Memoria (eBook)

Thriller | Wem gehört deine Erinnerung? | Rasant und erschreckend aktuell

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1., Originalausgabe
281 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77428-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Memoria - Zoë Beck
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Ein Sommer in naher Zukunft. Harriet wird von Erinnerungen heimgesucht, die ihr vollkommen fremd vorkommen. Nach und nach tauchen immer mehr Bruchstücke auf, und Harriet muss sich eingestehen, dass das, was sie bislang für ihr Leben hielt, vielleicht niemals so stattgefunden hat.

Harriet stand einmal vor einer Karriere als Konzertpianistin, bis eine scheinbar harmlose Operation an der Hand ihren großen Traum zerstörte. Zumindest ist es das, was sie bisher glaubte. Aber seit sie eine Frau vor einem Waldbrand gerettet hat, wird sie von seltsamen Erinnerungen geplagt: Szenen, die aus einem anderen Leben zu stammen scheinen - und immer wieder Bilder von Gewalt, die sie selbst ausübt ...

Harriet zweifelt an ihrem Verstand und begibt sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit. Doch damit scheint sie etwas loszutreten, das sie nicht mehr kontrollieren kann, und mit jeder verborgenen Erinnerung, die zurückkehrt, kommt sie einer gefährlichen Wahrheit bedrohlich nahe ...

Nach ihrem preisgekrönten Bestseller Paradise City entwirft Zo? Beck eine neue erschreckend aktuelle Zukunftsvision: Wie zuverlässig sind unsere Erinnerungen? Was machen sie mit uns? Und wer bestimmt, was wir vergessen dürfen?



<p>Zo&euml; Beck, geboren 1975, ist Schriftstellerin, &Uuml;bersetzerin (u. a. Amanda Lee Koe und James Grady), Verlegerin (CulturBooks) und Synchronregisseurin f&uuml;r Film und Fernsehen. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Zo&euml; Beck z&auml;hlt zu den wichtigsten deutschen Krimiautor*innen und wurde mit zahlreichen Preisen, unter anderem mit dem Friedrich-Glauser-Preis, dem Radio-Bremen-Krimipreis und dem Deutschen Krimipreis, ausgezeichnet. <em>Edvard</em> ist ihr erstes Jugendbuch.</p>

1


Der Zug hält auf offener Strecke, was nichts Außergewöhnliches ist. Das etwa dreihundert Meter von den Gleisen entfernte Waldstück brennt, ebenfalls nicht außergewöhnlich. Unklar ist nur, ob es einen Zusammenhang gibt.

Es ertönt eine automatische Durchsage mit der Bitte um Geduld, man möge die Türen geschlossen halten. Harriet hat genügend Zeit eingeplant, selbst eine zweistündige Verspätung könnte sie wegstecken. Sie plant meistens sehr viel Zeit ein, auch kurze Entfernungen sind unberechenbar. Als sie das letzte Mal mit dem Zug stehenblieb, hatte sich jemand in die Steuerung gehackt und alles lahmgelegt. Nicht zum ersten Mal. Aber üblicherweise hält ein Zug, wenn etwas auf den Gleisen liegt oder in der Oberleitung hängt oder der Strom ausgefallen ist oder eine Böschung brennt.

Die nächste Durchsage ist nicht von einer KI-Stimme. Es wird vorgeschlagen, den Zug zu verlassen und sich ein wenig die Beine zu vertreten, die Verzögerung sei nicht genau einzuschätzen, es handele sich aber um eine massive Störung im Gleisbett aufgrund eines großflächigen Waldbrands, dessen Ausläufer durch die Fenster zu sehen seien. Die körperlose Stimme gerät ins Plaudern: Sehr schnell habe sich das Feuer ausgebreitet, und nun gelte es, ein Seniorenwohnheim in unmittelbarer Nähe zu evakuieren, weshalb sich erst später um die Gleise gekümmert werden könne.

