Fliegender Teppich (eBook)
172 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-0919-6 (ISBN)
Jahrgang 1950. Bis 1999 als Ärztin und Diplompsychologin tätig. Studium Bildende Kunst Anfang 2000. Seither hauptberuflich freischaffende Malerin mit Atelier in Bonn und Mainz. Herausgeberin der Anthologien: Zeitwellen (2022) und Reality-Schau (2022)
Janthe Schröder
Schwanenflug
»Allmächd! A Funkloch!« Lars fuhr sich über die Haare und steckte sein Handy wieder ein. Als er die Haustür aufschloss, kam ihm ein schwerer, süßlicher Geruch entgegen. »Sabberlodd!«, rief er und hielt sich die Nase zu. Unter seinen Schuhen knirschte es wie harscher Schnee. Der helle Linoleumboden war mit toten Fliegen übersät. Er beeilte sich, in der Stube, die links vom Flur abging, die Fenster aufzureißen. Dem üblen Geruch folgend, öffnete Lars auch im Schlafzimmer die Fenster. Sein Blick blieb an einem großen Fleck im Bett hängen. Im Laken war eine Mulde eingedrückt, die die Fleckenlandschaft aus getrockneten Flüssigkeiten, die von Blassgelb über Hellbraun bis zu einem tiefen Rostrot reichten, noch unterstrich. Lars würgte und lief in die Küche, wo er eine Hintertür aufschloss, um frische Luft zu atmen.
Sonnenstrahlen fielen durch Efeuranken ins Küchenfenster und zeichneten ein unruhiges Muster auf den Boden. Lars drehte sich um und sah eine Wäscheleine, die quer durch die große Küche gezogen war. »Wer hängt denn gebrauchte Gefrierbeutel auf?« In einem Beutel, der mit der Öffnung nach oben hing, brummte eine Fliege.
Lars kramte einen Zettel aus seiner Jacke und setzte sich in den abgewetzten Sessel, der auf dem Flur neben einem kleinen Tisch stand. Mit dem Finger schnippte er zwei tote Fliegen von der Häkeldecke. »Immerhin keine Wählscheibe!« Er griff zum grünen Telefon, das auf dem Tisch stand, nahm den Hörer ab und begann zu tippen.
»Servus, Mama, ich bin’s. … Ja, ich bin jetzt im Haus. Ich habe den Schlüssel vom Nachbarn bekommen. Petersen heißt er. Er sagt, er kümmere sich um die Hühner und Enten. Es gab auch Kaninchen, aber die sind alle tot. Verdurstet. …Keine Ahnung, ich war noch nicht im Stall. Er sagt, er habe sie bereits entsorgt. Tante Gerda hatte sich mit Schlachtkaninchen die Rente aufgebessert. Wusstest du das? … Ja, wenn etwas ist, meldet er sich bei uns. Ich schau mich gleich weiter um. Wann hast du die nächste Pause? … Um vier. Ok. … Nein, Mama, du kannst nicht kommen. Du bleibst in der Reha. Ich mach das hier schon. … Nein und noch mal nein. Eine neue Hüfte ist doch kein Schnupfen. … Mama, ja, ich melde mich um vier. Servus.«
Lars folgte dem langen Flur, der am Schlafzimmer begann und am Bad vorbeiführte. Die Tür am Ende des Flurs führte zu einem weiteren Gang, der nach sich links und rechts gabelte und zwei offene Durchgänge hatte. Hier roch es nach Getreide und Stroh, nicht nach Verwesung. Etwas hatte seinen Kopf berührt. Er blickte hoch. Über ihm waren Drähte den Gang entlang gespannt, an denen zahlreiche getrocknete Maiskolben hingen. Er nahm den rechten Durchgang und kam in den Stall. Vier Schweinebuchten mit halbhohen, weiß gekalkten Mauern und Holztüren waren mit Stroh ausgestreut. In einer lag eine weiße Ente auf einem Nest und fauchte ihn an. Mit einem Mal flatterte ein Huhn an seinem Ohr vorbei und rannte gackernd durch die offene Stalltür nach draußen. Lars drehte sich um und sah an der Wand hinter sich lange Hühnerstangen übereinander und Kisten mit Nestern.
Im Hühnerhof entdeckte er einen alten Walnussbaum, der mit seiner ausladenden Krone Schatten spendete. An seinem Stamm ruhten rund ein Dutzend weiße Enten, die leise schnatterten, als Lars näher kam. Weiter hinten pickten Hühner im Gras. Langsam ging er zurück ins Haus.
Lars zog sein Handy aus der Tasche und begann, jeden Raum zu fotografieren. Dann öffnete er den Schlafzimmerschrank. Wäsche, Bettzeug, Handtücher, sauber zusammengelegt und in den Fächern gestapelt. Unter den Blusen und Röcken, die ordentlich auf der Kleiderstange hingen, fand er eine Blechkiste, auf der »Aachener Printen« eingestanzt war und blickte hinein. Oben auf sah er einen wenig abgegriffenen Reisepass. Er nahm die Kiste und verließ den Raum, in dem er es kaum wagte, tiefer zu atmen. Würgend zog er die Tür hinter sich zu.
Mit der Kiste auf dem Schoß nahm er am Telefontischchen Platz und wählte.
