Rachevirus

Ein Thriller im unmittelbaren Morgen

(Autor)

Buch | Softcover
460 Seiten
2024
8280-edition.ch (Verlag)
978-3-03977-002-1 (ISBN)
14,90 inkl. MwSt
Im Jahr 2095, inmitten des von Dürren gezeichneten Algeriens, das durch bittere Armut und willkürliche Herrschaft verunstaltet ist, bewohnt Jacques ein kleines Stück einer kaputten Welt. Als Kara, seine grosse Liebe, von Soldaten entführt und über das Mittelmeer nach Europa verschleppt wird, steht er vor einer schicksalhaften Entscheidung: Will er sie zurückholen, muss er den "Wall" überwinden – jenes schier unbezwingbare Monstrum aus Stahl im Mittelmeer, das seit Dekaden als unüberwindbarer Schutzschild den "grünen Kontinent" abschirmt.
Währenddessen sieht sich Europa einem entfesselten Hyperkapitalismus gegenüber, angetrieben von faszinierender Hightech und korrupten Machthabern. Im Herzen dieser rücksichtslosen Gesellschaft plant der Hacker Diego einen subversiven Vergeltungsakt gegen PeaSecur, den dominierenden Sicherheitskonzern. Dessen selbstverliebter CEO, Karl Wagner, sowie sein hinterlistiger Anwalt waren die Architekten von Diegos Zerstörung. Nur noch ein kleines, fehlendes Puzzleteil hält ihn von seiner Rache ab: Ein menschlicher Köder, um seinen gnadenlosen Rachevirus auf Europa loszulassen.

Eine Erzählung von unzerstörbarer Liebe, die sich gegen alle Widrigkeiten behauptet, von einem mutigen Aufbegehren gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit, und von der zweischneidigen Macht der Technologie – stets im Wechselspiel mit der Bedeutung von Menschlichkeit und Mitgefühl.

In diesem zukunftsorientierten Thriller erlebt der/die Leser*in ein unmittelbares Morgen fesselnder Extreme. Basierend auf akribischer Recherche, bringt das Buch aktuelle Technologien, politische Trends sowie Umweltprobleme in ein greifbares Zukunftsszenario.

Allan Rexword lebt mit seiner Frau, zwei Kindern und Katze Susi im Münchner Süden. In seine Geschichten fließen umfangreiche berufliche Erfahrungen und Perspektiven aus dem Bereich von neuen Technologien und Innovation ein, während er die nahe Zukunft aus gesellschaftlicher, politischer sowie technischer Sicht beleuchtet. Seine ersten Thriller hat er 2022 im Selfpublishing veröffentlicht.

Prolog 7
Erde zu Erde, Staub zu Staub 12
Ferngesteuerter Spinnenkasten 28
Tiefe Krater im Wüstensand 44
Essenseinladung für eine Antilope 62
Goldene Fassaden 83
Chakhchoukha für vier Rotlichtbesucher 97
Erst der Spaß, dann das Vergnügen 113
Geld regiert die Welt 128
Die scharfen Krallen der Verzweiflung 145
Zur ewigen Ruhe gebettet 161
Unerwünschter Besuch 177
Nicht jeder Versuch macht klug 193
Blauer Himmel, dröhnendes Lachen 207
Verdächtige Handarbeiten 224
Der Köder auf dem Schachbrett 241
Schmuggeln durch die Vordertür 258
Nur 30 Sekunden 273
Gejagter Jäger 291
Reglose Körper auf der Party 305
Kopfgeld für ein Einzelstück 324
Böses Erwachen 338
Das Kap der Katzen 353
Ich weiß, was du letzten Donnerstag getan hast 371
In der Katzenfalle 388
Saubere Arbeit 405
Bewegung in Himmel und Hölle 422
Abschiedsgeschenke 437
Epilog 461
Faktencheck: Technologien Ende des Jahrhunderts 467

