Die Sache mit Rachel (eBook)
400 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31081-8 (ISBN)
Caroline O'Donoghue ist Journalistin und Autorin. Sie hat mehrere Romane veröffentlicht, schreibt u.a. für den Irish Independent, Glamour und Buzzfeed und hat eine feste Kolumne im Irish Examiner. Als Gastgeberin des Podcasts »Sentimental Garbage« spricht sie mit anderen Autor*innen über Unterhaltungsliteratur.
Caroline O'Donoghue ist Journalistin und Autorin. Sie hat mehrere Romane veröffentlicht, schreibt u.a. für den Irish Independent, Glamour und Buzzfeed und hat eine feste Kolumne im Irish Examiner. Als Gastgeberin des Podcasts »Sentimental Garbage« spricht sie mit anderen Autor*innen über Unterhaltungsliteratur. Christian Lux studierte Buchwissenschaft und Literatur in Mainz. Danach Herausgeber des Insel Almanachs, Verleger des Luxbooks Verlags und freier Übersetzer. Seit Jahren betätigt er sich als Vermittler anglo-amerikanischer Literatur. Zuletzt Bände von Amy Hempel, Stevie Smith, Leonhard Cohen.
2
Im Nachhinein ist es fast komisch, dass James und ich so gute Freunde geworden sind, wenn man bedenkt, dass er mich in den ersten zwei Wochen für jemand ganz anderen hielt.
In meiner Erinnerung verlief unsere erste Begegnung wie eine Szene aus einem Film über einen Fremden. Es war ein Donnerstag im November, und ich stand hinter dem Tresen von O’Connor Books. Das war 2009. Mein letztes Semester an der Uni und noch 29 Tage bis Weihnachten. Unser Manager Ben war bereits in Sorge, dass es eine enttäuschende Saison werden würde, er lief ständig aufgeregt herum und erzählte Dinge über »die Branche«. Er sprach von der Buchbranche, als wäre sie ein Drache, der in einem Verlies angebunden lauerte und uns jederzeit zerfleischen könnte. Er redete über die diesjährige Flut von Geschenkbüchern – ich glaube, Dawn French und Julie Walters hatten miteinander rivalisierende Memoiren veröffentlicht –, als wären es verkohlte Leichen, die wir dem Drachen in den Rachen werfen, um ihn irgendwie bei Laune zu halten.
»Das hält die Branche am Laufen«, sagte Ben mit nahezu rührendem Ernst. Ich trug einen weiteren Stapel aus dem Lager. Der Bücherturm reichte von meiner Hüfte bis unter mein Kinn.
James Devlin hatte den Donnerstag zuvor als Weihnachtsaushilfe angefangen, und ich hatte mir freigenommen, damit ich meine Abschlussarbeit fürs College fertigstellen konnte. James hatte somit seine erste Schicht mit Sabrina verbracht. Später sagte er immer, dass er so von all den neuen Gesichtern und Namen überwältigt gewesen sei, dass sie halt ineinander verschwommen waren, und wenn ich daraufhin sagte, dass das Bullshit sei, warf er seine Arme in die Luft und meinte, dass Heterofrauen für ihn alle gleich aussähen.
Die erste Schicht mit Sabrina musste Spaß gemacht haben, denn als James den Holzriegel zum Kassenbereich hochschob, schlug er einen verschwörerischen Ton an.
»Jemand hat die Krätze«, sagte er, »und hat die Salbe aufm Klo liegen lassen.«
Es fühlt sich jetzt seltsam an, dieses erste Gespräch so festzuhalten, weil es nichts von dem verrät, wie James eigentlich war. Wie unglaublich charmant mir seine Eröffnung vorkam. »Jemand hier hat die Krätze.« Er sagte es, als wäre er Poirot, der in einem Landhaus in einem Mordfall ermittelte. Wie jemand, der die inhärenten Vorurteile unserer höflichen Gesellschaft erkannte und bereit war, sie zu enthüllen. Der zweite Teil des Satzes war noch eine ganz andere Nummer, »und hat die Salbe aufm Klo rumliegen lassen«. Das war typisch Cork County, Fermoy, um genau zu sein, was für mich letztlich nichts anderes als auf dem Land war. James war in England aufgewachsen – und zwar im ganzen Land, wie ich später herausfinden sollte – und so war seine Art zu sprechen eigenartig und schwer zu verorten. Ich wurde in Douglas geboren, in einer kleinen Vorortsiedlung, zwei Meilen südlich der Stadtmitte. Dort lebte ich damals immer noch.