»Servus, Mama! … Ja, ich habe Fotos gemacht. Von drinnen. … Ja, vom Haus und dem Garten mache ich auch noch welche. … Ja, warte doch mal. … Ja, ich habe eine Kiste gefunden. Wie du vermutet hattest, im Schlafzimmer. … Augenblick, ich mache sie auf. Reisepass von Tante Gerda, Fotos. … Keine Ahnung, das sind so viele Fotos. … Nein, die kannst du dir anschauen. Ich kannte Tante Gerda doch gar nicht. … Wie soll ich wissen, wer da drauf ist? … Dann ist da Schmuck drin, ein Hundehalsband mit Anhänger. Ja, da steht Lumpi drauf. … Ach, das war euer Hund? … Ein Poesie-Album, Briefe. … Mama, natürlich, ich bringe die ganze Kiste mit. Dann sind da noch ein paar lange weiße Federn drin und etwas, das in einem Tuch eingewickelt ist. Warte, ich muss mal eben den Hörer beiseitelegen. Da ist nur ein Stück von einem alten Teppich drin. … Na, so groß wie ein Kuchenteller … Rot mit weißen Tupfen. … Schwäne? Ja, kann sein. …Quadratisch, nicht rechteckig. Igitt. Ich glaube, da sind Motten drin. … Was? Dein Ernst? Beruhige dich. Ich werfe ihn nicht weg. Versprochen, Mama. Ich muss mich beeilen, damit ich im Hellen noch Fotos von draußen machen kann. Servus, Mama.«
Langsam ließ Annegret den Hörer sinken. Gerda hatte also das fehlende Stück aus Omas Teppich! All die Jahre. Einfach rausgeschnitten, da, wo es nicht zu sehen war. So war Omas kostbarer Teppich nichts mehr wert. Als das Loch im Teppich nach Omas Tod entdeckt worden war, wohnte Gerda schon lange in Norddeutschland. Annegret schluckte. Sie sah sich als Kind mit Gerda auf dem Teppich sitzen und Omas Geschichten lauschen. Bei Oma in der Stube gab es keine Schläge, keinen Gürtel, der auf den blanken Hintern klatschte. Bei Oma gab es Bienenwachssalbe auf den wunden Popo. Die Großmutter hatte ihren Teppich geliebt. Bei jedem Luftalarm wurde er aufgerollt und mit in den Luftschutzbunker genommen. Oma hatte oft erzählt, dass sie immer wieder Ärger deswegen bekommen hatte, ihn aber trotzdem nie im Haus gelassen hatte.
Annegret ließ sich einen Tee auf ihr Klinik-Zimmer bringen und setzte sich im Bett auf. Wie fing die Geschichte noch mal an? Die mit den Schwestern, dem Teppich und den Schwänen. Oma musste sie ihnen immer wieder erzählen, Gerda und sie hatten sie oft darum gebeten. Dabei saßen alle drei zusammen auf dem Teppich und schauten sich das Muster an. Gedankenversunken schüttete sie Zucker in den Tee und rührte ihn um.
Vor langer, langer Zeit lebten einmal zwei Schwestern mit ihren Eltern an einem breiten Fluss. Der Vater war Fischer und die Mutter Kammerdienerin im Schloss. Die Familie war arm, aber zufrieden, denn sie hatten genug zum Leben und wohnten in einem schönen kleinen Fischerhaus.
Ihr kostbarster Besitz war ein großer Teppich, in den Schwäne und Blumen geknüpft waren. Die Mutter hatte ihn von der Königin für ihre treuen Dienste zur Hochzeit bekommen. Als die Mädchen noch klein waren, geschah ein Unglück. Das Boot vom Vater kenterte und er ertrank. Um die Familie ernähren zu können, musste die Mutter wieder heiraten. Ein Köhler nahm sie zur Frau. Die Familie zog vom Fluss in einen Wald. Der neue Mann war jähzornig und begann bald nach der Hochzeit die Mädchen zu schlagen, wenn die Mutter außer Haus war. Der Stiefvater wollte unbedingt Söhne haben und kümmerte sich nicht um die Mädchen. Die Mutter wurde schwanger und gebar wieder ein Mädchen, das kurz nach der Geburt starb. Der Stiefvater tobte vor Wut und schlug die Mutter erbarmungslos. Sie erholte sich nicht von der Geburt und dem brutalen Mann. Auf dem Totenbett konnte sie ihren Töchtern noch von der Legende des Teppichs erzählen. Dann verstarb sie.
Der Teppich war ein verzauberter Teppich des Schwanenkönigs. Wer auf dem Teppich den richtigen der zahlreichen Schwäne fand, und den Finger dahin legte, wo das Herz des Vogels war, konnte mit dem Teppich davonfliegen. Es durfte bei Vollmond jeweils nur ein Vogel berührt werden. Bis zum nächsten Versuch musste ein ganzer Monat vergehen. Nachdem die Mutter gestorben war, probierten die Schwestern jeden Vollmond einen anderen Schwan, aber ohne Erfolg. Sie waren kurz davor, aufzugeben, da auf dem Teppich unzählige weiße Vögel waren. Bei einem weiteren Versuch fanden sie endlich den richtigen Schwan. Kaum hatten ihre Finger den Teppich berührt, begann er zu beben. Die Mädchen erstarrten vor Schreck. Auf einmal schwebte er von alleine dicht über dem Boden. Die Mädchen zogen ihn hinaus auf eine Lichtung an einem Waldsee, wie die Mutter es ihnen erzählt hatte. Die Schwestern setzten sich auf ihn und warteten. Dann kamen zwei Schwäne auf sie zugeflogen. Als sie über den Kindern waren, fuhr ein Ruck durch den Teppich und er folgte den Vögeln. Die ältere Schwester rief: »Guter Teppich, bring uns rasch weg, soweit du kannst.« Der Stiefvater sah die Mädchen auf dem Teppich davonschweben, rannte ihnen nach, aber konnte sie nicht...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7597-0919-2 / 3759709192 |
ISBN-13 | 978-3-7597-0919-6 / 9783759709196 |
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