Seine Exzellenz - der Android -  Leo Gilbert

Seine Exzellenz - der Android (eBook)

Roman

(Autor)

Nathanael Riemer (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
320 Seiten
Edition W (Verlag)
978-3-949671-56-2 (ISBN)
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Künstliche Intelligenz im Vorfeld des Ersten Weltkriegs: Im Jahr 1907 veröffentlichte der Wiener Wissenschaftsjournalist Leo Silberstein-Gilbert einen 'phantastisch-satirischen Roman', der heute als eines der ersten Science-Fiction-Werke gelten kann und von den Nazis aus allen Bibliotheken entfernt wurde. Der Protagonist des Romans, der geniale Physiker Frithjof Andersen, konstruiert einen vollkommenen Androiden. Dessen Körperbau, seine Gesichtszüge, Pulsieren der Adern und selbst Gefühlsregungen imitieren den Menschen auf so natürliche Weise, dass die perfekte Täuschung gelingt. Doch das Geschöpf emanzipiert sich von seinem Schöpfer - der Android macht als Großindustrieller Karriere und wird vom König zum Minister ernannt. Als der Android schließlich einen Krieg vorzubereiten beginnt und das Volk seine Misere in Hurrapatriotismus ertränkt, sieht sich Andersen in der Pflicht, sein eigenes Geschöpf zu zerstören ... Mitten in der Belle Époque, auch als Fin de Siècle bezeichnet, markiert Leo Silberstein-Gilbert mit prophetischem Blick den Untergang der mitteleuropäischen Monarchien und die politischen Katastrophen der folgenden Dekaden. Sein geradezu heinescher Witz macht den Roman zu einem besonderen Lesevergnügen. Nach 1933 geriet er in die Zensur, wurde aus den Bibliotheken im Herrschaftsbereich des NS-Regimes aussortiert, sodass heute nur noch drei Exemplare in europäischen Bibliotheken verzeichnet sind. Die von Nathanael Riemer unter dem Titel 'Seine Exzellenz, der Android' herausgegebene Neuauflage will das eliminierte Buch und die Erinnerung an seinen Autor neu beleben. Nathanael Riemer stieß auf diesen Schatz während der Vorbereitungen für ein Seminar über Videospiele und Künstliche Intelligenzen unter den Trümmerschichten, die eine NS-Literaturwissenschaftlerin hinterließ ...

Leo Silberstein-Gilbert, geboren 1861 im rumänischen Galati, absolvierte ein Ingenieurstudium in Zürich und Berlin. Danach übersiedelte er nach Wien, arbeitete als Redakteur und Journalist für viele Zeitungen seiner Zeit, u.a. die Frankfurter Zeitung und die New York Times. Silberstein-Gilbert starb 1932 in Wien.

I. Kapitel

Der geheimnisvolle Nachbar


Es war gegen das Ende des Jahrtausends der Technik …

Im ganzen Gebäude herrschte tiefe Mißstimmung gegen den im vierten Stockwerke einsam hausenden Doktor, Physiker und Ingenieur, den Norweger Frithjof Andersen. Niemand hatte seit den vielen Jahren, die er hier wohnte, seine aus sechs Zimmern bestehende Wohnung betreten oder nur einen Blick hinein tun dürfen. Und doch gingen augenscheinlich dort oben die ungeheuerlichsten Dinge vor. Die Vermieterin im dritten Stockwerke beschwor es, die starkknochige Frau Mantzen, von ihrem Zimmerherrn, dem kleinen Privatdetektive Kistenmacker, immer »mein pommerscher Grenadier« genannt. Stets vom weitgehendsten Interesse am Schicksal ihrer Nebenmenschen erfüllt, hatte sie einen Packträger, der gerade die Treppe hinauf ging, am Arm gefaßt, in ein Gespräch verwickelt und dabei einen Blick in eine schlecht verwahrte Kiste geworfen, in der sie Gerippe und menschliche Gliedmaßen sah, die wer weiß woher stammten. Die Portierfrau Künzel beschwor es, denn ihr hatte sogar ein indiskreter Bursche, der zum Doktor hinaus wollte, einen Menschenkopf gezeigt, der unheimlich lebendig aussah. Seltsam diese Frische von Zügen, Augen, Farbe. Die Wangen des Kopfes veränderten sich vom Leichenblaß zum Lebensrot, ganz unnatürlich in ihrer Natürlichkeit. Frau Künzel war vor dieser Erscheinung entsetzt zurückgefahren; sie hatte den grauenhaften Eindruck gehabt, als ob da wieder zum Leben erweckt worden sei – ein eben abgeschnittener Totenkopf. Der Spaßvogel lachte zwar und versicherte, daß es eine äußerst kunstvolle Nachahmung sei und die Farbenveränderung eine Folge geschickt bewirkter Gefäßkontraktionen. Trotzdem war es eine Frucht dieses kleinen Ereignisses, daß man im ganzen Hause annahm, der Doktor wolle ein Mittel erfinden, oder hätte ein solches bereits erfunden, Tote lebendig zu machen. Große viereckige Glaswannen und riesige, mit Stroh umflochtene Säureflaschen gaben Veranlassung zu dem Geschwätz, daß er eine Flüssigkeit zusammenzustellen wisse, in der er diese Glieder bade, um ihnen für kurze Zeit wieder Leben einzuflößen.