Erde zu Erde, Staub zu Staub Die Sonne brannte unbarmherzig auf das Festmahl. Eine fette Made fraß sich mit Hunderten Geschwistern genüsslich durch totes Gewebe. Dutzende grünviolett schillernde Fliegen umschwirrten den Leichnam und taten sich an den verwesenden Überresten gütlich. Der süßliche, faulige Geruch lockte ganze Heerscharen roter Ameisen aus den tiefen Rissen des trockenen Lehmbodens hervor. Sie nutzten ihre seltene Chance, den Nachwuchs mit ausreichend Nahrung zu versorgen. Währenddessen lauerte ein dunkelgrau gefiederter Rabengeier auf einem Pfahl darauf, seinen gebogenen Schnabel in das köstliche Fleisch zu schlagen. Näher heran traute er sich nicht, denn ihm gegenüber stand ein Mensch, der sich ebenfalls für die Mahlzeit interessierte. Jacques Das heiße Holz des dornigen Gatters brannte sich in Jacques´ verkrampfte Hände, während er die gruselige Szenerie schweigend betrachtete. Die in ihm aufsteigende Übelkeit ließ sich nicht mehr herunterschlucken. Statt sich zu übergeben, konnte er nur bittere Galle aus seinem leeren Magen auf den Boden würgen. Die kläglichen Reste des Gerstenbreis hatte er bereits gestern Mittag gegessen. Gleichzeitig durchzog eisige Kälte seine Glieder bei dem Gedanken, was der Anblick für die Zukunft bedeutete. Die drei braun-weiß-gefleckten Ziegen ihrer Familie lagen tot im Wüstensand. Sie schauten ihn aus anklagenden, trüben Augen an. Ein bestialischer Gestank zog über die Ebene. Es waren nicht die ersten Kadaver, die er sah. Das machte es aber nicht besser, verflucht! Was war hier passiert? Heute Morgen waren sie noch bei bester Gesundheit. Und ohne ihre Ziegen würden sie ... würde er ... erneut verdrängte er den Gedanken. Nochmals atmete er durch den Mund ein, schluckte und riss sich zusammen. »Maman?!«, rief er nach hinten. Seine Mutter stand gebückt auf ihrem Feld. Mit der Hacke versuchte sie eine Furche in den ausgetrockneten Lehmboden zu ziehen. Die dürren Gerstenhalme ließen traurig ihre Ähren hängen. Es schien, als wüssten sie, was das Schicksal der Ziegen für ihre kleine Familie bedeutete. Alarmiert von seinem Tonfall hob Annabelle ihren Kopf. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und marschierte mit zügigen Schritten zu ihm herauf. Mit einer Hand schob sie ihre Locken nach hinten und starrte auf die von Fliegen umschwirrten Kadaver. »Merde!« Das war das Einzige, was sie mit versteinertem Gesicht dazu zu sagen hatte. Da musste er ihr zustimmen. Durch den Tod der Tiere hatten sie ein massives Problem. Ohne die Ziegen, deren tägliche Milch und Käse sowie das sehnlichst erwartete Lämmchen, würden sie einen Großteil ihres Einkommens verlieren. Langsam trat Annabelle an die Kadaver heran und schob die toten Körper mithilfe eines Stocks zur Seite. »Zut!«, knurrte sie, zeigte auf eine Stelle am Boden und wandte sich halb zu ihm um. »Schau dir das an.« Sie presste ihre Lippen so fest zusammen, dass sie eine helle, ernste Linie bildeten. Alles in ihm sträubte sich. Trotzdem folgte er ihrer Bitte und kam mit langsamen Schritten näher. Und dann sah er, was sie meinte: Ein größerer Haufen grünlich-roter gezackter Blätter lag im Gehege - Rizinus. »Was?! Sie wurden vergiftet?«, fragte er fassungslos und schüttelte seinen Kopf, als könne er damit den Anblick wie den eines Albtraums verscheuchen. »Warum?« »Man will uns loswerden«, antwortete Annabelle knapp. »Diese Botschaft ist eindeutig. Meinst du nicht auch?