • Science-fiction-Film • Shortlist Wilhelm-Raabe-Literaturpreis • Tennis • Trennung • Vater • Videothek • Wrestling • Zombie |
ISBN-10 | 3-10-491710-8 / 3104917108 |
ISBN-13 | 978-3-10-491710-8 / 9783104917108 |
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