All dies unmenschliche Gerücht und Gerede wären weder aufgebracht noch fortgeklatscht worden, hätte der geheimnisvolle Sonderling nicht auf das Strengste jedes neugierige Auge ferngehalten. Und fortwährend beschäftigte er die Phantasie der Hausbewohner. Des Tages hörte man oft, obwohl er ganz allein mit seinem Diener oben eingeschlossen war, die sonderbarsten Töne von zahllosen Tieren und Menschen, als ob sich im letzten Stockwerk eine ganze Arche Noah Rendezvous gegeben. Und doch wußte man, daß der alte treue Diener unmöglich mitwirken konnte, denn er war so gut wie stumm, er litt an einem Zungenfehler, der es unmöglich machte, ihn zu verstehen. Sein Herr war der Einzige, der das sonderbar eintönige Lallen des Alten verstand, welcher schon in seinem Elternhaus gedient hatte und der Spielkamerad seiner Kindheit gewesen war. Sich einen solchen Diener auszusuchen, den man nicht einmal ausforschen konnte, das empfanden die tonangebendsten Weiber und Dienstmädchen im Hause, allen voran die Vermieterin Mantzen und die Portierfrau Künzel, als eine ausgeklügelte Niedertracht.

Manchmal ertönten kleine Detonationen, die insbesondere in den Tagen der Anarchistengefahr die erschreckten Bewohner an Dynamit denken ließen. Auch zu nachtschlafender Zeit fielen allerlei Dinge vor. Es waren meistens sonderbare Lichteffekte, die aus den Fenstern der hochgelegenen Wohnung blitzten. Bald Strahlen, die in Bündeln plötzlich herausschossen und wieder verschwanden, dann bunte Lichter in einem abwechslungsreichen Spiel, dessen Sinn man sich nicht erklären konnte. Dann wieder sah man bei nebligem Wetter oder bewölktem Himmel sonderbare Schatten in der Luft tanzen, unzweifelhaft auch Beleuchtungskunststücke, deren Ursprung in den Fenstern des Doktors lag. Es waren verzerrte Gestalten, bald farbig, bald schattenhaft, die sich seltsam hastig durch die herbstlichen Nebel bewegten und ringsum das Haus in eine Art gespensterhaften Belagerungszustand zu versetzen schienen. Zum Mindesten fühlten sich die erregten Frauen und Kinder durch diese Erscheinungen beängstigt.