»Wie bitte?«, fragte ich, und die Schockwellen des Satzes schlugen gegen meine gläserne Zurückhaltung, die ich als Teil meiner öffentlichen Persona kultiviert hatte. Die Persona, die man gemeinhin Junge Frau, die in einem Buchladen arbeitet, also Bookshop Girl nennt. »Was genau ist eigentlich Krätze?«
»Eine Art Parasit.«
»So was wie Würmer?«
»Würmer befallen den Körper im Inneren. Krätze ist etwas Äußerliches. Hattest du schon mal Wurmbefall?«
»Nein.«
»Nicht mal als Kind?«
Ich dachte nach. »Ringelflechte? So etwas?«
»Wie hast du das denn bekommen?«
Er war aufrichtig interessiert. Ich grub in meinem Gedächtnis nach Erinnerungen, an die ich mich nie zuvor erinnert habe, und hatte das Gefühl, einen neuen Bereich der Tiefsee entdeckt zu haben. »Wir hatten eine Katze, einen Streuner. Vermutlich hab ich’s von ihm bekommen?«
»Lustig, dass alle Katzen in den 90er-Jahren Streuner waren«, sagte er. Er meldete sich bei der Kasse an und tippte eine sechsstellige Nummer ein. »Man hat sich seinen Hund einfach am Straßenrand geangelt.«
Ich hatte gewisse Erwartungen, als ich bei O’Connors anfing, wie Gespräche in einem Buchladen verlaufen würden. In dieser Vorstellung drehten sich die Gespräche um Bücher. Aber wir sprachen nur selten über das, was wir lasen. Der Geschmack unter den Angestellten war extrem unterschiedlich, doch statt dass das nun zu anregenden, lebhaften Diskussionen über Literatur führte, bedeutete es lediglich, dass wir einfach stumm mit unseren Büchern im Mitarbeiterbereich hockten. Ben liebte seinen Joyce. Sabrina mochte Terry Pratchett und Douglas Adams und all diese Autoren, bei denen man sich nie sicher sein konnte, ob sie scherzten oder nicht. Es gab auch Kollegen, die eine Leidenschaft hatten für Pop-Psychologie, Freakonomics, Lokalgeschichte und die Buchreihe Simon’s Cat, doch auch mit denen konnte ich nie einen gemeinsamen Nenner finden.
Normalerweise las ich, nun ja, Romane. Überwiegend ältere. Bücher, die zur Mitte des 20. Jahrhunderts immens beliebt waren und somit vom kulturellen Establishment akzeptiert, die aber bei meinen Zeitgenossen ausreichend in Vergessenheit geraten waren, sodass ich mich bei der Lektüre besonders fühlen konnte. Ich mochte es, wenn tote Frauen wortgewandt ihre Gesellschaft kommentierten. Ich mochte lange Absätze über Rationierungen und sexuelles Erwachen in Frankreich. Bis ich in dem Buchladen anfing, hatte ich mich für relativ belesen gehalten.
Ich wollte wirklich vermeiden, James über seine Lesegewohnheiten zu befragen, da mich diese Art Befragung schon zu viele Freundschaften gekostet hatte. Ich wollte ihn etwas wirklich Authentisches fragen, oder zumindest etwas, das mein 20-jähriges Gehirn für authentisch hielt. Ich wollte etwas, das so gut war wie die Sache mit der Krätze.
Dafür blieb jedoch keine Zeit, denn in dem Moment war ein Dutzend Kunden zur Kasse gekommen, und wir gaben ihre Einkäufe Seite an Seite ein. Ich hatte das inzwischen Hunderte Male gemacht: stundenlang neben einem Kollegen stehen, die Kasse bedienen, gelegentlich etwas Small Talk mit den Kunden. Ich habe mich dabei immer wie auf meinem eigenen Planeten gefühlt. Es klingt albern, das zu sagen, oder als würde ich dieser einen Spätschicht im Nachhinein lauter emotionalen Ballast andichten, aber es fühlte sich anders an. Als wären wir zwei Ruderer auf einem uralten Schiff, die synchron Dinge einscannen und dem Horizont entgegensegeln.
