Stramer (eBook)
410 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78036-7 (ISBN)
Sensibel und mitreißend erzählt Miko?aj ?ozi?ski von einer einfachen jüdischen Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von ihrem Alltag, ihren Hoffnungen, Träumen und Reibereien - und von einer berührenden Verbundenheit in sich verdunkelnden Zeiten.
Die winzige Wohnung in der Goldhammerstraße platzt aus allen Nähten: Nathan Stramer, seine Frau Rywka und ihre sechs Kinder schlagen sich so durch. Nathan hat sein Glück zu Beginn des Jahrhunderts in New York gesucht und ist nach einigen erfolglosen Jahren wieder nach Galizien zurückgekehrt. Sein Geschäftssinn ist so ungebrochen wie trügerisch - Tausende Kerzen, leider ohne Dochte, dann der Wagen voll Kolophonium, wie hätte er ahnen können, dass es so wenige Geiger gibt in Tarnów?
Nebenbei versucht er, seine sechs Kinder auf den Weg zu bringen. Aber die Kinder haben ihre ganz eigenen Wege im Sinn. Und während Nathan sich in die nächste Geschäftsidee versteigt, die ihnen endlich den Umzug in die Neue Welt, das elegante jüdische Viertel mit den Buntglasfenstern und den verzierten Erkern bringen soll, wachsen die Kinder heran. Die Zeiten werden härter, der wachsende Antisemitismus vergiftet die gesellschaftliche Atmosphäre immer stärker. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen scheint das Ende der Familie vorgezeichnet.
Miko?aj ?ozi?ski, geboren 1980 in Warschau, ist Schriftsteller, Fotograf und Drehbuchautor. Sein dritter Roman, <em>Stramer</em> (2019), wurde in Polen unter anderem für den renommierten Nike-Preis nominiert. Er gilt als einer der wichtigsten polnischen Autoren seiner Generation. ?ozi?ski lebt in Warschau.
Nathan
Er kam wegen Rywka aus Amerika zurück. Vier Jahre lang, erzählte er, habe er jeden Tag an dieses Mädchen gedacht, bis er schließlich eine Rückfahrkarte für das Schiff kaufte. Dass er ohne einen Groschen zurückkam und sich sogar das Geld für die Fahrkarte von seinem älteren Bruder leihen musste, erzählte er nicht. Dafür liebte er es, amerikanische Wörter ins Gespräch einzuflechten, die niemand in der Familie verstand.
Aus Amerika hatte er einen Ledergürtel mit einer Messingschnalle mitgebracht. Ein Abschiedsgeschenk seines Bruders für die Rückkehr nach Polen. Am Hafen von New York hatten sie sich umarmt und zum letzten Mal gesehen. Wenn man sich den Verschleiß der einzelnen Löcher ansah, konnte man an dem Gürtel ablesen, wie sich Nathans Figur über die Jahre verändert hatte. Er konnte selbst kaum glauben, dass er einmal so schlank gewesen war.
Ähnlich wie sein Vater und sein Großvater erinnerte er an einen Ringer. Einen alten Ringer. Breite Schultern, ein kaum zu erkennender Hals und ein herausgestreckter Brustkorb wie bei einem Hahn. Er war stolz darauf, dass sie ihn in der Stadt den »Boss« nannten.
Wenn er auf der Straße gefragt wurde, »wie geht’s«, erwiderte er:
»Gut, aber nicht hoffnungslos.«
Er tippte sich an den Hut und ging weiter.
Alle paar Monate kam ein Brief aus New York. Ben schrieb, er müsse die Reise nach Tarnów leider verschieben. Er könne den Papierwarenladen jetzt nicht alleinlassen. Bald beginne das Schuljahr, es gebe zu viele Bestellungen. Er müsse eine unehrliche Mitarbeiterin entlassen und habe noch keine neue, vertrauenswürdigere gefunden. Bald sei Weihnachten, die Zeit der Geschenke, und »bei uns kaufen nicht nur Juden«. Seine Frau sei schon wieder krank. Eine Krise ziehe auf, wenn er den Laden jetzt im Stich ließe, gäbe es keinen Grund mehr, nach Amerika zurückzukehren. Aber er habe Sehnsucht und plane die Reise fürs kommende Jahr. Er könne es kaum erwarten, Rywka und die Kinder kennenzulernen.
