Geordnete Verhältnisse (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024
288 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28042-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geordnete Verhältnisse - Lana Lux
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Er sagt, sie sagt - Lana Lux zeigt zwei Seiten einer modernen Tragödie.
»Eine unerhörte Geschichte! Jeder Satz ist eine mit Schmerz und Lachgas gefüllte Pistolenkugel.« (Daniela Dröscher)
Wenn man seine Heimat verlassen muss, kommt es immer darauf an, wo man landet und welche Leute man kennenlernt. Faina landet in einer deutschen Kleinstadt und lernt in der Schule Philipp kennen, einen Jungen mit Wutausbrüchen, der Pflanzen lieber mag als Menschen, sich aber sehnlichst einen Freund wünscht. Faina soll dieser Freund werden, also bringt er ihr Deutsch bei, und wie man Weihnachten richtig feiert. Er macht sie zu seiner Faina.Jahre später ist Philipp der Typ mit Eigentumswohnung und fester Freundin, und Faina steht als verlassene, verschuldete Schwangere vor seiner Tür. Er lässt sie hinein, doch zu welchem Preis? 'Geordnete Verhältnisse' ist eine Geschichte über Wut und Obsession - und eine Frau, die sich weigert, zum Besitztum eines Mannes zu werden.

Lana Lux ist eine deutschsprachige Schriftstellerin, Illustratorin und Moderatorin ukrainisch-jüdischer Herkunft. Sie ist 1986 in Dnipro geboren, emigrierte 1996 ins Ruhrgebiet und lebt seit 2010 in Berlin. 2017 ist ihr Debütroman 'Kukolka' erschienen, 2020 ihr zweiter Roman 'Jägerin und Sammlerin'. Geordnete Verhältnisse ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.

2


Ich war also zehn und zum zweiten Mal in der Dritten. Die Sommerferien waren seit zwei Wochen vorbei, was ich nicht mal richtig bedauern konnte, denn Mutter hatte einen neuen Typen angeschleppt, und zusammen hatten sie mir die Ferien ganz schön vermiest.

Dennoch fand ich die Veranstaltung beim zweiten Mal erwartungsgemäß nicht gerade spannender.

Also tat ich, was ich am liebsten tat, ich schaute aus dem Fenster und verfolgte das Blätterspiel der Kastanie statt den Unterricht. Manchmal war ich aber auch einfach nur müde, eine Nebenwirkung der Tabletten, die ich seit Ende der ersten Klasse gegen meine Inkontinenz nehmen musste. Damit kein Unfall passierte, hatte ich eine Uhr. Sie war blau, überall auf dem Armband stand SO4, und das Zifferblatt sah wie ein Fußball aus. Wenn andere Kinder überhaupt etwas an mir mochten, dann diese Uhr.

Alle drei Stunden war es so weit. Später sollten es vier werden. Aber es hatte einmal mit den drei Stunden Probleme gegeben, weshalb ich mich heimlich wieder auf zwei Stunden zurückgestuft hatte.

Wenn zwei Stunden um waren, ging ich aufs Klo, egal was gerade angesagt war. Das gefiel Frau Steinmeier noch weniger als meiner alten Klassenlehrerin.

»Ein so großer Junge wie du sollte doch bitte eine Dreiviertelstunde seinen Harndrang unter Kontrolle haben«, sagte sie.

Alle lachten über mich, und ich tat so, als würde mich das nicht jucken und als würde ich sie nicht alle töten wollen.

