Der Herzschlag der Toten (eBook)
416 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-31238-1 (ISBN)
Lese- und Medienproben
Ralf H. Dorweiler studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Köln, arbeitete als Schauspieler, im Management für internationale Konzerne und schließlich als Redakteur bei einer großen Tageszeitung. 2006 erschien sein erster Roman. Mittlerweile ist er hauptberuflicher Schriftsteller und lebt mit seiner Frau in Bad Pyrmont.
Prolog
Donnerstag, 21. April 1887
»Eddi!«
Der unterdrückte Ruf und ein Rütteln an der Schulter weckten ihn nur langsam aus seinem traumlosen Schlaf.
»Eddi, wach auf!«
Verstört wandte er sich in der Dunkelheit in die Richtung von Paule, der ihn immer stärker schüttelte. Er spürte den Atem des Kumpans an seinem Ohr, eine abstoßende Mischung aus Fäulnis und zu viel von dem billigen Kümmel, den sie bis spät in die Nacht zusammen getrunken hatten.
Eddie wich mit dem Kopf zurück. »Was ist denn los?«
»Psst«, flüsterte Paule alarmiert. »Da ist jemand.«
»Paule, glaub mir, hier kann niemand sein.«
»Wir sind doch auch hier.«
Diesem Argument konnte Eddi sich nicht verschließen. Schwerfällig stemmte er sich in eine sitzende Position und lauschte in die Dunkelheit.
»Ich kann nichts hören«, sagte er nach ein paar Sekunden kraftlos und ließ sich wieder zu Boden sinken. Die Kälte aus dem Fundament kroch durch seine Decke und drang durch die feuchte Kleidung. Das war Gift für sein Bein. Er versuchte, den Schmerz nicht zu beachten. Am besten wäre jetzt ein Schluck aus der Pulle, aber die hatten sie längst ausgetrunken.
»Doch, da war was«, beharrte Paule, immer noch flüsternd. »Hier ist eben einer vorbei!«
»Das hast du bestimmt nur geträumt«, versuchte Eddi, ihn zu beschwichtigen. »Oder es war eine Ratte, die …«
Er stockte und setzte sich wieder aufrecht. Ein leises, entferntes Quietschen drang an seine Ohren. Wie von einer nicht geölten Tür. Schon war es wieder still. Vielleicht ein Wachmann? Oder ein Säufer, der – ebenso wie sie – bei diesem Dreckswetter einen trockenen Unterschlupf suchte? Beides war nicht gut, denn beides versprach nichts als Ärger. Auf jeden Fall mussten sie sich bereit machen, das alte Kontor notfalls schnell zu verlassen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, wollte Paule wissen. Er war zwar der Ältere von ihnen, überließ Entscheidungen aber gerne seinem Kumpel.
Eddi zuckte mit den Schultern, doch dann wurde ihm bewusst, dass Paule das in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Sie brauchten Licht. Er tastete nach den Phosphor-Streichhölzern in seiner Tasche und der kleinen Petroleumlampe, die neben seinem Kopf stehen musste. Es dauerte einen Moment, bis er den Zündkopf entflammt hatte und beißender Rauch aufstieg. Dann öffnete er das Frontglas der Lampe und hielt die schon wieder kleiner werdende Flamme an den Docht. Das Feuer fraß sich bald fest.
Ein schwacher rötlicher Schein beleuchtete Paules schiefe Visage. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er Eddi fragend an. Seine Tränensäcke warfen lange Schatten über die Wangen bis zu seinem schmutzigen Bart.
»Wenn es ein Wachmann ist, müssen wir vielleicht rennen«, sagte Eddi. »Mach dich fertig. Aber leise!«
Er stellte seine Stiefel bereit und stemmte sich mithilfe seiner alten Krücke hoch. Dieser verdammte Schmerz! Es kam ihm vor, als würde sein Bein immer steifer. Er glitt in das Schuhwerk, während Paule hektisch die Decken zusammenrollte.