Beim Öffnen der Türen ist es, als würde man gegen eine Wand laufen, die Nachmittagshitze schlägt gegen die kalte, klimatisierte Luft, und der Brandgeruch kriecht nach wenigen Sekunden in jeden einzelnen Wagon. Die Ersten steigen aus, darunter auch Harriet, um sich nach dem Seniorenwohnheim umzusehen, und tatsächlich, schaut man in Richtung Zugende, ist ein großer Gebäudekomplex zu sehen, davor mehrere Busse, die Evakuierung scheint in vollem Gange. Harriets Mitreisende holen ihre Telefone raus, zoomen so nah wie möglich heran, einige entfernen sich vom Zug und lassen sich von Langeweile und Sensationslust über das Feld treiben. Das Feuer breitet sich durch einen zwar leichten, aber beständigen Wind aus westlicher Richtung schnell aus, die Löschfahrzeuge, Räumpanzer und Hubschrauber sind vielleicht einen Kilometer von dem Wohnheim entfernt, und Harriet denkt, dass es aussieht, als würde man mit Wasserpistolen versuchen, einen Scheiterhaufen zu löschen.

Sie dreht sich um, viele sind im Zug geblieben. Einige Frauen vom Zugpersonal stehen draußen, sie haben ihre Fächer aufgespannt, und es wirkt aus der Entfernung, als würden riesige Schmetterlinge vor ihren Gesichtern flattern. Ein kleines Grüppchen breitet eine Decke auf dem Feld aus und setzt sich hin, zwei Personen öffnen ihre Sonnenschirme. Die deutlich größere Gruppe, die sich zum Seniorenwohnheim aufgemacht hat, ist auf halbem Weg stehengeblieben, das Feuer hat den Gebäudekomplex nun bis auf wenige hundert Meter erreicht, die ersten Busse sind mit Bewohnern weggefahren.

Jemand schlägt Harriet vor, ebenfalls näher ranzugehen, vielleicht könne man helfen. Natürlich meint er nicht helfen, sondern gaffen, aber es gibt sonst nichts zu tun. Außer im Zug zu sitzen. Oder draußen herumzusitzen und in der Hitze kaputtzugehen. Lustlos schließt sie sich ihm an, er sammelt noch weitere verstreute Leute auf dem Weg über das ausgetrocknete, abgeerntete Erdbeerfeld ein. Der Wind frischt auf, und sie hält mit beiden Händen den Sonnenhut fest, damit er nicht wegfliegt.

Das Seniorenwohnheim dürfte sich selbst wohl Residenz nennen und besteht in der Hauptsache aus einem hufeisenförmigen, fünfgeschossigen weißen Gebäude mit flachem Dach und kleinen Balkonen, an denen bunt bepflanzte Blumenkästen hängen. Rechts neben dem Wohnhaus steht ein stilistisch dazu passender quadratischer Bau. Vor dem Hufeisen befindet sich ein eingeschossiges, langgezogenes Gebäude, ein überdachter Weg verbindet es mit dem Rest. Der Speisesaal oder eine Art Mehrzweckhalle, vermutet Harriet. Davor parkt die Busschlange. Je näher sie kommen, desto lauter wird das Knacken des Feuers, desto stickiger die Luft. Vereinzelte Stimmen sind zu hören, ängstliches Rufen, die alten Leute drängen sich im Hof in kleinen Rudeln aneinander, Satzfetzen wehen herüber: Ruhe bewahren, es ist genug Platz für alle in den Bussen, niemand bleibt zurück, die Koffer bitte abstellen, es wird sich um alles gekümmert. Und wieder: Ruhe bewahren. Die Angst der Alten lässt sich über das Erdbeerfeld hinweg greifen. Auf Harriet wirkt die Evakuierung strukturiert und durchdacht. Die brauchen keine Hilfe, denkt sie, sagt aber nichts, weil sich das Tempo ihrer unbekannten Gefährten ohnehin verlangsamt, bis sie alle stehenbleiben. Wieder wird gefilmt und fotografiert, ihr ist es peinlich danebenzustehen, und so entfernt sie sich in die Richtung, aus der das Feuer immer näher kommt. Sie hört noch, wie jemand ruft, ob Hilfe benötigt wird, und von den Bussen ertönt ein kräftiges Nein, während die Stimmen der Alten wie Bienen in einem Schwarm durcheinandersurren. Der nächste Bus setzt sich in Bewegung, zwei weitere warten noch darauf, voll besetzt und bepackt zu werden. Auch eine Evakuierung will ordentlich durchgeführt sein. Erst recht, wenn es sich um eine so offensichtlich hochpreisige Seniorenresidenz wie diese handelt. Nichts, was sich Harriet leisten könnte – sollte sie überhaupt jemals so alt werden. So lange zu leben, müsste man sich auch erst leisten können.