In meiner Erinnerung war es ein elendiger Montagmorgen. Alle hampelten und kreischten herum. Ich saß in meiner üblichen Pose an meinem Platz, die Arme auf dem Tisch verschränkt, der Kopf darauf, Blick aus dem Fenster. Die Kastanie war übersät mit winzigen grünen Kastanienbabys, die mich an kleine Igel erinnerten. Ich dachte über Kastanien und ihre Stacheln nach. Erst sind sie ganz weich, doch mit der Zeit werden sie hart wie Stahlnadeln, mit denen sie sich vor Fressfeinden schützen. Ich ließ meine Gedanken fließen, als sie von dem monotonen Singsang der Mitgefangenen unterbrochen wurden:

»Gu-ten Mor-gen, Frau Stein-mei-er.«

Frau Steinmeier wollte stehend begrüßt werden. Ich konnte ihr allerdings nicht mehr als meinen aufgerichteten Oberkörper anbieten.

Frau Steinmeier war steinalt. Sie hatte ordentlich frisierte graue Haare und die Falten auf ihrer Oberlippe und ihrem Kinn bildeten ein Gitter, hinter dem das starre Lächeln ihrer schmalen Lippen gefangen zu sein schien. Sie trug ein blaues Kleid mit Sonnenblumen darauf und hatte drei echte Sonnenblumen in einer Vase dabei, die sie auf dem Lehrerpult platzierte. Neben ihr stand ein neues Kind. Es hatte schulterlange, leuchtend rote Locken und trug ein schwarzes T-Shirt zu schwarzen Shorts. In den Händen hielt es einen roten Rucksack mit einem Adidas-Logo und der Aufschrift »Adibas«. Ich las es dreimal, weil ich es gewöhnt war, alles dreimal lesen zu müssen, bis es einen Sinn ergab, aber diesmal lag es nicht an mir.

»Das ist Faina«, sagte Frau Steinmeier. »Sie kommt aus Russland und kann noch nicht so gut Deutsch. Faina, willst du dich vorstellen?«

Das Kind schaute zu Boden, dann schaute es Frau Steinmeier an und sagte: »Nein, danke!«

»Doch, bitte!«, sagte Frau Steinmeier und hob die Augenbrauen.

Das Kind holte tief Luft und hauchte wunderschön falsche Sätze aus: »Gutehn Tag! Iech bien Faina. Iech bien zehn Jahre alt. Iech kommen aus Ukraine. Iech wohnen seit vier Monatee ien Deutschland.« Danach war es knallrot im Gesicht und sah aus, als würde es gleich losheulen.

Es sollte sich auf einen freien Platz setzen, und der einzige freie Platz war neben mir. Das russische Mädchen setzte sich, und mir stieg ein Erdbeergeruch in die Nase. Kaum hatte sie sich gesetzt, sollten wir uns für das Vaterunser erheben. Ich schielte zu ihr rüber. Sie betete nicht mit. Dann sollten wir uns setzen und unsere Mathebücher rausholen. Das russische Mädchen hatte keine Bücher.

»Kannst bei mir reingucken«, sagte ich, was sehr untypisch für mich war.

Als sie den Kopf zu mir drehte, sah ich, dass ihre grünen Augen von dichten roten Wimpern umrandet waren. Ihr Gesicht sah meinem so ähnlich, dass ich das Gefühl hatte, in einen Spiegel zu schauen. Sie lächelte, griff mit der Hand hinters Ohr und holte einen rosafarbenen Klumpen hervor, den sie sich gleich in den Mund steckte und zu kauen begann, wodurch der Erdbeergeruch umso stärker wurde.

In der Pause stürmten alle Mitgefangenen hinaus, als würden sie den freien Himmel zum letzten Mal sehen dürfen. Wie schon in meiner alten Klasse hatte auch hier jeder von ihnen eine passende Gruppe für sich gefunden.

Die ordentlichen Mädchen sprangen unermüdlich über ihren Gummitwist oder die langen Springseile, wobei sie das Gehopse mit einem nervtötenden Singsang begleiteten: »Teddybär, Teddybär, dreh dich um, Teddybär, Teddybär, mach dich krumm.«

Die coolen Jungs ballerten mit aller Wucht auf einen Fußball. Die weniger coolen Jungs spielten mit den weniger ordentlichen Mädchen Fangen. Mädchen gegen Jungs, versteht sich. Die jugoslawischen Flüchtlingskinder waren ernst und ruhig. In den Pausen standen sie im Kreis mit den drei Jugo-Kindern aus meiner alten Klasse und unterhielten sich wie Erwachsene. Sie fand ich am interessantesten, aber zu ihnen konnte ich natürlich nicht gehen, weil ich ja kein Jugo war.