« »Aber ... aber, wir haben niemandem was getan!«, rief er und warf seine Arme in die Luft. Er konnte nicht glauben, dass einer ihrer Nachbarn zu so einer Tat fähig wäre. Oder doch – er hielt inne und versteifte sich. Einer Person würde er das definitiv zutrauen: Youssef. Bei dem Gedanken an den Halbstarken verkrampfte er sich. Glühender Zorn zog brodelnd durch seine Adern. Der siebzehnjährige Youssef lehnte ihn ab, seit sie vor Jahren hier im Dorf angekommen waren. Vermutlich aus Eifersucht. Jacques war mit dessen Schwester Kara zusammen. Heimlich. Die Ablehnung des Bruders war in regelrechten Hass umgeschlagen, als er die beiden vor einigen Monaten abends abseits des Dorfes erwischt hatte. Youssef war der festen Überzeugung, dass Jacques nicht gut genug für Kara war. »Lass es gut sein, Jacques«, holte seine Mutter ihn aus den Gedanken. Sie hatte offenbar nicht mitbekommen, wie sehr es in ihm kochte. »Non! Nichts ist gut!«, fuhr er sie unwirsch an. Er hob seine Schultern und ballte die Hände zu Fäusten. »Das war Youssef. Ganz sicher. Sagen wir es Idir! Jetzt!« Schweigend schaute sie ihn für einen Moment an. »Das kann ich mir kaum vorstellen. So niederträchtig ist der Junge nun auch wieder nicht. Aber, selbst wenn – wie willst du es beweisen? Und falls wir mit haltlosen Vorwürfen zu seinem Vater gehen? Ohne etwas in der Hand zu haben, stehen wir deutlich schlechter da als jetzt. Und, wir müssen ihn um einen weiteren Aufschub der Pacht bitten.« Jacques Mund klappte auf und wieder zu. Ihm fiel spontan keine passende Erwiderung ein. Ihre Logik war bestechend klar und er musste ihr leider recht geben. In einem irrte sie sich: Youssef war das definitiv zuzutrauen und er durfte damit auf keinen Fall durchkommen. Als er nichts sagte, setzte sie zögerlich hinzu: »Aber, ... vielleicht«, sie stockte erneut, »gibt es eine andere Möglichkeit. Auch wenn es uns die Ziegen nicht zurückbringt.« »Was meinst du?«, hakte er irritiert nach und kapierte kein Wort. »Lass uns später drüber reden.« Stöhnend richtete sich seine Mutter auf und legte ihm sanft die Hand auf die Schulter. »Ich versteh dich ja, Jacques. Mir passt das auch nicht. Aber zunächst müssen wir Ordnung schaffen. Kümmerst du dich um die Kadaver? Ich spreche währenddessen mit Idir – wegen der Pacht. Wir schauen heute Abend, wie es weitergeht. Einverstanden?« »Wollen wir nicht wenigstens jemandem diese Sauerei zeigen?«, wunderte er sich. Wenn sie jetzt alles wegräumten, könnten sie nie beweisen, dass Youssef die Ziegen vergiftet hatte. »Nein«, kam ihre entschiedene Antwort und sie schüttelte vehement den Kopf. »Das bringt nichts als Ärger. Schau dich doch um. Auf dem Trampelpfad neben dem Gatter kommt am Tag ein Dutzend Nachbarn vorbei. Jeder von denen kann es gewesen sein. Man könnte sogar behaupten, dass wir es selbst waren, weil wir beim Pflücken der Blätter einfach nicht aufgepasst hätten.« »Ich ... Aber ...« Er knirschte mit den Zähnen und starrte sie an. »Merde!