Beide verharrten gleichzeitig in ihrer Bewegung, wie eingefroren. Da war es wieder. Dieses Quietschen. Ein Blick zu Paule bewies ihm, dass der alte Säufer es ebenfalls gehört hatte. Eddi legte einen Finger auf die spröden Lippen.
Klock, klock, klock … Schritte. Schwere Schritte, die sich ihnen näherten. Er presste erneut den Zeigefinger auf den Mund. Paule nickte stumm und biss sich auf die Unterlippe.
Die Schritte wurden immer lauter. Schwere Sohlen hallten auf kaltem Stein. Eddi konnte das Weiße in Paules Augen erkennen. Schnell breitete er eine Wolldecke über die Lampe, bis nur noch ein tiefroter Schein durch das dichte Gewebe drang. Es sah aus wie ein letztes Stück Glut in der Asche eines Lagerfeuers. Licht verströmte sie keines mehr. Eddi starrte trotzdem wie ein Kaninchen vor der Schlange auf die Tür. Durch den Spalt am Boden erschien ein schwacher Lichtstreif. Die Schritte klangen schon ganz nah. Eddi war wie gelähmt. Klock, klock, klock …
Genau vor ihrer Tür setzte das Geräusch aus. Das Licht unter dem Türspalt war jetzt stärker, lief wie eine Pfütze in ihre Zuflucht hinein. Eddi spürte, wie ihm trotz der Kälte Schweiß auf die Stirn trat. Es gab keinen zweiten Ausgang, deswegen hatten sie diesen Raum ja gewählt. Sogar die hohen, schmalen Fenster waren mit Brettern vernagelt. Vor der Tür erklang ein Räuspern. Was machte der Mann da nur? Paule zog neben Eddi die Nase hoch. Nicht jetzt!, beschwor er ihn mit einem Knuff des Ellenbogens.
Bis auf das Pochen seines Pulses in den Ohren herrschte absolute Stille. Wie damals vor dem Angriff. Sie hatten gewusst, dass die Franzosen auf der anderen Straßenseite auf sie warteten, aber die Soldaten waren weder zu sehen noch zu hören gewesen. Bis sie plötzlich losschlugen. Sein Bein schmerzte, als zerschmettere ihm die Kugel den Knochen ein zweites Mal. Er biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Tränen der Anstrengung traten ihm in die Augen.
Klock, klock, klock … Endlich, der Mann ging weiter! Jetzt erst merkte Eddi, dass er die Luft angehalten hatte. Mit dem Atem drang ein leises Wimmern aus seinem Mund. Auch Paule seufzte erleichtert und setzte an, etwas zu sagen, doch Eddi hieb ihm erneut den Ellenbogen in die Seite.
Die Schritte verhallten. Eddi zitterte vor Anspannung. Er nahm einen eigenartigen Geruch wahr. Die Lampe! Hastig hob er die Wolldecke an. Zuerst blendete ihn das Licht, doch dann fiel sein Blick auf die Stelle, wo der Wollstoff auf dem Hitzeabzug gelegen hatte, und er erkannte, dass sie kurz vor dem Ankokeln war.
Er ließ die Decke zu Boden sinken und rieb sich das Bein, bis das Stechen wieder erträglich wurde. Dann ging er zur Tür und öffnete sie einen kleinen Spalt. Von dem Mann war nichts zu sehen. Weit weg hörte Eddi eine Tür zuschlagen.
»Verdammter Möwendreck!«, fluchte Paule und kratzte sich den schmutzigen Schädel. »War das ein Wachmann?«
Eddi zuckte mit den Schultern, nahm die Lampe auf und wandte sich im Flur in die Richtung, aus der das Quietschen gekommen war.
»Eddi?« Paule klang ängstlich. »Was hast du vor?«
»Nachsehen, was er hier wollte«, gab er zurück.
Ob ein Einbrecher das leere, abrissreife Kontor nutzte, um hier seine Beute zu verstecken? Eddi malte sich einen Seesack voll mit Goldschmuck und Silberbesteck aus. Falls sie einen solchen Schatz fanden, würde er sich für die unterbrochene Nachtruhe eine Entschädigung holen.