Als unsere Schicht vorbei war, fragte er mich, was ich als Nächstes vorhatte.
»Ich treffe mich mit meinem Freund«, antwortete ich und war sofort in Sorge, dass ich durch meine Verabredung mit Jonathan die eine gute Gelegenheit verpasste, James’ beste Freundin zu werden.
James zündete sich eine Zigarette an. »In welche Richtung bist du unterwegs?«
»Sober Lane.«
»Ah!«, sagte er, und ich war mir nicht sicher, ob er sich verbrannt hatte oder zu einer Art Erleuchtung gekommen war. »Ich muss zur Travers Street. Ich begleite dich.«
Wir gingen den Weg also gemeinsam, und obwohl ich es kaum abwarten konnte, James zu knacken und in seiner Welt zu leben, kam es mir vor, als bliebe keine Zeit mehr, um Fragen zu stellen. James wollte ebenfalls keine Fragen stellen. Er wollte mutmaßen.
»Okay, also schauen wir mal. Dein Vater arbeitet bei der Bank.«
Ich lächelte. »Daneben.«
»Dann eben dein Großvater. Irgendwas Banken-Verwandtes muss da sein.«
»Mein Großvater war Bänker, ja. Aber mein Vater ist Zahnarzt.«
»Siehst du! Hab ich’s doch gewusst.«
»Gar nichts hast du gewusst.«
Er fuchtelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum, als würde er mich verzaubern. »Tadaa! Ich habe diese Art vornehme Mittelschicht vollkommen durchschaut. Altes Geld, altes Cork. Bei deiner Mutter bin ich mir noch nicht ganz sicher: Entweder ist sie eine fabelhafte, schlanke Säuferin oder ein richtiges Miststück. Ein enger, kleiner Mund, wie das Fötzchen eines Kanarienvogels. Bin ich nah dran?«
Ich lachte und fragte mich, woher er das bloß wissen konnte.
»Nicht völlig daneben. Zweiteres«, sagte ich und hatte sofort das Gefühl, gemein zu sein. Meine Mutter arbeitete ebenfalls in der Zahnarztpraxis, und da die Behandlungen meines Vaters im Wesentlichen kosmetischer Natur waren, hatten beide an den sich geänderten Prioritäten eines Landes zu leiden, das immer weniger Grund zu lächeln hatte.
»Kommen wir also zum Freund … der Freund … der Freund … der Freund. Ich schwanke wieder zwischen zwei Möglichkeiten.«
Während er sprach, hatte er so wild gestikuliert, dass die Glut von seiner Zigarette abgefallen war, und nun hielt er inne, um sie wieder anzuzünden.
»Ihr seid seit der weiterführenden Schule zusammen, die Highschool-Sweethearts eures Jahrgangs, alle denken, dass ihr heiraten werdet, du bist dir allerdings nicht ganz sicher. Ihr plant, gemeinsam nach Thailand zu reisen.« Er atmete aus. »Oder ein älterer Mann, der an seiner Doktorarbeit schreibt oder so was in der Art, ein leicht unangemessener Altersabstand, bisschen trockene Hoden, deine Freunde hassen ihn, aber sie haben es dir nie gesagt.«
Ich hatte keine Ahnung, weshalb er dachte, dass es in Ordnung sei, dass er alle Menschen, die ich kannte, beleidigte, reale wie ausgedachte. Aber er war sich so sicher, dass er damit durchkommen würde, dass ich es ihm durchgehen ließ.
»Nichts davon«, sagte ich und nahm Jonathan in Schutz. »Er gehört da nirgendwo rein. Er ist nicht einzuordnen.«
»Aber was von beiden trifft es...
Erscheint lt. Verlag | 4.7.2024 |
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Übersetzer | Christian Lux |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Affäre • bookclub • Booktok • Buchhandlung • dolly alderton • Dreiecksbeziehung • Elizabeth Strout • Geheimnis • intensive Liebe • Intimität • Irische Literatur • junge Autorin • Literatur • Millennials • Mona Lang • sally rooney • Sarah Moss • Selbstfindung • Studentenleben |
ISBN-10 | 3-462-31081-X / 346231081X |
ISBN-13 | 978-3-462-31081-8 / 9783462310818 |
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