Als Eltern wisst ihr am besten, was sie brauchen, also kauft ihnen das von mir.
In den auf seinem Firmenpapier geschriebenen (Ben Stramer General Merchandise, 33 Grand St, NY) und dreifach gefalteten Brief legte er immer ein paar grüne Banknoten. Er hatte sie in violettes Durchschlagpapier eingewickelt, damit man das Geld von außen nicht sehen konnte. Dieses Papier verfärbte die Banknoten jedes Mal; wenn man sie herausnahm, waren sie grün-violett, und Rywka musste sie behutsam abwaschen und über dem Küchenherd trocknen.
Den Kindern gab Nathan nur die amerikanischen Briefmarken von den Umschlägen. Die Dollars legte er beiseite.
»Ich arbeite ständig, ich hab keine Zeit, Geld zu verdienen«, erklärte er seiner Frau.
Und er wartete. Er wartete und wartete und wartete. Dass sich ein gutes Geschäft bieten würde. Ein Geschäft, das das Leben der Stramers verändern könnte. Das sie von der Einzimmerwohnung mit kleiner Küche im Parterre am Ende der Goldhammer-Straße ganz nach oben katapultieren und erst im höchsten Stockwerk eines der Häuser mit den Buntglasfenstern wieder absetzen würde, in dem eleganten polnisch-jüdischen Stadtteil, am besten in der Nähe der Straßenbahn, auf die Tarnów so stolz war. In einer der riesigen, hohen Wohnungen mit Badezimmer, Toilette und fließend Wasser, mit elektrischem Licht und blumengeschmücktem Balkon.
Eine Zeitlang sah es so aus, als sollte sich sein Wunsch erfüllen. Er hatte gerade einen ganzen Waggon Kolophonium gekauft. Man hatte ihm gesagt, das bräuchten Geiger, um das Rosshaar der Bögen einzureiben. Woher hätte er wissen sollen, dass es in Tarnów so wenige Geiger gab? Schließlich kaufte er selbst eine Geige mit Bogen und verfügte, Salek, von dem Rywka sagte, er habe so schöne, lange Finger, solle darauf spielen.
Obwohl er nie in die Philharmonie oder die Oper ging, sah er vor seinem inneren Auge schon seinen siebenjährigen Sohn auf den Bühnen von Krakau oder gar Wien. Auch Rywka konnte sich Salek gut in einem kleinen Smoking vorstellen, mit Fliege und seiner lockigen Haarpracht. Im Gegensatz zu seinen Brüdern mochte er es nicht, sich zu prügeln oder schmutzig zu machen.
»Hier«, sagte Nathan und überreichte ihm das Instrument. »Ein berühmter Geiger hat noch keiner Familie geschadet.«
Man wusste ja, wie viel man mit Eintritt verdienen konnte.
Doch auch daraus wurde nichts.
Zwar schickte er ihn ein paarmal zum Geigenunterricht bei einer polnischen Lehrerin. Doch ging Salek auch wirklich dorthin? Jedes Mal, wenn Gäste kamen und Nathan ihn bat, ein »kleines Konzert« zu geben, hatte Salek eine Ausrede parat. Bis Nathan nach einem halben Jahr zu bitten aufhörte und befahl, »auf der Stelle« die Geige zu holen.
Nach dem Auftritt schwieg er.
Erst als die Gäste gegangen waren, schüttelte er den Kopf auf dem fast unsichtbaren Hals und sagte:
»Goddammit!«
Niemand verstand ihn, und er fügte hinzu:
»Das Geld zum Fenster rausgeschmissen.«
An diesem Abend griff er zum ersten Mal statt nach dem Gürtel nach dem Geigenbogen. Immerhin dazu war er gut! Und in der Tat. Er musste gar nicht fest zuschlagen, und Salek gab Töne von sich, die denen ganz ähnlich waren, die er während des »kleinen Konzerts« gerade noch seiner Geige entlockt hatte.
