Joy (eBook)
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61397-1 (ISBN)
Jonathan Lee, 1981 in Surrey, England, geboren, studierte Literatur, lebte eine Zeit lang in Südamerika und arbeitete sieben Jahre in einer Anwaltskanzlei in London. Inzwischen lebt er in New York, wo er sich nach Stationen bei renommierten Verlagen der Arbeit an Romanen und Drehbüchern widmet. Der ?Guardian? nennt Jonathan Lee »eine bedeutende neue Stimme der englischen Literatur«.
Warum steht die Tür offen? Die Haustür dürfte nicht offen stehen. Ein Uhr morgens im Stadtteil Angel, Müdigkeit surrt in Joys Kopf wie eine eingesperrte Fliege, und die Tür steht offen. In einem gewissen Stadium des Lebens wird jede Einzelheit komplex.
Sie checkt ihren Blackberry. Nichts Neues. Nicht, seit sie ihn gerade eben im Taxi gecheckt hat. Keine E-Mail, keine Sprachnachricht, keine SMS von Dennis, die erklären würde, warum die Tür nicht zu ist. Während das schwarze Taxi, das sie abgesetzt hat, davonschnurrt, fährt sie mit der Zeigefingerkuppe über die Zähne ihres Haustürschlüssels, des Schlüssels, der jetzt überflüssig ist, und fühlt scharfe kleine Urteilsscheren schnippschnapp durch ihr Bewusstsein schneiden: unverantwortlich – gefährlich – hat er schon mal gemacht – Tür offen gelassen beim Zubettgehen – Zubettgehen mit seinem Mitternachtstoast – ägyptische Baumwolle, und er isst Toast! Kribbelnder, schmerzender Ärger übernimmt, noch verstärkt durch das, was sie jetzt bemerkt: ein auf dem Boden deponiertes Präsent von Zorro, dem offenkundig inkontinenten Cockerspaniel der Nachbarn, umstrahlt von einer Aura spöttischen Mondlichts.
In letzter Zeit ist Joy bemüht, sich Kraftausdrücke zu verkneifen, aber jetzt fühlt sie, wie einige ihre Kehle empordrängen; Hitze steigt ihr in die Ohren und Augen, und ihre Haut gibt einen Hauch Parfüm ab. »Du bist zu streng mit den Menschen«, hat ihr Vater immer gesagt, und sie hat dran gearbeitet, nicht so streng mit anderen und sich selbst zu sein, hat sich vorgenommen, den letzten Tag ihres Lebens in einem ätherischen Zustand der Gelassenheit zu verbringen, ihre absurdesten High Heels zu tragen und Fremden ein breites Lächeln zu schenken, aber jetzt steht die Tür offen, steht um ein Uhr an diesem letzten Freitag erkennbar offen (schon fast sperrangelweit offen – gähnend, aufklaffend), und die Atkinsons haben noch nie was von Hundekotgreifern gehört, und die Luft vor ihrem Haus ist eine tierische Wolke von Kotgestank, Gestank, der durch die floralen Noten ihres Parfüms etwas Billig-Süßliches bekommt, und tiefe Runzeln bilden sich auf ihrer Stirn, der auch der fransige, seidige Pony darüber und die immer glänzenden Augen darunter den Ernst nicht nehmen können.
Sie schluckt ein Arsch und ein Sack hinunter, landet bei einem fast lautlosen Trottel. Den eigenen Mann Trottel zu nennen, das Wort in der Januarluft ein rasch verfliegendes Wölkchen, tut überraschend gut. Reduziert den Nebel im Kopf. Reduziert die Frustrationen der Woche, die Toastkrümel der Woche, die an ihrer Haut kleben. Nach einer Arbeitsphase wie der, die sie gerade hinter sich hat – einer absurd langen Reihe von Meetings, durchsetzt mit Stress und Koffein, sechzehn Stunden zermürbender Diskussionen über Lebensmittelgesetze und die Frage, was man in Hühnerbrüste injizieren darf und was nicht, sechzehn Stunden nicht allzu verstohlener Blicke auf ihre Brüste von Männern mit breitgequetschten B-Körbchen-Füllseln unter klebrigen, gelbstichigen Hemden –, fühlt es sich wie ein überaus prägnantes Schlusswort zu ihrem Donnerstag an: Trottel.
Ein Tier huscht zwischen parkenden Autos hindurch, rötlich im Schummerlicht der Straßenlaternen. Über diesen Straßenlaternen sind viktorianische Dächer mit Antennen gespickt, und eine Mondsichel hängt im Dunkel. Den Kopf in den Nacken gelegt, im Bewusstsein der Tatsache, dass sie den Mond nie wiedersehen wird, und entschlossen, seine abstrakte Eleganz zu würdigen, hört sie dann das leise Surren von Rädern – ein Fahrradlicht erhellt das Gesicht des Fuchses – und streckt, des Herumstehens auf der Straße müde, die Hand nach dem Türknauf aus; das Leder ihrer Handtasche flirtet mit ihrem Rock, als sie in die tiefe Düsternis des Hauses tritt. Ihr Ziel für die nächsten Stunden? Nicht zu viel zu denken, ihren Plan auf jene ruhige, systematische Art auszuführen, die ihr Arbeitgeber, taub für die unvermeidliche Abkürzung, als Kombination aus Selbstdisziplin, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt wertet (»Zeig mal ein bisschen mehr SEGS«, sagen Joys Kollegen, »die Partner stehen auf SEGS«), aber irgendwie ist es nicht –
Knarrr-ck.
Sie stutzt – was ist das?
