Still ist die Nacht (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3203-1 (ISBN)
Sandra Åslund, geboren 1976, ist am Niederrhein nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sie hat ein Fernstudium in kreativem Schreiben an der Textmanufaktur absolviert und ist Mitglied beim »Syndikat« sowie bei den »Mörderischen Schwestern«. Durch ihren schwedischen Mann verbrachte die Autorin ab 2010 viel Zeit im Norden, sowohl in Stockholm als auch in Småland, lebte in Berlin und Schweden. Im März 2020 zog sie mit der Familie komplett nach Småland. In ihren Kriminalromanen verwebt die Autorin das skandinavische Flair und die schwedische Mentalität mit aktuellen umweltpolitischen Themen.
Sandra Åslund, geboren 1976, ist am Niederrhein nahe der holländischen Grenze aufgewachsen. Sie hat ein Fernstudium in kreativem Schreiben an der Textmanufaktur absolviert und ist Mitglied beim »Syndikat« sowie bei den »Mörderischen Schwestern«. Durch ihren schwedischen Mann verbrachte die Autorin ab 2010 viel Zeit im Norden, sowohl in Stockholm als auch in Småland, lebte in Berlin und Schweden. Im März 2020 zog sie mit der Familie komplett nach Småland. In ihren Kriminalromanen verwebt die Autorin das skandinavische Flair und die schwedische Mentalität mit aktuellen umweltpolitischen Themen.
Kapitel 1
Freitag, 22. Juni
In gleichmäßigem Tempo tuckerte die Sjögull zwischen den Schäreninseln dahin, die an der Ostseeküste verstreut lagen, als hätte jemand eine Handvoll Brotkrumen ins Wasser geworfen. Manche waren unbewohnt und bestanden lediglich aus einigen kargen Felsen, auf anderen gab es Anlegestege, und rote, weiße, gelbe Holzhäuser leuchteten um die Wette.
Entspannt glitten Mayas Augen über die Wasseroberfläche, auf der sich das gleißende Licht in hunderttausend schillernde Silberflecken brach. Das Wetter war, wie es sich zu Mittsommer gehörte: strahlender Sonnenschein, der Himmel blank geputzt und leuchtend blau. Über ihnen kreischten die Möwen, und eine sanfte Brise umschmeichelte Maya.
So angenehm, doch zugleich eine Gefahr, die auf leisen Sohlen daherkam und die sie nicht nur einmal unterschätzt hatte. Das Ergebnis war purpurrote brennende und sich schälende Haut gewesen. Vielleicht hätte sie statt des Spaghettiträgertops lieber ein T-Shirt gewählt. Maya kramte in ihrer Umhängetasche nach der Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor fünfzig. Sie schob die Sonnenbrille ins Haar und verteilte die Creme großzügig auf Schultern, Armen, Dekolleté und Gesicht. Mit ihrem hellen Teint musste sie höllisch aufpassen, insbesondere auf dem Wasser.
Sie verstaute die Tube, setzte die Brille wieder auf, lehnte sich auf der Bank zurück und nahm einen tiefen Atemzug der klaren, salzigen Luft. Eine wohltuende Leichtigkeit breitete sich in ihr aus, gepaart mit der Vorfreude auf die kommenden Tage. Die letzten Wochen waren extrem anstrengend gewesen, und es hatte sich ein Haufen Überstunden angesammelt. Als hätten sämtliche Verbrecher in ganz Stockholm vor den Sommerferien beschlossen, noch einmal alle Register zu ziehen. Aber jetzt hatte sie endlich Urlaub!
In einiger Entfernung glitt die Viking Line Cinderella vorbei, eines der riesigen Kreuzfahrtschiffe, die täglich von Stockholm nach Åland oder weiter nach Finnland fuhren. Maya warf einen Blick auf ihr Handy, es war kurz vor elf. Der größte Teil der dreieinhalbstündigen Überfahrt lag schon hinter ihnen. Gegen halb zwölf sollte die Sjögull laut Plan auf Svartlöga anlegen.