«, entfuhr es jetzt auch ihm lautstark und er trat wutentbrannt nach einem Stein, der im weiten Bogen davonflog. Das war eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit und das wusste Annabelle. Youssef oder sonst wer zerstörte ihr Leben und sollte ungeschoren davonkommen? Das widersprach allem, an das er glaubte. Allem, dass seine Mutter ihm beigebracht hatte. Sie war es, die immer Rückgrat zeigte und meinte, dass man für eine gerechte Sache einstehen musste. Aber es war auch sie, die immer einen kühlen Kopf bewahrte. Sie wusste, wann man bei einer aussichtslosen Schlacht besser den Rückzug antrat. Nur dank dieser Mischung hatten sie ihre Flucht von der Elfenbeinküste bis hierher nach Algerien überlebt. Und nur dank ihres ruhigen und selbstbewussten Auftretens hatte man sie hier im Dorf aufgenommen. Daher beugte er sich für den Moment ihrer bestechenden Logik und Erfahrung. Aber ausgestanden war die Sache damit noch lange nicht. Am Ende machte er sich, weiterhin innerlich kochend, an die Arbeit. Kurz vor Sonnenuntergang war sein grausiges Werk vollbracht. Die Kadaver hatte er in weiße Planen gerollt und seine Fracht über einen flachen Hügel geschleift. Dahinter eine tiefe Grube im Sand ausgehoben, die sterblichen Überreste ihrer Tiere hineingeworfen und mit Kalk bestreut. Die körperliche Arbeit hatte ihn ausgelaugt und seiner Wut ein Ventil geboten. Inzwischen breitete sich eine dumpfe Leere in ihm aus. Während er sich auf die Schaufel stützte, blickte er im letzten Sonnenlicht von seinem erhöhten Standpunkt auf die Dächer ihres Dorfes: ein paar Dutzend eckige sandsteinfarbene Blöcke. Als hätte ein Riese mit Bauklötzen gespielt und die Reste achtlos im Sand liegengelassen. Hinzu kamen verstreute Wellblechhütten der Zugezogenen am Dorfrand. Zu denen zählten auch seine Mutter und er selbst. Auf der anderen Seite erhob sich ein einzelner Berg, der die wesentliche Versorgungsgrundlage ihres Dorfes darstellte. Er stand als einsamer Wächter in der Wüste und sammelte das lebenswichtige Wasser. Seine Hänge boten fruchtbarere Böden als die restliche Steppenlandschaft. Außer vertrockneten Büschen und knorrigen Bäumen waren die Felder das einzig Grünliche in all dem Braun und Gelb. Erst vorgestern war Kara hinter einem der Häuser hervorgesprungen und hatte ihn mit einem selbst gebastelten Kranz aus lila Blumen überrascht. Anstelle des traditionellen Kopftuches hatte sie diesen wie eine altertümliche Göttin auf ihr Haupt gelegt und Jacques hinter eine unbeobachtete Ecke gezogen. Bei der Erinnerung musste er grinsen. Seine Kara, die sich insgeheim nicht um die Traditionen scherte und immer versuchte, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Sie war es, für die er alles auf sich nehmen würde, um mit ihr ein gemeinsames Leben führen zu können. Und vielleicht hatte seine Mutter ja wirklich eine geniale Idee, die ihnen aus dieser Misere helfen konnte. Diese Gedanken gaben ihm neue Hoffnung und Energie. Bisher hatten sie immer einen Ausweg gefunden, egal wie aussichtslos ihre Situation auch schien. Auf dem Rückweg verwendete er etwas kostbare Flüssigkeit, um sich sowie seine Ausrüstung gründlich zu waschen. Zum Abschluss brachte er sie Familie Mohammed zurück, von der er sie geliehen hatte, und bedankte sich brav. Es war bereits Abend, als er die knarzende Brettertür ihrer Wellblechhütte öffnete. Das obere Scharnier war hinüber, aber für einen Ersatz fehlte ihnen das Geld. »... in Ordnung ... Ja, bringe ich mit ... mai alslama.« Als seine Mutter ihn bemerkte, legte sie hastig, beinahe schuldbewusst ihr Handy zur Seite und schaute ihn von unten an. »Alles erledigt?