294 Tage in Griechenland (eBook)
470 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-6847-4 (ISBN)
Gerd Lepic, freiberuflicher Maler und Autor, Kunsterzieher und Psychotherapeut studierte in Würzburg und Berlin u.a. Psychologie, Philosophie und Kunstpädagogik. Nach Promotion und Approbation gründete er in Oberbayern ein Atelier mit eigener Malschule.
Teil II
Skáloma, Kórinthosiakó Kólpo, Dytikí Elláda
Lávrio, Attikí
Selínitsa, Messinías, Dytikí Máni
Samstag, 16. November 2019
Skáloma, Efpálio, Fokída
Erschüttert haben wir noch in Tirana në Shqipëri, Albanien vom Tod unseres Maler-Freundes Daniel Eltinger erfahren. Er ist jung von uns gegangen, in der Ferne der oberbayerischen Wahl-Heimat. In der letzten Zeit hatte er sich mit mir oft über Versuche ausgetauscht, eine literarische Charakterisierung seiner Kunst der inversiven Malerei zu schreiben. André Bretons Manifeste des Surrealismus, die er zu diesem Zweck von mir entliehen hatte, nahm ich nach unserem letzten Treffen mit auf die Weiterreise durch Europa. Beim Lesen in diesem Spiegel werden wir beide uns nicht aus den Augen verlieren.
Bis zum vergangenen Mittwoch war ich gemeinsam mit Uta für Clowns ohne Grenzen in Albanien unterwegs. Wir spielten in Kinderheimen und Tagesstätten für Roma, die wie viele der Flüchtenden, die es gerade noch lebend bis über die europäischen Außengrenzen schafften, bei jedem Wetter in Zelten leben müssen. Schließlich haben wir unsere Show noch in einer Wohngruppe für befreite, und dort sicher versteckte ehemalige Sklavinnen aufgeführt. Die Wochen in Albanien haben uns berührt, körperlich und mental gefordert.
Am Donnerstag nahm ich mir endlich Zeit, den Maler Jeton Ciri in der Rruga Budi zu besuchen. Er betreibt in Tirana eine Produzentengalerie. Da wir in der Nähe wohnten, bin ich auf den Hundespaziergängen mit Coco öfter bei ihm vorbeigekommen, habe seine Bilder betrachtet, wir grüßten uns. Dann fand ich endlich die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Wie viele Kollegen versucht auch er Bilder herzustellen, die sich verkaufen lassen, dekorative Blumenstilleben oder idyllische Landschaften. Daneben aber arbeitet er als Künstler, erfindet Eigenes, Bilder mit unverwechselbarer Handschrift, voller Geheimnisse und Symbolkraft. Inmitten der Clowns-Arbeiten hatte ich in den vergangenen Wochen nur Zeit für schnelle Skizzen gefunden.
Am Freitagmorgen fuhren wir los, durchquerten die verdreckten Ballungszentren um Tirana und Durrës, die mit den zwischen Müll, Beton und Schutt gesetzten Palmen an die Côte d’Azur erinnern, wie ich sie im Winter vor 36 Jahren erstmals sah. Bei diesem, mir noch immer vertrauten Anblick, erinnere ich einen internet-Artikel, in dem ein Reiseveranstalter das „kristallklare Wasser“ und die „unberührten Strände“ Albaniens anpreist. De facto handelt dieser Text von Anachronismen, Erfahrungsbildern aus vorindustriellen Zeiten. Selbst der bescheidenste Straßenhändler verpackt in Albanien heute seine Ware in Plastiktüten. Ich sehe nicht, wie sich die Umwelt ohne Müllvermeidung, und -entsorgung und die Inbetriebnahme von Kläranlagen erholen könnte.
Im Laufe unserer Fahrt in Richtung Süden aber gelang es der imposanten Landschaft die Zivilisation zu dominieren - mit jedem Kilometer in Richtung der griechischen Grenze ein wenig stärker, besonders sichtbar in den Gebirgen bis Gjirokastra. Wie auch Berat in Mittelalbanien beherbergt diese Stadt zudem Häuser aus früheren Jahrhunderten, eine Seltenheit in den Zentren dieses von kommunistischer wie kapitalistischer Ausbeutung gleichermaßen gezeichneten Landes. Zwischen den bunten Abfällen ihrer Konsum-Verpackungen und grauen Betonresten, die die Menschen auch hier überall hinterlassen, stehen noch zahlreiche Bauwerke aus osmanischer Zeit, teilweise aus dem 18. Jahrhundert. Viele von ihnen sind verlassen und verfallen, es werden aber sichtbare Anstrengungen unternommen, einen Teil der Altstadt zu retten. In den Gassen begegneten uns Schulklassen auf ihrem Weg zum Waffenmuseum in der alten Burgruine. Seit wenigen Jahren boomt hier der Tourismus. Das Basar-Viertel bot auch jetzt im Spätherbst neben allerlei Balkan-Nippes eine reiche gastronomische Auswahl. Nach einem guten türkischen Kaffee genossen wir in Defrim Gjocas winzigem Restaurant ein vorzügliches Abendessen mit feinen kleinen Leckereien voller würziger Geheimnisse.