Stille, während der Moment sich verdichtet, dann wieder Knarrr-ck. Irgendwo zwischen Knarren und Knacken und – halt – war das anders?
Ja.
Anders.
Eingestreut zwischen die Knarrr-cks hört sie ein Geräusch, das mit mehr Luft verbunden ist, ein … Wu-wuuh? Fast wie der Background bei diesem einen Stones-Song, dem, den Peter so mag, Sympathy for the Irgendwas – Wu-wuuh – Devil. Komisch. Beängstigend. Nur sie und Dennis benutzen diese Haustür, die Einliegerwohnung auf der Hangseite ihres terrassierten Hauses hat einen eigenen Eingang. Von dort oben hört sie nichts, hört sie nie etwas. Dieser merkwürdige Mix aus zwei Geräuschen kommt aus Richtung ihrer Küche, ihres Wohnzimmers.
Knarrr-ck.
Wu-wuuh.
Wahrscheinlich nichts weiter … es sei denn … wahrscheinlich nichts …
Sie streift die Schuhe ab und schleicht in Zeitlupe durch den Flur. Die Luft ist trotz der offenen Haustür sirupdick von der Zentralheizungswärme. Angespannt und ängstlich nimmt sie in der Hitze ihre Umgebung überdeutlich wahr: den staubgrünen Teppich, die schattendunklen Wände, die Staubflusen unter dem Heizkörper. Es ist doch idiotisch, sich zu fürchten. Knarrr-ck. Wenn ein psychopathischer Einbrecher herausstürzt und sie umbringt – dann erspart er ihr doch nur die Mühe, es selbst zu tun. Wu-wuuh. Aber wenn er ihr nur wehtut, nur wehtut …
Sie zögert. Fragt sich, ob sie umkehren soll. Die Atkinsons wecken? Mit Zorro wiederkommen?
Dann, inmitten der Unentschlossenheit, eine Welle von Selbsthass: Also bitte. In den kommenden Stunden ist Mut gefragt, und die Atkinsons sind Lateinlehrer, das einzig Fürchtenswerte an Zorro ist sein Hinterteil.
Ein Schritt, ein zweiter, ein dritter. Vorbei an der Küchentür, also müssen die Geräusche aus dem Wohnzimmer kommen. Sie bleibt wieder stehen. Konzentriert sich. Ruft Dennis’ Namen. Heraus kommt ein leises Krächzen, ein Streichholzflämmchen in weitem Dunkel. Sie erwägt, die Lampe auszustöpseln. Sie als Waffe zu benutzen. Wo ist ihr Tennisschläger? Sonst ist ihr Schläger immer unter dem Tisch mit der Lampe, die in Ermangelung des Schlägers vielleicht die beste Waffe halbwegs in Reichweite ist.
Knarrr-ck.
Wenn sie diese Begegnung mit dem Einbrecher überlebt, sich aber herausstellt, dass er ihren Tennisschläger gestohlen hat, wird es nichts mit ihrem Mittagspausen-Tennismatch.
Wu-wuuh.
Was nicht gut wäre, weil es das letzte Tennismatch ihres Lebens sein sollte und insofern etwas Zeremonielles, denn für Joy war, auch wenn sie im Ganzen ein authentischer und unprätentiöser Mensch ist, durch das ganze Traditionsgehabe – all die Präjudizien, Präambeln, hochachtungsvollen Grüße und Dienstwagen mit Chauffeur, die eine Juristenkarriere ausmachen – das Zeremonielle ein Teil ihrer Person geworden. Und sie ist Joy, immer noch Joy, trotz ihrer Zweifel in letzter Zeit – dem nagenden Gefühl, dass sie in der falschen Haut steckt, dass selbst ihre Gefühle geborgt oder falsch sind.
Während das Adrenalin durch ihren Körper schießt, verhakt sich ihr Denken an der verblüffend banalen Frage, ob sie, wenn ihr der Einbrecher den Tennisschläger (nicht aber das Leben) nimmt, das Tennis mit Christine absagen und stattdessen eine letzte Fitnesssession mit ihrem Personal Trainer in der Firma machen soll, aber sie hat auf die Gesellschaft einer Freundin gehofft, und sie will auf keinen Fall jemanden enttäuschen, der immer so nett zu ihr war wie Chri –
KNARRR-CK.
Lauter jetzt und damit klarer, sind die beiden Geräusche nicht mehr so ineinander verflochten, und Joy denkt darüber nach, konzentriert sich auf das unmittelbare Problem und findet es lustig, echt lustig, dass das eine Geräusch so hauchig-menschlich klingt und das andere mehr wie irgendein knarrendes Möbelstück und – könnte es sein –
Sie spürt irgendwo in ihrem angstvernebelten Hirn das lautlose Herangleiten einer neuen Idee.
WU-WUUH.
Die Geräusche. Das ist. Das hat bestimmt etwas mit Dennis’ neuem Fitnessding zu tun.
Sie atmet aus. Heiliger. Alles okay. Himmel. Seit er dieses Sabbatjahr macht, ist Dennis – der solide, verlässliche Dennis – ständig dabei, sich vor Fitness-DVDs zu verrenken und Zeug zu trinken, das die...
Erscheint lt. Verlag | 24.1.2024 |
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Übersetzer | Cornelia Holfelder-von der Tann |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abschied • Anwaltskanzlei • Bestsellerautor • business • Ehebruch • England • Gesellschaftsroman • Humor • Ironie • Literatur • London • Obsession • Rechtsanwalt • Satire • Schwarzer Humor • Sinn des Leben |
ISBN-10 | 3-257-61397-0 / 3257613970 |
ISBN-13 | 978-3-257-61397-1 / 9783257613971 |
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