Am frühen Morgen war die Waxholm-Fähre in Stockholm gestartet, am Strömkajen zwischen Grand Hotel und Nationalmuseum. Zu Mittsommer verließ jeder die Hauptstadt, der ein Sommerhaus in den Schären besaß oder jemanden mit selbigem kannte. Am Anlegeplatz hatten sich Rucksäcke, Transportkisten, Koffer und prall gefüllte Einkaufstaschen gestapelt. Unterwegs hatten sie mehrere Male haltgemacht, und besonders in Furusund, dem letzten Festlandhafen, war noch mal ein ordentlicher Schwung an Sommergästen dazugekommen.
Träge beobachtete Maya zwei Möwen, die durch die Luft segelten. Gerade passierten sie Norröra, wo in den Sechzigerjahren die Saltkråkan-Filme gedreht worden waren. Nach wie vor konnten Astrid-Lindgren-Fans an Führungen auf der Insel teilnehmen und einige der Drehorte besuchen.
Ihre Augen wanderten weiter und entdeckten einen Vogelschwarm am Himmel, der sehr bestimmt Richtung Festland strebte. Die Tiere waren deutlich kleiner als Möwen, das mussten Singvögel sein. Aber so viele? Sie sahen aus wie eine dunkle Wolke. Mit einem Mal erwachte eine eigenartige Unruhe in Maya, die sie sich nicht erklären konnte.
Sie wandte den Blick vom Wasser ab und ließ ihn stattdessen über das vollbesetzte Deck schweifen. Vom Säugling bis zum Greis waren sämtliche Altersstufen vertreten. Auf der anderen Seite des Gangs hatte es sich eine Gruppe älterer Frauen in einheitlich gefärbtem Blond bequem gemacht. Noch ehe das Boot abgelegt hatte, veranstalteten sie ein üppiges Picknick, das sie aus ihren Rucksäcken hervorgezaubert hatten. Ungefähr die Hälfte von ihnen scrollte nun auf Tablets herum, während die übrigen sich mit ihrem Strickzeug beschäftigten.
Maya überlegte, ob sie in dreißig Jahren genauso mit ihren Freundinnen beisammensitzen würde. Wie würden sie dann wohl aussehen? Sicherlich würde Sanna immer noch edle Labels tragen, Emely indisch anmutende fließende Gewänder samt Ethnoschmuck und Clara ihre geliebten Reithosen. Doch wer wusste schon, was sich bis dahin womöglich alles änderte, was das Leben ihnen an Schicksalsschlägen vor die Füße werfen würde. Dass sie weiterhin so eng befreundet wären wie heutzutage, daran bestand für Maya jedenfalls nicht der geringste Zweifel.
Schräg gegenüber saß eine Familie mit einem kleinen Sohn. Der Junge hockte auf dem Schoß eines älteren Mannes, bestimmt der Opa. Mit seinem gepflegten, kurz geschnittenen grauen Bart, der silbernen runden Nickelbrille, dem gestreiften Hemd und einem Strohhut erinnerte er Maya an Hermann Hesse, den Lieblingsschriftsteller ihres Vaters. Unauffällig richtete sie ihr Handy auf ihn und drückte ab. Das Bild schickte sie per WhatsApp an ihren Vater. Hesse an Bord!, schrieb sie darunter. Er würde seinen Spaß daran haben.
An der Reling standen zwei Paare, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das eine, mittelalt, sah aus wie aus einem Museum für skurrile Typen entsprungen: Der hochgewachsene, hagere Mann mit dünnen, ausgefransten hellblonden Haarsträhnen trug einen weiß-rot geringelten Schlabberpulli zur roten Stoffhose. Seine deutlich kleinere und stämmige Partnerin, deren dicke hellbraune Mähne locker für beide gereicht hätte, besaß die gleiche Kombination in Blau-Weiß. Eng aneinandergekuschelt, wirkten sie wie frisch verliebte Teenager.
Das andere Paar war höchstens Ende zwanzig und hätte eins zu eins aus einem Modemagazin herauskopiert sein können: blond, schlank, sportlich gekleidet, den Blick aufs Wasser gerichtet. Allerdings machten sie keinen harmonischen Eindruck. Während der junge Mann ihr mal den Arm um die Schulter legte, mal nach ihrer Hand griff, stand seine Freundin nur da und zog ein verkniffenes Gesicht. Die beiden kamen Maya vor, als hätten sie dringend einen Streit beizulegen.
Als Kriminalinspektorin war sie es gewohnt, Menschen innerhalb weniger Minuten einzuordnen, ohne die entsprechenden Kategorien in Stein zu meißeln.