« »Uff. Ja. Was für ´ne Plackerei.« Erschöpft fiel er neben ihr auf sein Bett aus Styropor und löchrigen Decken. »Hast du mit Idir gesprochen?« Nickend ließ sie ihre Schultern hängen: »Ja, ich habe ihn vorhin zu Hause besucht. Er gibt uns keinen Aufschub. Wir sind bereits sechs Monate im Rückstand und müssen die Pacht jetzt begleichen. Er hat zwar Verständnis für uns, muss aber seine Familie auch versorgen. Entweder wir zahlen – oder er verpachtet das Feld an jemanden anderes.« Verflucht. Damit bewahrheitete sich seine schlimmste Befürchtung. Der Täter – Youssef – hatte sein Ziel erreicht: Ihre Lebensgrundlage zu zerstören, um sie zu vertreiben. Ein anderer Gedanke zupfte am Rockzipfel seiner Wahrnehmung und drängte sich nach vorne. »Ähm ... Wenn du selbst bei Idir warst«, sprach er ihn laut aus, »mit wem hast du dann eben telefoniert ...?« »Kannst du dir vorstellen, aus dem Dorf wegzuziehen?«, stellte sie eine Gegenfrage, statt zu antworten. »Ich meine: richtig weg. Ein komplett neues Leben anfangen?« Wollte sie so schnell aufgeben? Warum? Und nein! Natürlich wollte er das nicht. Um jeden Preis musste er bleiben – wegen Kara! Für seine Freundin, seine Liebe, würde er jegliche Qual in Kauf nehmen. Selbst wenn er dafür betteln gehen müsste. Seine Gedanken standen ihm offenbar deutlich ins Gesicht geschrieben, denn sie sagte mit betont ruhiger Stimme: »Jacques. Wir sind hier am Ende. Es sind nicht nur die Ziegen und die Pacht. Auch der Arbeitsvermittler nimmt dich jeden Monat seltener mit. Und der jährliche Regen scheint ebenfalls auszubleiben. Uns bleibt keine Wahl. Ich habe eben ...« »N’importe quoi! Man hat immer eine Wahl, das hast du mir selbst beigebracht!«, unterbrach er sie barsch und sprang auf. »Und du weißt genau, warum ich hierbleiben will!« »Natürlich«, sie schaute ihn von unten an, »aber mach dir keine Illusionen, selbst wenn das mit den Ziegen nicht passiert wäre. Kara ...« »Was ist mit ihr? Glaubst du auch, ich bin nicht gut genug für sie?« »Nein, das habe ich nicht gesagt ...« Sie brach ab. Aber gemeint, vervollständigte er den Satz in Gedanken, während ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Offenbar doch«, fuhr er sie an. »Sogar meine eigene Mutter hält mich für ´nen Versager, mit dem noch nicht mal der Arbeitsvermittler was anfangen kann. Trotzdem lass ich mich nicht vertreiben. Nicht von Youssef oder sonst wem.« Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen. Hielt inne und schüttelte den Kopf, als wolle sie ein lästiges Insekt loswerden. »Im Gegenteil, Jacques. Kara könnte froh sein, einen Mann wie dich zu bekommen«, erwiderte sie nach ein paar Sekunden und sah ihn direkt an. »Aber so einfach ist das nicht. Wir reden morgen darüber, wie es weitergeht, ja?« »Von mir aus«, grummelte er, obwohl er ihr die versöhnlichen Worte nicht ganz abkaufte. Frustriert und unzufrieden zog er die fadenscheinige Decke eng um seine Schultern und drehte ihr den Rücken zu. Was war nur los mit seiner Mutter? Auf ihrer Flucht aus dem Süden war es immer sie gewesen, die wie eine Löwin für sie beide eingestanden war. Eine Kämpferin, die sich mit keiner noch so ausweglosen Situation abfand. Das heutige Verhalten passte nicht zu ihr. Egal. Morgen würde er als Erstes mit seiner Freundin sprechen