Coco, die treue Gefährtin, teilte mit uns das gemütliche Zimmer über den Steindächern der Ruinenstadt. Um ein Uhr, und dann endgültig gegen Sechs, weckte sie mich mit Knurren und Bellen. Viele verwilderte Hunde streifen nachts umher an diesem wundersamen Ort. Barfuß betrat ich den knarrenden Holzboden. Belegt mit geometrisch gemusterten Teppichen fügte er sich ästhetisch in das frisch renovierte Ensemble aus Steinmauern, dunkel gebeizten Hölzern und hohen Fenstern. Mein Blick schweifte über das noch nächtliche Grau dieser alten, fast vollständig verlassenen Gebirgsstadt. Im klaren Bewusstsein, dass außerhalb meines Gesichtsfeldes in den Vierteln der Neustadt in diesem Augenblick abertausende Menschen in ihren Betten liegen, zusammengerollt in den Betonkuben der in die Hänge hineingegossenen Bunkeranlagen, haftete mein Blick trotzig an diesem Fossil einer wohlgestalteten, archaisch anmutenden Architektur.
Im Parterre erwartete Uta und mich später ein fast schon griechisches Frühstück – neben Honig und Joghurt stand auch Schafskäse auf dem groben Tisch! Dann rumpelte unser roter Citan, vollgepackt wie ein Ei, Gjirokastras steile Gassen bergabwärts. Uta nahm sicher Kurve um Kurve, bis wir einen Ausgang aus dem Labyrinth fanden und auf der Hauptstraße landeten. Von hier aus legten wir noch 34 Kilometer durch Wald und Bergtäler zurück, bis die Grenzstation in Sicht kam.
Hier warteten wir nur eine viertel Stunde und verfolgten gespannt, wie ein ebenfalls aus Albanien herangefahrener Reisebus vor unseren Augen komplett geleert wurde. Die Passagiere trugen alle ihre Gepäckstücke zu Fuß hinüber in eine blecherne Halle, wo Kontrollen durchgeführt wurden. Der Inhalt unseres Fahrzeuges dagegen interessierte niemanden. Unsere Dokumente wurden nur oberflächlich überflogen. Bevor wir nach Albanien einreisten, hatten wir viel Zeit, Geld und Nerven investiert, um für Coco noch rechtzeitig die notwendigen Papiere zu besorgen, die wir bei der Wiedereinreise in die Europäische Union benötigen würden. In Sichtweite der auf dicken Bündeln sitzenden Busgäste wurden wir uns wieder einmal schlagartig der weitreichenden Privilegien bewusst, die wir als deutsche Staatsbürger genießen dürfen – ohne eigenes Zutun.
Erleichtert rollten wir hinüber nach Griechenland, der philosophischen und historischen Wiege Europas. Alles ist hier anders und immer anders, immer neu, wie alles, was man jemals geliebt hat. Umgeben von grünen Hängen legten wir Kilometer um Kilometer zurück und fanden kaum noch Müllspuren neben der Fahrbahn.
Bald durchreisten wir Epirus und erreichten nach wenigen Stunden den Ambrakischen Golf bei Àrta am Ionischen Meer. Hier beginnt Westgriechenland und die über viele Kilometer ausgreifende Mündung des mächtigen Flusses Achelóos, benannt nach dem ältesten Flussgott der griechischen Mythologie. Am Nachmittag dann kam die spektakuläre Brücke Géfyra Ríou-Andirríou in Sicht, ein auf schwimmenden Pfeilern ruhendes Monument, das griechische Festland mit der Peloponnes verbindend. Nur wenige Kilometer nach Osten, durch die Sträßchen der alten Stadt Náfpaktos, dann entlang der Ufer des Kolpos, des Golfs von Kórinthos, und wir erreichten unser Ziel. Vorbei an zwei dürren Hunden, die bäuchlings hingestreckt vor einem Müllcontainer auf Nachschub warteten, schlängelten wir uns zwei enge Kurvenwindungen hinunter bis zu einer stillen Kapelle am Meeresufer.
Hier beginnt der kurze Halbmondstrand von Skáloma, unter seinen feinen Kieseln auch Steinmünzen, die sich hervorragend für den Flug über die Wasserfläche eignen. Mit Coco spazieren wir ein kurzes Stück im Wellenrauschen, bis Alménta erscheint, unsere Kontaktperson. Der Vermieter unserer Wohnung, ein Dirigent, lebt im entfernten Athen. In eng geschnürter Schürze, braun befleckt, hat Alménta die Olivenernte unterbrochen, um uns lachend und giggelnd in radebrechendem Englisch, unterstützt durch beredte Gesten, mit dem Hausschlüssel und wichtigen Informationen zu versorgen. Gemeinsam schlagen wir die Fensterläden auf, lassen Licht und Meeresluft hineinströmen in den hohen Raum vor dem Kolpos. Wir verstehen: morgen werde sie uns zwei Liter frisches Olivenöl vorbeibringen. Welch ein Glück! Lauthals singend braust Alménta mit ihrem klapprigen Fahrzeug davon. Schon stehen unsere Nachbarn winkend am Gartenzaun, ein älteres, freundliches Paar. Auch sie sprechen Englisch. Vor der Armut und der Diktatur waren sie nach Kanada geflohen, haben dort die längsten Zeiten ihres gemeinsamen Lebens verbracht. Vor Jahren bereits sind sie zurückgekehrt an ihren Heimatort, zu ihren versteckten Zitronengärten und dem Kolpos. Während der warmen Monate vermieten sie einen Teil ihres Hauses an Sommergäste, die allesamt, genau wie wir, kein Griechisch verstehen.
Noch vor dem Sonnenuntergang nimmt Uta meine Hand. Unter den wachsamen Augen unserer...
Erscheint lt. Verlag | 27.5.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7562-6847-0 / 3756268470 |
ISBN-13 | 978-3-7562-6847-4 / 9783756268474 |
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