Über allem ein weiter Himmel (eBook)

Nachrichten aus Europa
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2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01722-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über allem ein weiter Himmel -  Matthias Nawrat
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Matthias Nawrat ist ein ausgewiesener Kenner der Literaturen und Landschaften des östlichen Europas. In seinem Band Über allem ein weiter Himmel finden Reisetagebuch und autobiografischer Essay zu einer neuen Verbindung. Der Reisende sammelt Ansichten und Einsichten, erzählt von Begegnungen, zeichnet Porträts von Städten, Menschen und Erfahrungswelten. Er führt uns unter anderem ins polnische Opole, von wo seine Familie in den 1980er-Jahren emigrierte, zur Danziger Werft als dem Ursprungsort der Solidarno??-Revolution, nach Warschau und Masuren, nach Budapest und ins rumänische Hinterland, ins mazedonische Skopje und nach Slowenien, nach Minsk und bis hinter den Ural. Kurz: in die Zentren und an die Ränder des post-kommunistischen Raums.  Eine Lektüre, die angesichts der aktuellen geopolitischen Lage besondere Dringlichkeit entwickelt und uns neue Erkenntnisse bringen kann.

Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; «Unternehmer» (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. «Der traurige Gast» (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. «Reise nach Maine» (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband «Gebete für meine Vorfahren» (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin.

Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; «Unternehmer» (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. «Der traurige Gast» (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. «Reise nach Maine» (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband «Gebete für meine Vorfahren» (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin.

Teil 1 Das alte Europa


Kołczewo–Gdańsk–Karwica–Lublin (2013)


Kołczewo, 4. August. Ich habe ein Recherche-Stipendium für die Arbeit an meinem neuen Roman zugesprochen bekommen. Für einen Teil des Geldes habe ich ein Auto gekauft, einen alten Passat Kombi.

Das Buch Reisen in die Ukraine und nach Russland von Joseph Roth, das ich vor Kurzem gelesen habe, beginnt mit dem Text Nachrichten aus dem Osten. Roth bereiste in den 1920er-Jahren als Journalist für die Neue Berliner Zeitung und die Frankfurter Zeitung einen Teil Europas, aus dem er selbst stammte (er war in Ostgalizien geboren und aufgewachsen). Wie dachte, was wusste man damals über Europa? Während wir mit dem Auto die polnische Grenze überqueren, von Deutschland kommend, frage ich mich: Was weiß ich heute?

 

 

5. August. Wir haben ein Zimmer in einer alten Mühle in dem kleinen Ort Kołczewo in der Nähe der Küste gefunden, nicht weit hinter der Grenze, circa eine Stunde von Stettin entfernt. Es wohnt noch eine Familie mit zwei Jungen hier, die im Garten Federball spielen, auf einer Tafel stehen mit weißer und violetter Kreide die Vornamen Stasio und Antek gekritzelt, von einer senkrechten Linie getrennt.

Die Wirtin zeigt uns das freie Zimmer. Schön, sagt sie. Oder?

An einer Wand, die von einem Balken geteilt wird, hängt ein offenbar selbst gefertigtes Gemälde: ein Garten, an einem Baum wachsen Weintrauben, im Zentrum steht eine Vogeltränke auf einem säulenartigen Podest. Ein Vogel ist auf dem Rand gelandet und senkt seinen Schnabel ins Wasser.

 

Schon als ich am Abend versuche, über meinen Roman nachzudenken, stelle ich fest, dass die Arbeit daran wahrscheinlich bis nach der Reise wird warten müssen. Es ist ein Gefühl, das ich immer habe, sobald ich mich in diesem Land aufhalte – etwas schiebt sich vor die Fiktion. Etwas an dem geografischen Raum, in dem ich mich befinde, fängt an, zu mir zu sprechen.

L. und ich sind kurz vor dem Abendessen noch spazieren gewesen. Wir gingen über einen Feldweg, von beiden Seiten hörte man aus der Wiese das Zirpen der Grillen. Ein seltsam schief stehender Strommast ragte in den Himmel, auf der Leitung saßen Dutzende Spatzen. Über dem Ort öffnen sich die künstlich geformten Wiesen eines Golfplatzes. Der Kiefernwald, der das Gelände begrenzt, schaut aus wie in Deutschland, ebenso die Häuser im Ortskern, in den wir kurz darauf zurückkehrten, und die alten roten Backsteinscheunen. In einem Hof parkte ein silberner Renault Clio. Mitten in der Einfahrt lag ein Kinderfahrrad, unter einem Baum stand ein Trampolin mit Sicherheitsnetz.