Bei der Arbeit, an der Kasse der jüdischen Schlachterei, wartete Nathan ebenfalls auf das Geschäft seines Lebens. Deshalb kam es vor, dass er im Eifer seiner Gedanken, Pläne und minutiös ausgerechneten künftigen Gewinne den Kunden falsch herausgab.
»Shit«, sagte er, wenn am Abend Geld in der Kasse fehlte.
Aber es kam auch vor, dass zu viel drin war. Dann schwieg er und steckte den Überschuss diskret in seine Hosentasche.
Ich habe Kinder, dachte er.
Als der entsprechende Augenblick endlich gekommen war, wäre er am liebsten von der Arbeit nach Hause gerannt. Unterwegs machte er Einkäufe. Zu Hause konnte er nicht stillsitzen. Er half Rywka beim Kochen. Während des Abendessens fragte er die Kinder, was es in der Schule Neues gebe. Allerdings brachte er nicht die Geduld auf, ihnen auch zuzuhören. Immerhin hat er gefragt, dachte Rywka. Später bat er sie, sie solle sich hinsetzen und ausruhen. Er räumte die Teller ab, krempelte die Ärmel hoch und wusch in der Schüssel das Geschirr.
Erst als er fertig war und die Kinder schliefen, holte er aus dem Metallfuß des Bettes die zusammengerollten Dollars.
»Ich habe das Gefühl, dass es diesmal klappt. Dass es das Richtige ist.«
Rywka sagte nichts. Aber Nathan wusste, was sie dachte:
Warum ist es dir beim letzten Geschäft nicht in den Sinn gekommen, dir wenigstens eine der Kerzen genauer anzusehen?
Er wollte damals keine Zeit verlieren, fürchtete, andere Kaufleute könnten ihm zuvorkommen, jemand könnte einen besseren Preis bieten. Aber am meisten fürchtete er, der Händler, der von weit her kam, aus Kolomyja, könnte erfahren, wie viel in Tarnów die Kerzen kosteten, denn dann würde ihm klar, dass er im Begriff war, die seinigen spottbillig zu verkaufen. Nathan musste schnell handeln. So eine Gelegenheit würde sich nicht wieder bieten. Viermal billigere Kerzen als aus der berühmten jüdischen Fabrik »Biene«, die alle Kirchen in Tarnów belieferte! Vielleicht sogar in Krakau. Das hatte er gehört, doch er wusste nicht, ob es stimmte oder Reklame war. Im Übrigen hatte er auch gehört, dass der Besitzer, Herr Szpilman, heimlich den Sozialisten Geld gab. Das wiederum konnte Gegenreklame sein, verbreitet von den Konkurrenten der »Biene«.
Als er bezahlte, fühlte Nathan sich einen Moment lang sogar wie ein Betrüger. Vielleicht sollte er dem unglücklichen Händler aus Kolomyja noch etwas drauflegen oder ihn zumindest zum Essen einladen? Doch dieses Gefühl wich rasch dem Bedauern, dass der Händler nicht mehr Kerzen zu verkaufen hatte. Vielleicht lohnte es also doch nicht.
...Erscheint lt. Verlag | 13.10.2024 |
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Übersetzer | Renate Schmidgall |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Stramer |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • Amerika • Antisemitismus • Armut • Deportationen • Familie • faschisten • Frühgeburt • Heimkehr • Heirat • Holocaust • Johann-Heinrich-Voß-Preis 2017 • Juden • Jüdinnen • jüdische Familie • Jüdische Familiengeschichte • jüdisches Leben in Polen • Karl-Dedecius-Preis der Robert-Bosch-Stiftung 2009 • Kinder • Kommunismus • Kościelski-Preis • Liebesgeschichte • moderne polnische Literatur • Mutter • Mutterschaft • New York • Niké-Preis • Polen • Reisefieber • Sowjetunion • Soziale Gerechtigkeit • Spanischer Bürgerkrieg • Stramer deutsch • Tarnów • UdSSR Sowjetunion • Vater • Zwischenkriegszeit |
ISBN-10 | 3-518-78036-0 / 3518780360 |
ISBN-13 | 978-3-518-78036-7 / 9783518780367 |
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