Wo der Wind wohnt (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31150-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo der Wind wohnt -  Samar Yazbek
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Ali liegt auf einem verlassenen Berggipfel auf dem Rücken und weiß, dass etwas nicht stimmt. Grelles Licht dringt durch seine Lider, und in seinem Körper pocht ein dumpfer Schmerz. Während er sich in die Geborgenheit eines nahen Baumes zu retten versucht, sieht er die verirrte Granate wieder vor sich, die seinen Militärposten getroffen hat. Doch jede Empfindung bringt eine weitere Erinnerung zurück: an das Spiel des Lichts in den Blättern seines Baumhauses, an das melodiöse Pfeifen der Bäume im Tal, an die Kraft der mütterlichen Hände und an den lockenden Wind, der ihm vom Fliegen erzählt. In wortmächtigen Szenen setzt Samar Yazbek der Sprachlosigkeit des Krieges die Kraft der Poesie entgegen und erschafft einen literarischen Rausch aus Güte, Grausamkeit und Sehnsucht.

Samar Yazbek (*1970 in Syrien) studierte arabische Literatur, engagiert sich für Bürgerrechte und arbeitet als Fernsehreporterin, Journalistin und Schriftstellerin. 2011 floh sie zusammen mit ihrer Tochter aus Damaskus und lebt seither in Paris. Für ihr Werk erhielt Yazbek mehrere Auszeichnungen, darunter den PEN Pinter Preis, den Tucholsky Preis, den PEN Oxfam Novib Preis und den Prix du Meilleur Livre Étranger. Ihre Romane waren außerdem nominiert für den Prix Médicis, den Prix Femina und den National Book Award 2021.

Samar Yazbek (*1970 in Syrien) studierte arabische Literatur, engagiert sich für Bürgerrechte und arbeitet als Fernsehreporterin, Journalistin und Schriftstellerin. 2011 floh sie zusammen mit ihrer Tochter aus Damaskus und lebt seither in Paris. Für ihr Werk erhielt Yazbek mehrere Auszeichnungen, darunter den PEN Pinter Preis, den Tucholsky Preis, den PEN Oxfam Novib Preis und den Prix du Meilleur Livre Étranger. Ihre Romane waren außerdem nominiert für den Prix Médicis, den Prix Femina und den National Book Award 2021.

1


Es ist nur ein kleines Blatt. Durch seine verklebten Wimpern kann er es unter der Mittagssonne nicht sehen.

Nur das Blatt eines Baumes, nichts weiter. Grün und an den Rändern ausgebuchtet, liegt es wie ein Vorhang über seinen Augen, wenn er langsam und unter großer Anstrengung die Lider bewegt. Ein Blatt, das seine langen lehmverklebten Wimpern berührt. Ein Blatt, das er nicht deutlich erkennen kann, weil feine Staubkörnchen, die in seiner Augenflüssigkeit schwimmen und jucken und brennen, ihn daran hindern. Würde er die Lider noch einmal bewegen und die Augen öffnen, würde ihm das Blatt in sein linkes Auge fallen. Die ganze Welt besteht aus diesem einen Blatt. Kein Geräusch, kein Geruch. Das andere Auge spürt er nicht. Ob er überhaupt noch lebt? Vielleicht! Hat er noch einen Körper? Wo ist er, dieser Körper? Sein Gefühl für sein eigenes Ich reicht nicht weiter als bis zu dem fahlen Licht, das von schwarzen Linien durchbrochen wird. Es ist unerheblich, ob das seine Wimpern oder seine Albträume sind, denn die Dunkelheit senkt sich schon wieder in ihn herab. Er stürzt langsam hinunter, tief, in einen ihm unbekannten Ort. Seine Schwerkraft schwindet. Er spürt, wie sein Kopf hin- und herschaukelt. Stürzt er vielleicht in ein Grab? Ist das seine Beerdigung? Ist das sein Kopf?

Das Blatt ist herabgefallen, sein Blick ist frei. Er sieht ein Auge – sein Auge. Es schwebt in der Luft und beobachtet, wie ein Körper in eine Grube sinkt. Sein Körper liegt in einem Sarg. Er sieht ihn nicht, aber er weiß, dass es sein Körper ist. Die Grube ist nicht tief genug, dass er es mit der Angst zu tun bekäme, aber tief genug, um darin zu verschwinden und sich aufzulösen, nachdem sie zugeschüttet wurde. Ein einziges Auge also.

