Hedda Adlon (eBook)
272 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-32040-9 (ISBN)
Die letzten Kriegstage in Deutschland. Es herrschen Chaos und Gewalt. In Neu Fahrland bei Potsdam stürmen sowjetische Soldaten die Villa Adlon und verhaften den Hausherrn: den Berliner Hotelbesitzer Louis Adlon. 13 Tage lang verfolgt seine Frau Hedda seine Spur quer durch Brandenburg. Barfuß, ohne Essen, ohne Bleibe. Eine Frau, die das Hotel Adlon in den Goldenen Zwanzigern zu dem machte, wofür es noch heute steht: Einem Treffpunkt für die Reichen und Schönen, für Politiker und Diplomaten, Künstler und Industrielle. Louis Adlon war ihre große Liebe, sie seine zweite Frau - für Louis' Familie blieb Hedda lange das 'Miststück', das sich in die Familie eingeschlichen hatte. Gemeinschaftlich führten sie das Hotel, bis der Zweite Weltkrieg den glanzvollen Zeiten ein Ende setzte. Das einzige Ziel: das Adlon auch durch diese schwierige Zeit zu bringen, immer im Zwiespalt zwischen Kollaboration und Widerstand. Sie hielten den Hotelbetrieb so lange wie möglich aufrecht - doch am Ende steht Hedda vor den Trümmern ihrer Existenz ...
Felix Adlon beschreibt das bewegte Leben seiner Stief-Urgroßmutter: die Geschichte einer selbstbewussten, eigenständigen und weltgewandten Frau - und die Geschichte einer großen Liebe in den Wirren der Zeit.
Felix Adlon, geboren 1967 in München, ist der Ururenkel von Lorenz Adlon, der vor mehr als hundert Jahren in Berlin das berühmte Hotel Adlon gründete. Er wuchs in Bayern auf, studierte in den USA und wurde wie sein Vater Percy Filmregisseur. 2010 drehten sie zusammen das Kinodrama »Mahler auf der Couch«. Heute ist Felix Adlon mit Nina Adlon, Opernsängerin und Gesangspädagogin, verheiratet, hat sechs Kinder und lebt in Wien.
1
Neu Fahrland, 25. April 1945
»Seit Tagen bewegst du dich nur noch von einem Fenster zum nächsten«, stellte Louis fest, als er sich im Wintergarten seinen Lieblings-Art-déco-Stuhl zurechtrückte, um dort – wie gewohnt – in der Nähe seiner Frau den Morgenkaffee zu trinken. Er hob die Tasse. »Riecht fast wie echter Kaffee.«
»Was hast du gesagt, Liebster?«, fragte Hedda, ohne auch nur einen kurzen Moment ihren Blick vom Garten abzuwenden.
»Der Kaffee. Köstlich …«
»Fräulein Herrmanns hat gestern frische Löwenzahnwurzeln im Garten ausgestochen und geröstet. Wir hatten noch eine Handvoll echter Bohnen, die hat sie untergemischt.«
Louis nahm einen weiteren Schluck im Stehen. »Schmeckt man.«
Hedda bewegte sich zur anderen Seite des Wintergartens und seufzte: »Ich habe ein schreckliches Bauchgefühl, Louis.«
Louis trat hinter Hedda und umarmte sie zärtlich: »Auf dein Bauchgefühl ist für gewöhnlich Verlass.«
Tatsächlich hatte sie Louis junior, dem Bruder meiner Oma, der für uns immer Onkel Louis gewesen war, später mehrfach geschildert, wie sie an diesem Morgen des 25. April 1945 eine düstere Vorahnung gequält hatte, weshalb sie den ganzen Morgen abwechselnd aus den Fenstern des Wintergartens geschaut hatte – bis zum hinter dem Garten liegenden Lehnitzsee – oder zum gegenüberliegenden Fenster gelaufen war, von dem aus sie über die breite Vorfahrt in Richtung Straße spähen konnte – bis zur heutigen Bundesstraße 2, die bereits damals Potsdam mit dem Berliner Westen verband. Sie hatte die nervöse Anspannung eines Opferlamms gespürt, das auf die Ankunft seines Schlachters wartete. Und dass der nicht mehr allzu weit entfernt sein konnte, verrieten an diesem Morgen die immer lauter werdenden Artilleriefeuer.
Während Louis sich gesetzt hatte und gedankenversunken einen Würfel Zucker in seinen Kaffee rührte, suchten Heddas Augen immer wieder den Garten, den angrenzenden See oder den Himmel über Potsdam nach Auffälligkeiten ab. Aber dieser Morgen lag so harmlos, ja so friedlich vor ihr, als wäre er das Versprechen für einen besonders schönen Frühlingstag.