und versuchen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Irgendeine Lösung würde es geben. Er musste sie nur noch finden ... Es war kurz vor Sonnenaufgang und sein Rücken schmerzte. So wie jeden Tag, den er auf der dünnen Unterlage aus alten Decken und nach Öl stinkenden Plastikresten übernachtete. »Maman? Ich hol schon mal Wasser«, informierte er sie gähnend. Eine Antwort erhielt er nicht, zuckte mit den Schultern und war nicht traurig drum. Das gab ihm die Chance, als Erstes mit Kara zu sprechen. Außerdem würde das Fortsetzen der gestrigen Diskussion anstrengend werden. Egal, mit wem seine Mutter noch telefoniert hatte und was für eine Idee sie vorschlagen wollte. Die Brettertür knarzte und er trat in die klare Morgenluft. Kühler Sand knirschte unter seinen dünnen Sohlen. Der erste Schimmer der Morgenröte zeigte sich über dem niedrigen Berg. Gezielt griff er sich die zwei leeren Plastikkanister und marschierte in Richtung Dorfplatz. Vorbei an den sandfarbenen Kastenhäusern der Nachbarn, heruntergebrannten Müllhaufen und Wäschestücken, die vergessen auf den Leinen hingen. Das Geschrei von Kleinkindern und Bellen der Hunde verkündete vom langsamen Erwachen des Dorfes. Weitere Einwohner jeden Alters traten in traditioneller Leinenkleidung oder ausgewaschenen modernen Klamotten aus ihren Häusern und strebten in die gleiche Richtung. Auf dem staubigen, von kantigen Bauten umringten Platz war er einer der Ersten, der sich in die Schlange vor den mannsgroßen Frischwassertanks am Rande der Fläche stellten. Im Hintergrund brummte ein Elektromotor und pumpte das kühle Nass aus den Tiefen hervor. Falls es nicht bald regnete, wären sie wieder auf den Tanklaster angewiesen, der ihnen wöchentlich aushelfen müsste. Der Wasserstrahl sprudelte aus dem Rohr, das aus dem rostigen Container ragte, und füllte seine Kanister. Kurz darauf trat sie dicht neben ihn: Kara! Endlich. Sie war der grüne Spross im Zentrum seines ausgedorrten Daseins, den er nicht verlieren durfte. Ihre braunen Augen leuchteten und sie lächelte, als sie ihn grüßte. Die widerspenstigen dunklen Locken verbarg sie nur unzureichend unter dem Kopftuch, das man hier traditionell erwartete. Beim Befüllen der Behältnisse streichelte ihre Hand wie zufällig über seine. Elektrisierte Gänsehaut kroch seinen Arm hinauf. Sie ignorierten beide die Rufe aus der Schlange, weil sie sich neben ihn vorgedrängelt hatte. Für heimliche Treffen abseits des Trubels, so wie vorgestern, gab es kaum Gelegenheiten. Ihre Familie, vor allem Youssef, hüteten sie inzwischen wie ihren Augapfel. Nachdem ihre Kanister gefüllt waren, setzten sie sich auf ein paar verfallene Betonblöcke neben den Tanks. Frisches Gras sprießte überall, wo das Wasser aus undichten Stellen in den Staub tropfte. »Kara? Denkst du, es gibt Europa wirklich?«, fragte er, um die schlechten Nachrichten noch etwas aufzuschieben und ihre Nähe zu genießen. »Also, das mit grünen Wäldern und Menschen, die nicht arbeiten müssen und so, meine ich.