Menschliche Silhouetten stehen um die Grube herum. Er genießt das Gefühl, in dem Abgrund zu schaukeln, wo er die feinen verzweigten Graswurzeln in den Erdschichten erkennen kann. Dünne und dicke weiße Wurzeln, die von Spaten zerquetscht wurden. Er riecht den Morgenduft, der von den Wurzelenden aufsteigt, und er sieht rosafarbene Würmer, die auf den Sarg fallen. Er erinnert sich an die weiche Berührung, als sie ihm über die Hand krochen. Wo war das gewesen? Wann hatte er rosafarbene Würmer gesammelt, sie auf einem großen Felsen aufgereiht und Wettrennen mit ihnen veranstaltet? Er weiß es nicht. Aber der Anblick der tanzenden Würmer, die ihn im Fallen begleiten, beruhigt ihn. Dann wird das Bild klarer, es ist der Friedhof neben dem Mausoleum und dem riesigen Baum. Er ist immer noch hier. Wo? Und was ist dieses »hier«? Er ist es, kein anderer. Er ist nicht von seiner Existenz getrennt. Er sieht sich selbst als ein sehendes Auge. Er sieht Frauen, die sich hinter den Männern auf dem Friedhof versammelt haben. Die Häupter mit weißen Tüchern bedeckt. Unter ihnen sieht er eine Frau, die sich ihr weißes Tuch vom Kopf reißt, sich zwischen die Männer drängt und schreit. Es ist seine Mutter. Woher weiß er, dass es seine Mutter ist? Er kann sie doch gar nicht genau erkennen! Er hat also eine Familie. Aber er fühlt nichts. Er ist wie ein fliegender Vogel. Er hat seine Mutter gesehen, und er weiß, dass er kein Vogel ist. Er ist nichts als ein einziges Auge. Er ist nicht einmal zwei Augen. Aber er kann dreidimensional sehen. Er ist ein Auge, das über dem Friedhof des Dorfes schwebt, seines Dorfes, und er sieht sich selbst in die Grube sinken. Er hört Weinen, und er nimmt die Schemen einer Frau wahr. Aus der Art, sich seltsam hüpfend fortzubewegen, als wäre sie verärgert, schließt er, dass es seine Mutter ist. Er hört Jubeltriller, Schluchzen, Schüsse, Gemurmel. Das kennt er von Beerdigungen. Das übliche Lamentieren und Wehklagen aber hört er nicht, und er sieht keine Frauen, die sich die Kleider über der Brust zerreißen. Die aufgeregten Stimmen, die er dann vernimmt, scheinen ihm von anderer Art zu sein. Das da ist sein Vater. Und seine verwitwete Schwester mit ihrem dicken Bauch. Der Anblick kommt ihm nicht fremd vor, er hat das alles irgendwann schon einmal gehört und gesehen. Aber er sieht es nur verschwommen, denn er schwebt in der Luft und kann nicht herunter. Er ist ein fliegendes Auge, das herabsinkt, um zu sehen, ob dies seine eigene Beerdigung ist oder die seines Bruders.

Es gelingt ihm nicht, sich zu bewegen und herauszufinden, für wen das Grab gedacht ist, denn er ist mit unsichtbaren Seilen am Himmel festgebunden. Die Menschenmasse unter ihm geht auseinander. Die Leute bewegen die Lippen, aber er kann ihre Stimmen nicht hören. Er will schreien, sagen, dass er dort ist, dass er nicht tot ist, und dass er nicht sterben will. Er hätte ihnen am liebsten klargemacht, dass derjenige, der in diese Grube herabsinkt, irgendein Monster ist, oder vielleicht ein Fremder, aber nicht er. Aber niemand hört ihn. Diese Beerdigung kommt ihm bekannt vor, doch er erkennt nicht, ob es die seines Bruders oder seine eigene ist. Er blickt sich um und sieht noch andere Körperteile, die am Himmel festgebunden sind, sie starren auf zahlreiche Gruben überall auf den Berggipfeln, die das Meer überblicken. Kurz schnürt sich ihm die Kehle zu, dann kommt er wieder zu sich. Wie kann sich einem Auge die Kehle zuschnüren?