Gerade fährt der vorletzte Bus weg, sie sieht es nicht, hört nur, dass darüber gesprochen wird. Das Feuer hat sich längst bis in die Baumkronen hinaufgefressen, deshalb breitet es sich so schnell aus. Wieder scheint es einen Sprung näher an die Seniorenresidenz gemacht zu haben. Sie glaubt, die Hitze spüren zu können, über achthundert Grad hat so ein Feuer, und die Luft wird immer stickiger. Harriet zieht eine Staubmaske aus der Tasche. So oft, wie es im Sommer brennt, lohnt es sich, immer welche dabei zu haben. Die ersten Passagiere gehen bereits zurück, der Zug bietet Schutz vor dem Rauch für diejenigen, die keine Masken dabeihaben. Jemand ruft Harriet etwas zu, gibt ihr zu verstehen, dass man noch warten will, bis der letzte Bus abgefahren ist. Sie dreht sich zu der Person um, kann nicht viel von ihr erkennen, weil ihr Gesicht von einem roten Sonnenschirm verdeckt wird, darunter ebenfalls rote Leinenbekleidung.

Harriet nickt und winkt zum Zeichen, dass sie verstanden hat, bleibt noch unschlüssig stehen, weil sie nicht weiß, ob sie allein zum Zug gehen oder sich zu den anderen gesellen soll. Also nimmt sie ihren Rucksack ab, stellt ihn auf den staubigen Boden, nimmt ihre Trinkflasche raus. Lässt sie wieder sinken, bevor sie sie auch nur aufgeschraubt hat. Da ist dieses schmale Haus direkt am Waldrand, ganz unscheinbar und durch Büsche verdeckt. Es befindet sich nicht weit von der Seniorenresidenz entfernt, ist aber näher dran an der sich voranfressenden Feuerwand. Und Harriet sieht, wie sich hinter den geschlossenen Fenstern etwas bewegt, wie jemand winkt. Harriet zieht den Rucksack wieder auf, geht auf das Haus zu, beschleunigt, bemerkt im Laufen, wie die Person mit Fäusten auf die Fensterscheiben einschlägt. Dann nicht mehr nur mit den Fäusten, sondern mit einem Gegenstand, vielleicht einem Stuhl, und Harriet wundert sich, dass das Glas so viel aushält. Sie winkt der Person zu. Im Laufen dreht sie sich um, ruft, dass hier drüben Hilfe benötigt wird, und zwei oder drei setzen sich nun ebenfalls in Bewegung, auf das Haus zu. Im Laufen verliert Harriet den Sonnenhut, dreht sich aber nicht einmal nach ihm um.

Es ist ein zweigeschossiges, grün gestrichenes Holzhaus, daneben steht ein breiter Schuppen. Ein Feldweg führt zu dem Grundstück, auf dem amerikanische Eichen und Ahornbäume wachsen, hohe Johannis- und Brombeersträucher und ein paar Heckenrosen grenzen es zum Feld hin ab. So nah am Waldrand lässt die heiße Luft sich kaum atmen. Harriet bleibt vor den Sträuchern stehen, sieht sich um, drei Leute sind auf dem Weg zu ihr. Sie nimmt den Rucksack ab, kippt Wasser aus ihrer Flasche über ein Tuch, das sie sich manchmal als Sonnenschutz um Kopf und Schultern legt, nimmt die Maske ab und bindet es sich über Mund und Nase. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie, dass die anderen aufholen, während sie sich durch die Sträucher schlägt und auf die Haustür zu rennt.

Sie erkennt, dass es sich bei der Person in dem Häuschen um eine ältere Frau handelt. Sie winkt ihr, ruft, sie solle zur Tür...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
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ISBN-10 3-518-77428-X / 351877428X
ISBN-13 978-3-518-77428-1 / 9783518774281
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