« Wenn er sich in der kargen Steppenlandschaft umschaute, schien ihm das eine seltsame Vorstellung. Hier regnete es maximal zweimal im Jahr. Vor Jahrzehnten, zu Zeiten von Karas Großeltern, kam der Regen deutlich öfter und der Tanklaster wurde fast nie benötigt. »Ach, ich weiß nicht«, antwortete sie leichthin und warf ihre Haare nach hinten. »Kann schon sein. Du kennst die Gerüchte. Und neulich meinte Ali, der Händler, der hier war, dass er einen Schwager hätte, der auf einem Schiff arbeitet und drüben war. Im Hafen, wo sie Waren ausgeladen haben, gab es keine Menschen. Nur Roboter. Stell dir das vor! Irre. Drum herum war es wohl grün und voller Pflanzen.« »Roboter? Echt?« Er beugte sich vor. »Wow. Und? Hat er sich umgesehen?« »Nee, vergiss es. Keine Chance. Auf dem Schiff wurden sie streng bewacht. Aber uns geht es hier doch auch nicht schlecht.« Sie schaute ihn an und legte ihre Hand unauffällig auf seine. »Machen wir das Beste aus dem, was wir haben.« Das war einer ihrer häufigsten Sprüche. Kara war deutlich pragmatischer veranlagt als er. Mit dieser Haltung hatte er sich nie angefreundet. Ihn drängte es, die Dinge zu verändern. Gestern Nachmittag hatte jemand die zarte Pflanze seiner begrenzten Möglichkeiten brutal zertreten. »Du bist witzig«, meinte er missmutig und warf einen Stein auf den leeren Platz. »Ihr habt große Felder am Hang und verdient damit ordentlich Geld.« »Ach komm«, sie stupste ihn an, »auch für euch kommen bessere Zeiten.« Schön wäre es. Er wollte gerade antworten und ihr von den Ziegen erzählen, da lief Youssef quer über den Dorfplatz direkt auf sie zu. Karas Hand zuckte zurück, als hätte sie sich verbrannt. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder war ein bulliger Jugendlicher mit kurz geschorenen schwarzen Haaren. »Hey Jacques, hab gehört, euch sind die klapprigen Zicklein verreckt? Tolle Leistung. Verschwindest du jetzt endlich aus unserem Dorf und lässt meine Schwester in Frieden?« Sein Puls schoss in die Höhe und er sprang auf. Das war der Beweis! Ihr Bruder musste es gewesen sein, der die Ziegen vergiftet hatte. Woher sonst sollte er davon wissen? »Connard! Salaud! Du warst es!«, brüllte er und wollte sich auf ihn stürzen. Kara hielt ihn an beiden Schultern zurück: »Jacques! Nein!« Youssef grinste breit, stand mit verschränkten Armen vor ihnen und setzte hinzu: »Und selbst eure mickrige Pacht könnt ihr nicht zahlen. Am besten packst du gleich mal deine Sachen. Ach, nee. Du hast ja nichts. Du kannst dich also direkt aus dem Staub machen.« »Ta gueule!« Genug war genug. Er sprang vor und wollte sich auf den Kerl stürzen, aber seine Freundin klammerte sich erstaunlich kräftig an ihn, sodass seine Füße nur über den Sand rutschten. »Lass es. Das will er doch nur«, flüsterte sie und wandte sich direkt an ihren Bruder: »Verzieh dich, Youssef! Sofort. Sonst erzähle ich Idir später, wie unmöglich du dich benommen hast.« »Pah. Mir egal.« Er spuckte ihm vor die Füße und rempelte ihn im Vorbeigehen an. »Hey, was ...?« Mit einem Schwinger versuchte Jacques, dem Halbstarken eine zu verpassen, verfehlte jedoch, da Kara sich weiterhin an ihn klammerte. »Lass es, Jacques. Das ist es nicht wert.« Feixend schritt ihr Bruder an ihm vorbei und verschwand um die Ecke. »Aber er hat unsere Ziegen vergiftet!«, schrie er und deutete mit zitterndem Zeigefinger in die entsprechende Richtung. »Er!« »Ist ja gut. Jetzt beruhig dich erst mal und lass uns von hier verschwinden. Die anderen gucken schon.« Vor Wut schwer atmend schleppte er gemeinsam mit Kara die Kanister um die nächste Ecke. Dort lehnten sie sich im Schatten gegen eine kühle Lehmwand. »Stimmt es, was er erzählt hat?