Er ist nur ein einziges Auge, das diese Grube sieht. Endlich kann er seine Mutter singen hören. Das ist ihre Stimme. Manchmal singt seine Mutter, und manchmal lässt sie ein lautes Seufzen hören. Er sieht sie schreien, er weiß, dass sie seinen Namen ruft, aber er hört nichts. Ihre Stimme erstirbt, wenn sie ihn ruft. Sie blickt in den Himmel und weiß, dass er sie sieht. Die Stimme seiner Mutter wird lauter, sie ruft ihn, und das bedeutet, dass er tot ist, während er seine Seele im Himmel schaukeln sieht. Er will pfeifen, damit seine Mutter ihn erkennt, aber er ist nur ein Auge, und er ist nicht einmal imstande, wie eine Amsel zu zwitschern, wie er es immer gemacht hat. Er kann die Fahne deutlich erkennen: rot, weiß, schwarz, in der Mitte zwei Sterne. Welche Farbe haben sie? Er weiß es nicht. Dann sieht er die Hände seiner Mutter den Sarg umklammern und die Fahne wegziehen. Es kommt ihm vor, als starre er auf einen riesigen Bildschirm, auf dem nur noch ihre aufgerissenen Hände zu sehen sind, die sich wie Nägel in das Holz krallen, um Teil des Sargs zu werden. Dann verschwinden Stimme und Farben, und es bleibt nur der Körper seiner Mutter zurück, die sich gegen den Sarg drückt. Da weiß er, dass nicht er der Tote ist, denn er erinnert sich plötzlich, genau in dem Augenblick, in dem er seine Lider bewegt und ein Blatt sieht, dass dies die Beerdigung seines Bruders ist, dass nicht er es war, der in diese Grube gelegt wurde. Er öffnet sein anderes Auge. Das Blatt ist heruntergerutscht, er hat freie Sicht. Er stellt fest, dass sein Kopf unverletzt ist und auf seinem Rumpf sitzt, und noch weitere Blätter den Teil seines Körpers bedecken, den er spürt. Er ist in der Lage, den Kopf zu bewegen und den Baum zu sehen! Einen großen Baum, der weit weg ist. Aber nicht so weit, dass er eine Einbildung zu sein scheint. Er ist weder Traum noch Albtraum. Er reißt die Augen auf, und plötzlich werden sie von Licht überflutet. Er lebt. Und er ist erst seit Kurzem hier. Er weiß nicht genau, was »seit Kurzem« bedeutet, aber er ist hier. Über ihm der Himmel, und sein Körper ist bedeckt von verwitterten gelben und grauen Blättern. Ein einziges grünes Blatt hängt über seinem linken Auge. Kein Geräusch. Absolute Stille. Da realisiert er, dass er sich nicht bewegen kann und dass er den vertrauten Geruch von Verbranntem riecht. Er weiß, dass er zwei Hände hat, denn er kann sie spüren. Dann hört er ein Rascheln und das Zerfallen von Blättern. Er vollführt eine leichte Bewegung, die genügt, um festzustellen, dass er auch mit seinem anderen Auge sieht. Für jemanden, der aus dem Himmel auf ihn herunterblickt, muss er aussehen wie ein Haufen Laub und Zweige, aus denen zwei Augen herausschauen, das Gesicht verborgen unter einer Maske aus Lehm und Blut. Nur das Weiß seiner Augen lässt erahnen, dass dort ein menschlicher Körper in der Einöde eines Berggipfels liegt, auf dem ein großer Baum steht.

Bis zu diesem Augenblick wusste er das nicht. Er wusste nicht, dass er unter Laub, Erde und Zweigen begraben ist. Ihm war nur bewusst, dass er atmete und dass er zwei Augen und zwei Hände hatte. Er hört die Schläge seines Herzens und stößt einen tiefen Seufzer aus, der den Brustkorb in Bewegung versetzt. Auch das Rascheln vernimmt er wieder. Er liegt immer noch hier, auf dem Boden, aber er spürt seine Füße nicht. Ein brennend heißer Spieß sticht ihm in den Rücken. Oder vielleicht ein eiskalter. Er weiß nicht, was es ist, aber es fühlt sich klebrig an. Als läge er bis zur Brust unter Zement begraben. Er kann nicht aufstehen, um seinen Körper zu inspizieren, aber er glaubt noch immer, dass er am Leben ist.

Die Anwesenheit des Baumes verwirrt ihn. Vielleicht ist es der Baum des Dorfmausoleums. Oder der Baum neben ihrem Haus! Und vielleicht ist er es doch, der in die Grube gelegt wurde. Er ist sich noch nicht sicher, ob er fantasiert, trotz der Erinnerung an die Beerdigung seines Bruders. Das ist der gleiche Baum, den er seit seiner Kindheit kennt. Nach einer Stunde, in der er schwitzt und in die hochsteigende Sonne starrt, erinnert er sich, dass dieser Baum an der Frontlinie stand, und dass er hier war und ihn wie üblich verzückt angesehen hat, das Gewehr in der Hand, neben ihm seine Kameraden.

Er beschließt, sich zu bewegen, obwohl er es kurz angenehm fand, in den Schlummer des Abgrunds zu fallen. Noch einmal schüttelt er sich und muss feststellen, dass er...

Erscheint lt. Verlag 19.8.2024
Übersetzer Larissa Bender
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aleviten • Arabien • Erinnerung • Frau • Kindheit • Krieg • Soldat • Syrien
ISBN-10 3-293-31150-4 / 3293311504
ISBN-13 978-3-293-31150-3 / 9783293311503
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