Ich saß meistens alleine auf der Treppe und las. Oder zumindest versuchte ich es. Ich wollte so gerne schnell und flüssig lesen können. Aber es wollte mir mit zehn Jahren immer noch nicht gelingen. Meine Augen fixierten nur einzelne Wörter, ich verlor die Zeile, je mehr ich mich konzentrierte, desto schneller ermüdete ich und machte Fehler, wodurch ich mit demselben Satz immer wieder von vorne beginnen musste. Für gewöhnlich schaffte ich in der gesamten Pause etwa eine Seite.

An diesem besagten Montag saß auch das russische Mädchen auf meinen Treppenstufen. Obwohl es strengstens verboten war, hatte sie ihren Adibas-Rucksack mit auf den Hof genommen. Ich sah, wie sie den Reißverschluss aufzog und eine Apfelsaftpackung herausholte. Der obere Teil des Tetra Paks war abgeschnitten und die Seiten des Kartons waren nach innen gefaltet. Das Ganze wurde von zwei Gummis gehalten. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen.

Faina entfernte die Gummis, öffnete die Verpackung und holte ein labbriges Etwas heraus, das mich an Reibekuchen oder Frikadellen erinnerte. Sie biss ab und ihre rechte Backe plusterte sich auf, als sie zu kauen begann.

Dann drehte sie, immer noch kauend, den Kopf zu mir, zeigte mit dem Finger auf mich und dann auf ihre halbe Apfelsaftpackung und fragte mit vollem Mund: »Du wollen?«

Ich glotzte sie an und sagte erst mal gar nichts. Einerseits, weil mir vorher noch nie jemand etwas von seinem Essen angeboten hatte. Andererseits, weil das, was sie da aß, nicht gerade appetitlich aussah.

»Was ist das?«, fragte ich etwas unsicher.

»Oladuschki«, sagte Faina und zuckte entschuldigend oder verlegen mit den Schultern.

»Ist das mit Fleisch?«, fragte ich.

»Fleisch? Nein!«, sagte Faina.

»Kein Fleisch?«, fragte ich nochmal.

»Fleisch? Nein!«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

Sie lächelte und mich durchströmte so ein warmes, wohliges Gefühl, das ich bis dahin nicht kannte. Ich hätte mir bis in alle Ewigkeit dieses sommersprossengesprenkelte Gesicht anschauen können.

»Du hast was Grünes zwischen den Zähnen«, sagte ich.

»Was?«, sagte sie.

»Was Grünes«, sagte ich und zeigte auf meine eigenen Zähne, dann auf sie. Sie wurde rot und fuhr sich bei geschlossenen Lippen mit der Zunge über die Zähne.

Ich rückte auf der Stufe etwas näher zu ihr, streckte meine Hand aus und nahm einen der »Oladuschki« aus der Apfelsaftpackung.

In Erwartung von etwas...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2024
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alkoholabhängigkeit • Außenseiter • Coming-of-age • Gaslighting • Geordnete Verhältnisse • Häusliche Gewalt • Heimat • Kleinstadt • Kulturclash • Liebe • Manipulation • Mutterschaft • Obdachlos • Obsession • Patriarchat • prekäre Verhältnisse • Psychische Probleme • rote haare • Schwangerschaft • Täter • toxische Beziehung • Ukraine • Vaterschaft • zerrüttete Familie
ISBN-10 3-446-28042-1 / 3446280421
ISBN-13 978-3-446-28042-7 / 9783446280427
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