«, fragte sie ihn mit Besorgnis in der Stimme. »Ja, verdammt.« Mit der Hand fuhr er sich durch die Haare. »Sie sind tot. Alle drei. Ich bin überzeugt, dass er es war. Jemand hat gestern giftige Blätter ins Gatter geworfen. Sonst weiß davon niemand.« »Blödsinn. Das mit den Ziegen haben doch mit Sicherheit eure Nachbarn mitbekommen, das ist kein Beweis. Und von Gift hat Youssef kein Wort gesagt.« Sie hielt inne. »Was sagt denn deine Mutter dazu?« Er holte tief Luft. »Sie will wegziehen. Hat irgendeine krude Idee. Erzählt mir aber erst später, was genau. Und wovon sollen wir leben? Betteln gehen? Außerdem ...« Er verstummte. »Außerdem, was ...?« Schnell schaute er sich um, ob es keine Lauscher gab, und flüsterte: »Außerdem könnte ich dich nicht mehr treffen. Kara! Das geht nicht!« »Dann rede endlich mit meinem Vater. Über uns meine ich.« Bei dem Gedanken wurde ihm übel und er rückte ein Stückchen von ihr fort. »Wozu? Wenn ich ihn frage, jagt der mich vom Hof. Wir sind Zugezogene, die noch nicht mal eure Sprache richtig sprechen. Lästige Bettler, genau wie Youssef sagt. Der hat die Ziegen vergiftet! Damit wir die Pacht nicht mehr zahlen können – an euren Vater, wohlgemerkt. Aber das kann ich nicht beweisen, wie du selbst bemerkt hast. Über was, bitte schön, sollte ich also mit ihm reden?« Sie hob beschwörend ihre Hände. »Idir ist nicht so, wie du denkst. Ihr lebt bereits seit elf Jahren hier im Dorf und er weiß, was ihr durchgemacht habt. Wir haben euch damals geholfen, schon vergessen? Wenn du mit ihm sprichst, ...« »Non. Impossible!« Entschieden sprang er auf und hob abwehrend seine Hände. »Zuerst muss ich ordentlich verdienen – für uns. Dann kann ich mit ihm sprechen. Über uns.« »Von wegen Impossible.« Sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften und funkelte ihn an. »Das einzige Unmögliche ist, hier in diesem Kaff ohne eigenes Feld und Vieh Geld zu verdienen! Da hat deine Mutter leider recht!«, hielt sie ihm entgegen. »Ich ... ach, verdammt. Ja. Lass uns nachher weiter darüber reden, vielleicht hat sie ja wirklich eine Idee, die uns hilft.« Um der weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen, verabschiedete er sich knapp und kam wenige Minuten später mit seiner schweren Fracht zu Hause an. Seine Mutter schien bereits unterwegs zu sein. So ein Mist. Einerseits wüsste er gerne, mit wem sie gestern telefoniert hatte und was ihre Idee war, andererseits musste er sich jetzt selbst um das Wässern der Gerste kümmern. Und deswegen würde er heute erneut den Arbeitsvermittler verpassen. Verdammt! Offenbar hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen. Grummelnd packte er erneut die Kanister und schleppte sie in Richtung der Felder, während eine kräftige Böe ihm den Sand um die Knöchel peitschte.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Kreuzlingen
Sprache deutsch
Maße 125 x 190 mm
Gewicht 480 g
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Literatur Märchen / Sagen
Schlagworte Dystopie • Flüchtlinge • Klimawandel • Pushback • Remigration • Thriller
ISBN-10 3-03977-002-0 / 3039770020
ISBN-13 978-3-03977-002-1 / 9783039770021
Zustand Neuware
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