Verschiebung im Gestein (eBook)

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2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Atlantis Literatur (Verlag)
978-3-7152-7543-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verschiebung im Gestein -  Mariann Bühler
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Lange hat draußen das Schild »Bis auf Weiteres geschlossen« gehangen, bis Elisabeth die Ent­scheidung trifft, die Bäckerei weiterzuführen. Sie allein. Jeden Morgen feuert sie an, rührt den Teig, schiebt die Brote in den Ofen - und überrascht das ganze Dorf und sich selbst dazu. In derselben Gegend Alois' Hof. Ein Hof, seit Generationen in Familienbesitz, Alois wurde nicht gefragt, ob er ihn übernehmen wollte. Er lebt mit dem Hund, überhört die Erwartung, eine Familie zu gründen - aber etwas schnürt sich zu. Vielleicht hat das mit Camenzind zu tun. Unterdessen kehrt eine junge Frau ins Dorf zurück; die drei Stufen zur Bäckerei laufen sich wie von selbst. Bei den Großeltern holt sie den Schlüssel zum Sommer­haus, es soll verkauft werden. Sie sieht alles wieder, den Bergkamm, das Tal, den Balkon mit der Zugbrücke. Bald, so scheint es ihr, beginnt das Haus mit ihr zu sprechen.Der Roman verfolgt drei Figuren, die nichts voneinander wissen und doch verbunden sind - durch die Gegend, das Dorf und die drängende Frage, wie es eigentlich weitergehen soll. Hart­näckig haben sich in ihnen weitläufige Spuren von Vergangenem festgesetzt, aber dann gerät doch etwas in Bewegung. In ihrem sprachlich dichten Debüt beobachtet Mariann Bühler, wie Veränderung sich ihren Weg sucht und Ver­schiebungen passieren, die so nie vorgesehen waren, die zuweilen sogar Berge versetzen.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. Verschiebung im Gestein ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Mariann Bühler, geboren 1982 in der Nähe von Luzern, hat in Basel und Berlin Englische Literatur­ und Sprachwissenschaft, Islamwissenschaft und Gender Studies studiert. Sie lebt als Autorin, Literaturvermittlerin und Veranstalterin in Basel. Verschiebung im Gestein ist ihr Romandebüt; für einen Auszug aus dem Manuskript wurde sie mit dem Zentralschweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Alois spürt den Schuss noch in der Schulter.

Vor ein paar Monaten hat er einen Fuchs zur Sammelstelle gebracht, der unter ein Auto gekommen war. Im Vorjahr ein Kalb, das die Geburt nicht überlebt hat. Natürlich hat ihn das Kalb gereut. Aber das kommt vor, dass eine Geburt nicht gut ausgeht, gerade bei einem Rind.

Mit dem Hund ist es anders.

Alois steht am Straßenrand, schaut hinunter auf das Dorf. Der bewaldete Hügel auf der anderen Talseite ist dunkel gefleckt. Dahinter ragt der erste Berg auf. Eine Felswand leuchtet im letzten Licht.

Alois schließt die Hand zur Faust und öffnet sie wieder. Mit dem Daumen fährt er über die Narbe am Zeigefinger.

 

Das müsse gefeiert werden, fand seine Mutter damals.

Alois war anderer Meinung. Außer seinem Namen auf einem Papier – noch dazu der gleiche wie der des Vaters – würde sich nichts ändern. Er würde am nächsten Tag genau gleich im Stall stehen, wie er jeden Tag im Stall stand.

Er wollte der Mutter widersprechen, doch der Vater warf ihm über den Tisch einen Blick zu. Alois schnitt eine Grimasse und biss in sein Brot.

Am Sonntagmittag fuhr die Schwester auf den Hof. Aus einer Harasse im Kofferraum hob sie einen jungen Hund und drückte ihn Alois in die Arme.

Einen Bauernhof führe man nicht allein, sagte sie, und bis die rechte Frau komme, helfe der Vierbeiner aus.

Sie seien dann also auch noch da, begehrte die Mutter auf, und der Vater brummte Alois zu, dass er sich auf eine fleischlastige Kost einstellen müsse.

Der Hund leckte Alois’ Gesicht ab und zappelte mit Pfoten, in die er erst noch hineinwachsen musste. Alois strich über das feine Fell und brachte das Tier in den Stall. Ein Kälberstall war frei, er streute ein und fand einen Napf, den er mit Wasser füllte. Der Hund schnüffelte abwechselnd in den Ecken seines neuen Quartiers und an Alois’ Stiefeln.

Als Alois in die Küche kam, hatten sie die Suppe und den Salat schon gegessen.