In den alten, den unbeschwerten Zeiten hätte Hedda dieses vorfreudige Kribbeln gespürt und Louis überredet, alles liegen zu lassen und die Pferde für einen Ausritt durch die Brandenburger Wälder zu satteln. Sie liebte es, wenn nach den ersten warmen Frühlingstagen die Natur allmählich wieder zu neuem Leben erwachte, es überall summte und brummte und bunte Blumen ihre Köpfe aus der Erde streckten. Aber an diesem Aprilmorgen muss ihr dieses freudige Aufblühen beinahe unverschämt vorgekommen sein. Die geliebten Pferde waren längst von der SS beschlagnahmt worden. Und nur ein paar Kilometer entfernt starben Menschen in den letzten unsinnigen Kämpfen des Zweiten Weltkriegs. Viele Menschen fragten sich in diesen Stunden: Wie kann Natur so schön sein, wenn so viel Schlimmes passiert – und noch viel Schrecklicheres bevorsteht?
Hedda, die es von Kindesbeinen an gewohnt war, die Dinge in die Hand zu nehmen, anstatt sie auf sich zukommen zu lassen, hielt das angespannte Verharren, zu dem sie verdammt war, kaum aus. Obwohl – in Anbetracht der unmittelbaren Feindesnähe – die allgemeine Empfehlung lautete, man solle sich möglichst im Keller verstecken, weigerte sie sich, dort passiv auf das Eintreffen der Russen zu warten. Stattdessen pirschte sie durch die Wohnräume ihrer prächtigen Villa und versuchte, zumindest ein wenig Kontrolle über diese Situation zu behalten, indem sie möglichst viel von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Einmal öffnete sie sogar die Terrassentür, um nach draußen zu treten, weil sie das Gefühl hatte, drinnen zu ersticken. Wahrscheinlich hoffte sie auch, im Freien ein bisschen besser hören und einschätzen zu können, wie nah die Gefechtslinie mittlerweile war.
Später erinnerte sie sich daran, wie unbeschwert die Vögel zwischen den Schüssen und Einschlägen gezwitschert, wie gut sich der kühle Wind und die Sonne auf ihrer Haut angefühlt hatten, die an diesem Morgen schon erstaunlich viel Kraft besaß. Einen wahnwitzigen Moment lang hatte Hedda sogar überlegt, hinunter an den See zu laufen, der gerade glitzerte, als würde er Silber-Konfetti versprühen. Sie wusste, dass Spaziergänge ihrer Seele guttaten. Außerdem hätte sie gerne noch einmal nach ihrem Versteck am Seeufer geschaut, wo sie ein paar besonders geliebte Schmuckstücke sowie einige Flaschen Wein und Zigarren als Währung für die kommenden Notzeiten deponiert hatte.
Doch sie entschied – auch wegen Louis –, lieber in der Nähe des Hauses und bei ihrem Mann zu bleiben. Spätestens in ein paar Tagen würden sie sicher wieder runter ans Ufer gehen können. Zu ihrer Lieblingsbank mit Blick über den See, wo sie gemeinsam mit Louis schon so oft bis in die Nacht gesessen und das ein oder andere Gläschen Rotwein getrunken hatte. Hedda sehnte sich nach den guten, unbekümmerten Zeiten, die sie an diesem Ort erlebt hatte. Ich hatte mir später, als ich selber auf dieser Terrasse stand, ausgemalt, wie Hedda als junge Frau mit ihren beiden älteren Schwestern Barfuß-Wettrennen über die Wiese hinunter zum See gemacht hatte. Es heißt, die drei Töchter des erfolgreichen Spirituosenhändlers Joseph Seithen hätten es geliebt, sich am Ufer zusammen in das Holzboot zu quetschen, das eigentlich der Mutter, einer passionierten Anglerin, gehörte, und stundenlang über Gott und die Welt zu quatschen. Manchmal sogar bei Regen und donnerndem Gewitter. Dann waren die Schwestern in die viel zu große und plumpe Ölkleidung der Fischer geschlüpft und hatten gekichert, wenn ihre besorgte Mutter sie ins Haus rief. An warmen Sommerabenden waren sie oft baden gegangen und hatten sich gegenseitig so gruselige Geschichten von Wassermonstern und riesigen Raubfischen erzählt, bis sie es nicht mehr aushielten und kreischend aus dem Wasser hüpften. Neu Fahrland, dieses Idyll vor den Toren Potsdams, war immer Heddas Wohlfühlort gewesen. Und trotzdem lag seit dem Umbau in den Zwanzigerjahren eine finstere Vorahnung auf diesem Haus. Hedda schrieb in ihrem Buch Hotel Adlon:
Aus Wiesen wurde ein Park, ein Bootshaus kam dazu mit einem großen Anlegesteg, und eine Motoryacht und diverse Boote aller Gattungen schwammen nun auf dem See. Kurz, wir schufen einen repräsentativen, hochmodernen und sehr komfortablen Landsitz aus diesem einen Haus in Neufahrland. Aber in der Nacht, bevor die Spitzhacke ihr Werk in dem alten Hause beginnen sollte, konnte ich nicht einschlafen. Ich hatte Herzklopfen und litt, wie nie in meinem Leben, unter fürchterlichen Angstvorstellungen. Ich hatte das Gefühl, als riefe ich ein Unglück auf uns beide herab. Ich kämpfte mit mir und war drauf und dran, zu Louis Adlon zu gehen, ihn zu wecken und ihn zu bitten, alles rückgängig zu machen. Aber das brachte ich dann doch nicht übers Herz, denn er hatte sich in seinen Plan geradezu verliebt. Wir fuhren am Morgen hinaus. Ich wandte mich ab, als das erste Geräusch vom Einschlagen einer Mauer aus dem Hause drang. Tagelang ließen mich die Vorstellungen nicht los, dass ich etwas unternommen und zugelassen hatte, was uns beide Unglück bringen könnte. Doch mit Louis Adlon vermochte ich nicht darüber zu reden. Was hätte ich ihm sagen sollen? Ich konnte doch nicht gestehen, dass alles nur eine Ahnung war, eine subjektive Empfindung. Objektive Gründe waren nicht vorzubringen. Also ließ ich es sein … Und somit wurde Neufahrland zu unser beider Schicksal.
Ich bekomme beim Lesen dieser Stelle jedes Mal Gänsehaut. Vor allem, wenn ich mir vorstelle, dass an diesem 25. April 1945 die Zeit gekommen war, in der sich Heddas dunkle Vorahnung erfüllte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte sie sich nichts mehr gewünscht, als irgendwo anders zu sein. Möglichst weit weg. Im Ausland. Oder zumindest im Westen oder Süden des Landes – wohin sich ihre beiden Schwestern Franziska und Agnes längst abgesetzt hatten. Vergeblich hatten sie versucht, Louis und Hedda zum Mitkommen zu überreden. Neu Fahrland muss sich in diesen letzten Kriegstagen für Hedda wie eine Falle angefühlt haben.
»Wir hätten in die Schweiz fahren sollen«, sagte sie und sah zum ersten Mal, seitdem Louis im Wintergarten Platz genommen hatte, ihren Mann besorgt an. »So eine Schnapsidee, Potsdam für sicher zu halten. Eine militärische Garnisonstadt! Überall Soldaten! Was haben wir uns bloß dabei gedacht?«
Louis betrachtete seine Frau wie immer liebevoll. »Ach, Lotusblüte, mein Sonnenschein! Es wird schon nicht so schlimm werden! Was wollen die mit uns? Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Wir führen nur ein Hotel«, versuchte er, sie zu beruhigen, und streckte ihr seine Hand entgegen, um sie zum Reinkommen zu bewegen.
»Du wirst dich noch erkälten!«, sagte er. Womit er eigentlich meinte: »In der Nähe wird scharf geschossen. Wenn du dich schon nicht in den Keller setzen willst, so bleibe wenigstens im Haus.« Doch Hedda drehte ihm wortlos den Rücken zu und starrte wieder in Richtung See. Durch die Tränen in ihren Augen verschwamm der Himmel. Sie konnte sich nicht gegen diese Gedanken wehren, die seit ihrem Erwachen wieder und wieder in ihren Kopf hämmerten und ihr jedes Mal den Atem raubten: Obwohl es ein Bilderbuch-Frühlingstag war – wolkenlos, hell und strahlend – wusste sie, dass sie sich nicht darauf verlassen konnte, dass dieser Tag freundlich blieb. Spätestens seit Kriegsbeginn wusste jeder, dass der Tod oft ohne Vorankündigung kam. Dafür umso brutaler. Auch an freundlichen und zum Leben einladenden...
Erscheint lt. Verlag | 23.10.2024 |
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Zusatzinfo | mit Bildteil |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 1920er-Jahre • 2024 • Berlin • Biografie • Biographien • eBooks • Familiendynastie • Familiengeschichte • Frauenschicksal • Glamour • Große Liebe • Hotel • Hotel Adlon • Liebe • Luxushotel • Neuerscheinung • New York • Starke Frau • Unter den Linden • Unternehmerfamilie • Unternehmerin |
ISBN-10 | 3-641-32040-2 / 3641320402 |
ISBN-13 | 978-3-641-32040-9 / 9783641320409 |
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