 

 

6. August. Am frühen Vormittag kommt die Schwester der Wirtin zu Besuch, sie stellt sich als Jola vor und spricht mit L. sofort auf Englisch, denn sie lebt, wie sich herausstellt, seit dreißig Jahren in Toronto. Später höre ich von unseren Sesseln im Garten aus ein Gespräch zwischen den Schwestern auf der Veranda mit. Die Schwester der Wirtin beschwert sich über die Trinker in Świnoujście. Sie kommt zwei Mal im Jahr aus Toronto nach Kołczewo, um die kranke Mutter zu besuchen.

Świnoujście habe sich sehr gemausert, sagt sie, die neuen Fahrradwege führten bis nach Deutschland, direkt am Meer entlang, aber die Trinkerinnen und Trinker seien nicht verschwunden, es werde auf die Straße gespuckt, schrecklich. Und seit Neustem würden die Leute überall ihren Müll abladen, sie würden mit dem Auto in ein Wäldchen fahren, anhalten und ihren Müll aus dem Kofferraum in die Natur werfen.

Das sei doch überall auf der Welt so, sagt die Mutter der zwei kleinen Jungs, die am Nebentisch auf der Veranda sitzt. Und es sei früher noch schlimmer gewesen.

Was machen Sie da eigentlich, fragt mich die Wirtin und deutet auf mein Notizbuch und die Bücher vor uns auf dem Tisch. Als ich sage, dass ich schreibe, richtet sie sich auf, drückt den Rücken durch. Was ich denn schreiben würde, fragt sie.

 

Am Mittag ist die Tante der beiden Schwestern zu Besuch, sie ist Künstlerin. L. und ich sitzen oben im Zimmer und lesen, die Stimmen der Wirtin und der Tante dringen durch das ganze Haus, aber man kann kein Wort verstehen. Sie sprechen ohne Pause, Besteck klirrt. Als wir an ihnen vorüber die Treppe hinaufgegangen sind, hob die Wirtin eine Colaflasche in die Höhe und bot uns davon an.

 

Wir sind mit dem Auto nach Międzywodzie gefahren, in die Ulica Szkolna, wo die sozialistische Feriensiedlung stand, an die ich mich so klar erinnere, als wäre meine Kindheit erst gestern vorbeigegangen. Ich habe die Gebäude nicht wiedererkannt (obwohl, irgendwie doch – ist es ein anderes Hauptgebäude, das aber dem alten sehr genau nachempfunden wurde?). Dafür erkannte ich sofort den Weg zum Strand, den ich als Kind in den Sommerferien jeden Tag entlanggegangen war.

Später, zurück im Ort, ein Gewitter. Alles rennt mit Luftmatratzen über dem Kopf, das Klatschen von Flipflops gegen die Fersen und auf den Asphalt, wir retten uns in die Pizzeria Riviera unter ein Vordach aus durchsichtiger Plane. Draußen werden die Stände mit den Schwimmreifen, mit Kebab, mit Waffeln zusammengepackt. (An diese Waffeln erinnere ich mich sehr deutlich, an den unendlich herrlichen Duft frischer, noch warmer Waffeln. Und auch an den Geruch aus den Fischbratereien.)

Aller Ferienspaß ist hier konzentriert auf drei oder vier Sträßchen, in denen sich eine Holzbude an die nächste reiht. Dazwischen ein Karussell, eine Autoscooter-Bahn, Flipperkästen.

Was von außen wie ein echtes Restaurant aussah, entpuppt sich im Inneren ebenso als Holzbude. Der Boden ist aus Holzbrettern gebaut, ein Fuß meines Stuhls bleibt in einem Spalt stecken, ich schaffe es gerade noch, nach einem Balken zu greifen.