 

Das Licht auf der Felswand ist verschwunden. Alois dreht seine Runde durch den Stall. Die schwarz-weiße Katze schleicht um seine Beine, springt erwartungsvoll auf die Stallbank.

 

Der Hund hatte abgegeben, war träge geworden. Sein Fell war matt, nur oben am Kopf war es fein und glänzend geblieben. Dass er nicht mehr jeden anbellte, störte Alois nicht, im Gegenteil.

Als die Anfälle kamen, ahnte er, dass es nicht mehr lange dauern würde. Er legte den Hund ins Stroh, damit er sich nicht wehtat.

Als der Tierarzt wegen einer Kuh da war, schilderte Alois die Anfälle und hoffte, dass ihm das nicht berechnet würde.

Der Tierarzt zuckte mit den Schultern. Er könne das schon abklären, aber fünfzehn Jahre, das sei ein stolzes Alter für so einen Hund. Der Tierarzt fragte, ob er jetzt gleich, und Alois schüttelte erst den Kopf und dann die Hand des Tierarztes.

Ein paar Wochen schien es, als ginge es dem Hund besser, dann wollte er nicht mehr fressen. Er lag im Stroh, schaute zu Alois hoch, ohne den Kopf zu heben. Das Stück Wurst, das Alois ihm brachte, beschnupperte der Hund lange und fraß es vorsichtig, als wollte er Alois damit einen Gefallen tun.

Alois strich ihm über das feine Fell am Kopf, über das raue am Rücken. Der Hund zitterte ein wenig unter seiner Hand, schloss die Augen halb. Alois holte die Bürste aus einer Nische in der Wand, bürstete dem Hund Rücken und Bauch, zupfte Strohhalme aus dem Fell.

Der nächste Anfall wollte gar nicht mehr aufhören. Alois konnte nicht länger zusehen.

 

Nach dem Melken legte er einen Futtersack in den Kofferraum und den toten Hund darauf. Er zupfte noch einmal Strohhalme aus dem Fell, strich ihm noch einmal über die Stirn. Bei der Sammelstelle ließ er das tote Tier vom Futtersack in die Klappe gleiten.

 

Alois dreht den Futternapf unschlüssig zwischen den Händen und stellt ihn dann auf den Sims vor dem Küchenfenster. Er streift die Stiefel von den Füßen und stellt sie neben die Tür. In der Küche trinkt er ein Glas Wasser. Aus einem Stapel auf der Bank zieht er ein Blatt Papier, das für Futtermittel zum Aktionspreis wirbt. Aus der Schublade holt er einen Stift und beginnt auf der Rückseite zu schreiben. Er streicht die ersten Zeilen durch, fängt noch einmal an, gesucht, ab sofort oder nach Vereinbarung. Er hält inne, schaut der schwarz-weißen Katze zu, wie sie vor dem Küchenfenster am Futternapf schnuppert und dann daneben Platz nimmt. Alois schreibt weiter.

Wochen später klingelt das Telefon.

Ob das Inserat noch aktuell sei, fragt eine Frauenstimme, und Alois stutzt.

Wegen dem Hof, fragt die Frauenstimme nach, die Stellvertretung?

Jetzt erst kommt es ihm wieder in den Sinn, ja, das Inserat sei durchaus noch aktuell, sagt er.

Sie seien auf der Suche, sagt die Frauenstimme, ob es auch paarweise, und Alois sagt, selbstverständlich.

Ob der Sonntag in vierzehn Tagen passe, dann will sie, Verena, mit ihrem Mann vorbeikommen, sich das anschauen.

Alois’ Herz schlägt schneller. Hunger hat er keinen mehr. Er wickelt den Käse wieder ein, legt ihn zurück in den Kühlschrank. An der Tür hängt das Inserat.

Er hat es auf der zweitletzten Seite gefunden, neben verkürzten Zeilen für Mähdrescher und Stroh und gegen die Einsamkeit. Er las das Inserat, einmal vorwärts, einmal rückwärts, Wort für Wort. So, hatte seine Schwester gesagt, finde man Fehler am besten. Er fand keinen Fehler.

Dann passierte nichts. Niemand rief an. Nach ein paar Tagen tippte Alois seine eigene Nummer ins Haustelefon. Sein Telefon vibrierte und klingelte in der Tasche. Er legte wieder auf.

Ein Anruf in Abwesenheit, sagte das Display, als er das Telefon das nächste Mal aus der Tasche zog und feststellte, dass es seine eigene Nummer war, die ihn nicht erreicht hatte.

 

Alois schaut auf die Uhr, gibt sich einen Ruck. Er zieht sich um, nimmt den Schlüssel vom Haken und steigt ins Auto.