Paule nahm ihr Gepäck auf und folgte ihm. Der Gang machte einen Knick. Auf der einen Seite befanden sich feste Türen, auf der anderen Holzverschläge, deren Gattertore offen standen. Der Boden war voller Dreck. Alter Staub, heruntergefallener Putz, dazu Köttel von Ratten und Mäusen. Irgendwo drang Wasser durch das Mauerwerk. Eddi erkannte eine Spur von großen, breiten Stiefeln – die eines Hafenarbeiters? Die Abdrücke mussten von dem Unbekannten stammen und führten zu einer der Türen.
»Was, wenn der Kerl zurückkommt?«, fragte Paule.
Eddi hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht, zögerte aber nur kurz. Sie würden nachsehen, mitnehmen, was sie tragen konnten, und schnell wieder verschwinden.
Die Klinke, an der die Spur endete, hakte ein wenig, ließ sich dann aber doch hinunterdrücken. Die Tür war nicht abgeschlossen. Eddi schob sie mit der Krücke auf und erkannte am Quietschen, dass sie hier richtig waren. Mit rasendem Herzschlag hob er die Lampe an. Ihr Licht zitterte über Boden und Wände, dann fiel es auf weiße Haut. Schiet! Da war noch jemand! Eddi machte einen Satz zurück und stieß gegen Paule, der vor Schreck ein überraschtes Quieken von sich gab.
»O Gott!«, rief Eddi.
»Was ist?« Paule spähte an ihm vorbei. »O Gott«, stieß dann auch er hervor. »Was hat sie? Hallo? Fräulein?«
»Sie kann dich nicht mehr hören, du Köömbroder«, schimpfte Eddi und näherte sich vorsichtig der jungen Frau.
Sie saß vollkommen nackt und mit weit gespreizten Schenkeln gegen die Wand gelehnt. Blond war sie und sicher einmal hübsch gewesen. Mit gebrochenem Blick starrte sie zur Tür. Der Mund stand weit offen und entblößte weiße Zähne.
Paule ließ sein Bündel zu Boden fallen, ging zu ihr und rüttelte sie an der Schulter. »Lebst du noch, Fräulein?«
»Spinnst du? Fass sie nicht an!«
Doch es war zu spät. Der Kopf sank ihr wie in Zeitlupe auf die Brust und zog den Oberkörper mit sich nach vorne. Sie kippte um wie ein Sack Getreide.
»Schiet!«, fluchte Paule. »Die lebt nicht mehr. Leuchte mal hier!«
Eddi kam der Aufforderung nach und hob die Lampe. Im flackernden Licht sah er die Wunden am Rücken nun auch. Vor Schreck wäre ihm beinahe die Krücke aus der Hand gerutscht. Furchtbar!
»Das arme Kind«, flüsterte Eddi. »Die war höchstens zwanzig. Wer hat ihr das nur angetan?«
»Der Kerl von eben natürlich«, stellte Paule fest. »Komm, lass uns schleunigst abhauen!«
»Aber wir können sie doch nicht einfach so im Dunkeln allein lassen«, gab Eddi zurück. »Wir müssen die Udel holen.«
»Wir gehen garantiert nicht zur Polizei«, beschwor Paule ihn. »Zwei Suffbrüder wie wir, da ist die Sache für die doch gleich geklärt. Bevor du dich umsiehst, stehen wir beide vorm Scharfrichter!« Er fuhr sich mit dem Daumennagel quer über die Kehle.
Paule hatte recht. Und doch konnte Eddi die junge Frau nicht einfach so zurücklassen.
»Was, wenn ihre Seele noch in ihr steckt?«, fragte er.
Paule...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Rieker und Ahrens |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 2024 • Alex Beer • Atmosphärisch • düster • eBooks • Frauenmörder • Hamburg • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Kaiserzeit • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neue Reihe • Neuerscheinung • spannend • Volker Kutscher |
ISBN-10 | 3-641-31238-8 / 3641312388 |
ISBN-13 | 978-3-641-31238-1 / 9783641312381 |
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