»Halte die Schubladen immer ein gutes Stück offen«, pflegte ihr erfahrener Partner Pär zu sagen. Ihrem Kollegen sah man nicht an, dass er mehr als zwanzig Jahre älter war als sie. »Gute Gene und Marathontraining«, gab er stets als Antwort, wenn er wieder einmal in erstaunte Augen schaute, nachdem man ihn auf maximal Ende vierzig geschätzt hatte.
Aus ihrer Umhängetasche holte Maya die Tageszeitung hervor, die sie heute früh auf dem Weg zur Fähre gekauft hatte. Die erste seit Ewigkeiten, normalerweise scrollte sie sich auf ihrem Handy durch die Nachrichtenseiten. Mal was anderes im Urlaub, hatte sie gedacht, schließlich wollte sie sich im Digital Detox üben. Flüchtig las sie die Schlagzeilen, als ihre Augen an einem kurzen Artikel hängen blieben. Die Polizei suchte eine als vermisst gemeldete Frau und bat die Bevölkerung um Mithilfe. Die Anzeige musste ganz frisch reingekommen sein, Maya wusste noch nichts davon. Sie überflog die Zeilen, es ging um eine Schwedin, die vor Jahren nach Indien gezogen und nun zu Besuch in ihrer Heimat war. Ehemalige Nachbarn hatten ihr eine leer stehende Wohnung zur Verfügung gestellt und erst Monate später gemerkt, dass sie offenbar verschwunden war. Maya betrachtete das herzförmige Gesicht auf dem beigefügten Foto. Obwohl die Frau lächelte, verliehen die Stirnfalten ihr etwas Sorgenvolles. Entschlossen faltete Maya die Zeitung zusammen und packte sie weg. Im Urlaub wollte sie keine Fälle an sich heranlassen, das hatte sie sich geschworen.
Stattdessen griff sie nach dem Notizbuch, das neben ihr auf dem Tisch lag, schlug es auf und senkte den Kopf. Ihr erstes Tagebuch seit gut zwei Jahrzehnten.
Im Winter hatten Pär und sie einen verzwickten Fall in Östersund gelöst, über fünfhundert Kilometer nördlich von Stockholm. Einer von jenen auswärtigen Einsätzen, zu denen ihr Chef Lasse sie als Ermittlungsteam manchmal schickte. Dort hatte Maya Frida kennengelernt, ein neunjähriges Mädchen, das eine wichtige Rolle in dem Fall gespielt hatte. Zu Frida hatte sie eine besondere Verbindung gespürt, und zum Abschied hatte Maya ihr ein Tagebuch geschenkt.
Inzwischen waren Frida und ihre Mutter Annika nach Mönsterås gezogen, keine Stunde von Mayas Elternhaus entfernt. An Ostern hatte Maya die beiden besucht und zu ihrer Freude festgestellt, dass Frida die Sache mit dem Tagebuch ernst nahm.
»Schreibst du auch Tagebuch?«, hatte Frida sie gefragt und ganz enttäuscht ausgesehen, als Maya verneint hatte. »Warum nicht?«
Maya hatte das »Keine Zeit«, das ihr auf der Zunge lag, heruntergeschluckt, denn nur zu gut hatte sie Emelys Worte im Ohr: »Ich habe keine Zeit heißt nichts anderes als ich nehme mir dafür keine Zeit.« Stattdessen hatte sie Frida angelächelt und gesagt: »Du hast recht. Ich sollte wieder damit anfangen.«
In der darauffolgenden Woche hatte Maya sich ein Notizbuch mit einem flaschengrünen Ledereinband gekauft, welches bis heute unbenutzt auf dem weißen...
Erscheint lt. Verlag | 7.10.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Maya Topelius | Ein Fall für Maya Topelius |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Camilla Läckberg • Ermittlerkrimi • Geschenk • Leiche • Mittsommer • Mord • Mordermittlung • neuerscheinung 2024 • Retreat • Schären • Schwedenkrimi • Sommer • Sonne • spannend • Spannung • Südschweden • Urlaubskrimi • Viveca Sten • weibliche Ermittler • Yoga |
ISBN-10 | 3-8437-3203-5 / 3843732035 |
ISBN-13 | 978-3-8437-3203-1 / 9783843732031 |
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