Warum er läute, er komme doch sonst einfach rein, fragt die Schwester erstaunt, als sie die Tür öffnet, unter dem Arm einen Wäschekorb. Das Kind versteckt sich hinter ihrem Bein und wagt sich hervor, als es Alois erkennt.

Er müsse etwas besprechen mit ihr, sagt er, es sei wichtig.

Der Schwager sei in der Musikprobe.

Alois schaut sie einen Moment verwundert an und sagt dann, dass er ihn nicht brauche, nur sie.

Gut, sie müsse noch einmal in die Waschküche, ob er den kleinen Stümper schon mal ins Bett bringen könne.

Bin kein Stümper, sagt das Kind, aber es ist begeistert. Es nimmt Alois’ Hand und zieht ihn in sein Kinderzimmer. Dort zeigt es den Stall, den Alois ihm einmal zu Weihnachten gebaut hat. Die Kühe heißen gleich wie die von Alois. Auch der Hund heißt gleich.

Ist er wirklich tot?

Alois nickt.

Warum?

Alois zuckt mit den Schultern. Weil er alt war.

Hast du ihn beerdigt?

Alois wiegt den Kopf.

Auf eine Art habe er ihn schon beerdigt.

In einem Grab, wie Großvater und Großmutter?

Nicht ganz. Halt so, wie man das bei den Hunden macht. Das ist anders als bei den Menschen.

Das Kind nickt, dreht den Holzhund in den Händen hin und her.

Denkst du an den Hund manchmal?

Alois nickt, nimmt eine Holzkuh in die Hand.

Mama denkt manchmal an die Großmutter und den Großvater, weil die waren ihre Mama und ihr Papa. Dann gehen wir zum Grab, und dann ist sie traurig, aber nicht sehr lange. Sie sagt, es ist wichtig, dass man an die denkt, die nicht mehr da sind. Auch wenn es einen traurig macht.

Das Kind legt den Hund in die Hundehütte, die Alois an den Holzstall gebaut hat.

Mein Hund kann hier schlafen, sagt es und steht mit einem Seufzer auf. Morgen ist auch noch ein Tag, und Alois hört seinen Schwager aus der Kinderstimme.

Die Schwester steckt den Kopf ins Zimmer, jetzt ist aber allerhöchste Eisenbahn, sonst gibt es keine Geschichte.

Das macht heute der Alois, der kann auch Geschichten erzählen.

Na dann, sagt die Schwester, dann macht das der Alois. Jetzt aber ab ins Bett.

Und zu Alois, ob er etwas trinke, für Kaffee sei es ihr zu spät, aber sie mache ihm gern einen, oder vielleicht einen Tee, Bier sei keines im Haus.

Sie müsse nicht, kein Aufhebens, sagt Alois. Gern einen Tee, sagt er, als sie streng schaut.

Das Kind schlüpft unter die Decke, und Alois setzt sich auf die Bettkante, greift nach ein paar Bilderbüchern, die auf dem Boden liegen.

Was er vorlesen solle, fragt er.

Nicht vorlesen, erzählen, vom Hund.

Na gut, sagt Alois und beginnt zu erzählen, wie klein der Hund war, als er ihn zum ersten Mal aus der Harasse gehoben hat, wie groß seine Pfoten. Wie schnell er gewachsen ist, wie ungeschickt er am Anfang war, wie ihm eine Kuh auf die Pfote trat, wie er erst lernen musste, bis er ihn schicken konnte, um die Kühe von der Weide zu holen. Wie der Hund ihn überallhin begleitet hat – aber nur zu Fuß, im Auto wurde ihm schlecht. Wie er nach der Musikprobe auf der Fußmatte auf ihn gewartet hat, wie er sich erst ins Stroh verzog, wenn er wusste, dass Alois zu Hause war.

Die Atemzüge des Kindes werden tiefer.

 

Alois’ Eltern starben kurz nacheinander, ein paar Jahre bevor das Kind zur Welt kam. Die Mutter wurde krank und nicht wieder gesund. Die Schwester kam nach der Arbeit vorbei, pflegte die Mutter, kochte und nahm eine Portion nach Hause für ihren Mann.

Es war, als würde die Mutter in sich versickern. Als sie nach ein paar Monaten starb, überraschte das niemanden. Sie hatte die Tür leise hinter sich zugezogen.

Der Vater war zwar gesund, aber ihm...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2024
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufbruch • Ausbruch • Bauernhof • Debut • Debütroman • Homosexualität • Periadriatische Linie • Periadriatische Naht • Queer • Sommerhaus • Störungslinie • Tektonik • Tessin • Tradition • Zentralschweiz
ISBN-10 3-7152-7543-X / 371527543X
ISBN-13 978-3-7152-7543-7 / 9783715275437
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