 

 

7. August. Die Wirtin hat eine seltsame Melodie in der Stimme, wenn sie mit uns spricht. Als seien wir Kinder. Sie spricht über die Dinge, als wären sie schlimm, aber nur für uns, in Wahrheit aber nur halb so schlimm.

 

Die Mühle ist ein Haus aus rotem Backstein, im Inneren durchzogen von einem Netz aus Holzbalken. Eine Seite des Gebäudes ist noch nicht renoviert, es fehlen die Fensterscheiben, die Fensteröffnungen sind mit grauen Planen zugehängt. Das Mühlrad ist abmontiert, aber im ersten Stock, im Flur vor unserem Zimmer, ist an der Wand zum Garten der Ansatz des Drehmechanismus als renoviertes antikes Stück zu bewundern, die Schraube ist so dick wie mein Oberkörper.

Im ersten Stock hängen in einem goldenen Bilderrahmen auf dunkelrotem Hintergrund etwa zwei Dutzend Schwarz-Weiß-Fotografien, die Grüppchen von Leuten mit Kindern zeigen, beispielsweise vor einem Haus in den Bergen oder in einem Garten. Unter den Bildern steht Oma Jakusiewicz in Cieplice, Schlesien. Oder: Jola in Karpacz. Schon am ersten Tag ging von diesen Fotos eine seltsame Anziehung auf mich aus.

Eine der Fotografien zeigt den ersten Staatspräsidenten Polens nach dem Krieg, Bolesław Bierut, im nahe gelegenen Küstenkurort Międzyzdroje, in einem hellen Anzug und mit seinem charakteristischen Oberlippenbärtchen. Er steht mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor einer Gruppe herausgeputzter Jugendlicher, offenbar erklären sie ihm etwas, denn es scheint, als wäre er gerade dabei, beeindruckt zu nicken. Im Hintergrund ist ein weißes Holzhaus zu sehen, möglicherweise zu einer Schiffsanlegestelle gehörend. Bierut hat einen höchst aufmerksamen Gesichtsausdruck, als Generalsekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei hört er sich die Sorgen der jungen Leute sehr genau an.

Auf einem anderen Foto ist die Skyline von New York zu erkennen. Im Vordergrund, diesseits des East River, stehen Automobile in einer Schlange vor einer Dampffähre, die gerade an- oder ablegt. Die Silhouette auf der anderen Flussseite ist ungewohnt, vielleicht stehen dort weniger Gebäude als heute? Das Empire State Building ist zu sehen und das Chrysler Building, aber die Gebäude liegen unvertraut weit auseinander, das Bild der Skyline unterscheidet sich von demjenigen, das ich von meiner letzten New-York-Reise vor drei Jahren in Erinnerung habe, durch die Weite der Lücken zwischen den einzelnen Wolkenkratzern, durch die fehlende Kompaktheit der Gesamtanordnung. Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, dass auf diesem Foto, unter dem keine Bildunterschrift zu finden ist, wie in der heutigen Skyline der Stadt die Zwillingstürme fehlen – sie waren damals noch nicht gebaut. Ein gespenstischer Moment. Beim Betrachten der Aufnahme inmitten der Familienbilder frage ich mich sofort, wann und vor allem von wem sie gemacht worden ist, ob es sich um eine Urlaubsreise von jemandem aus der Familie gehandelt hat oder ob ein Familienangehöriger der Wirtin in die Stadt ausgewandert ist. Ob seine Nachkommen vielleicht noch heute in Greenpoint oder einem der anderen von polnischen Auswanderinnen und Auswanderern bewohnten Stadtteile...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2024
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte autobiografischer Essay • Autofiktion • Biografie • Biographie • Budapest • Danzig • Deutsche Literatur • Deutschsprachige Literatur • Erzählendes Sachbuch • Essay • Europa • Gegenwartsliteratur • Gesellschaft • Literatur Polen • Nowosibirsk • Osteuropa • Polnische Literatur • polnische Wurzeln • Postkommunismus • Reisebericht • Reise durch Masuren • Reise nach Budapest • Reisetagebuch • Transformation • Warschau • Zeitgenössische Literatur • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-01722-0 / 3644017220
ISBN-13 978-3-644-01722-1 / 9783644017221
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