»Ein angenehmer Mieter«, meinte die Frau Amtsrichter in der Beletage. Der allgemeine Zorn und die Entrüstung sämtlicher weiblicher Wesen – natürlich mit Ausnahme der jungen phantasiebegabten zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig – waren gegen den Geheimnisvollen losgelassen. Ein anderer wäre längst den Intriguen der Hausbewohnerschaft zum Opfer gefallen. Was den Dr. Andersen vor dem schlimmsten bewahrte, war, daß er ein sehr sympathisches Äußeres besaß. Ein nordisch feiner Gelehrtenkopf; über der hohen, weißen Stirne fiel aschblondes Haar herab in einem seidenartigen, genial unbezähmbaren Schopf; die großen, grauen, seltsam nuancierten Augen berührten sehr angenehm. Sie besaßen etwas unendlich Bescheidenes, unendlich Verträumtes. Die Jugend des Hauses, das noch ideale Mädchentum fühlte sich schmachtend zu ihm hingezogen. Oder waren es nur die zwei erwachsenen Töchter des Fabrikdirektors Ehrsam, die ihn lebhaft ihrer Mutter gegenüber verteidigten? »Ein durchtriebener Kopf. Ich sage euch, ein Blender!«, wiederholte die Mutter mit majestätischer Pose. Seit dem vergangenen Sommer hatte sie unausgesprochene Motive zu Feindseligkeiten. Auch die übrigen weiblichen Wesen von der Portierfrau unten bis zur Vermieterin oben waren über ihn aufgebracht, hatten allen Grund, es zu sein, verletzte er sie nicht täglich in ihrem heiligsten Instinkt, der Neugierde?

Eines Abends aber sollte diese Neugier des Hauses befriedigt werden. Außer den weiblichen Bewohnern gab es nämlich auch einen männlichen, dessen Interesse für den geheimnisvollen Nachbarn ein lebhaftes war, so lebhaft, daß er es nicht verschmähte, mit allen weiblichen Verschwörern, die etwas wußten oder zu wissen vorgaben, Konferenzen abzuhalten und sich in Klatschereien zu verwickeln. Es war dies der Privatdetektiv Kistenmacker, immer auf der Suche nach Sensationellem. Die Sensation lag ihm in Fleisch und Blut. Selbst in seinen Träumen erlebte er die schrecklichsten Dinge, die er, um sich ja nicht das geringste Detail entgehen zu lassen, im Traum, schweißtriefend vor Angst und Eifer, notierte, um dann bei seinem Erwachen schmerzlich wahrzunehmen, daß der Liebe Müh’ umsonst gewesen. Er war ein kleines Männchen mit einer schwarzen Haarspirale über der Stirne, die wie ein Pfropfenzieher die Luft durchbohrte, wenn er, gesenkten Kopfes, den Hut in der Hand, ähnlich eines Mäuschens durch die Straßen schlürfte, mit kleinen flinken Schritten, Schulter und Arme ängstlich eingezogen, während die etwas schielenden Augen unaufhörlich nach allen Seiten herumgingen.

Dieser nervöse, kleine, zappelige Mann betrieb die Überwachung des Doktors leidenschaftlich, ein Sport für seine Mußestunden. In der Hoffnung, hier einmal einen guten Fang zu tun, belauerte er den – wie er glaubte – Ahnungslosen, mit der Beutelust und dem Wildgeruch eines Jagdhundes. Er sollte sich empfindlich täuschen.

Seine Phantasie beschäftigte sich so viel mit dem geheimnisvollen Mann da oben, daß er jedes Mal in krankhafte Erregung geriet, wenn er an die »schleierhaften« Vorgänge über seinem Kopfe – er wohnte nämlich bei Frau Mantzen – dachte. Manchmal, in schlaflosen Nächten, horchte er auf jeden Tritt, jedes Geräusch in der Höhe und suchte durch die wunderlichsten Dichtungen dem Unerreichbaren auf die Spur zu kommen. Seine Kriminalroman-Phantasie spielte ihm alle möglichen Streiche. Bald durchgruselte ihn die Überzeugung, der Doktor müsse Anarchist sein, der staatsstürzende Pläne brüte, unheimliche Sprengstoffe bereite. Dann wieder fraß sich in seinem Kopf der Wurm eines anderen Verdachtes fest und er schwor seiner ebenso aufgeregten Wirtin, daß der Doktor ein heimlicher Falschmünzer sein müsse. Jedenfalls wäre er ein Verbrecher, denn anständige Menschen umgäben sich nicht mit Geheimnissen. Verbrechen aber dürfe man mit Verbrechen kreuzen; und so hielt sich der kleine Detektive zu allem berechtigt, zu jeder Intrigue, Spionage, ja er brütete selbst über Einbruchspläne, um den Anarchisten zu überraschen. »Wat simmelieren Sie denn schon wieder, Herr Kistenmacker? Über den Dynamitmenschen, woll?«, pflegte Frau Mantzen zu sagen, wenn sie ihren Mieter bleich, mit gerunzelter Stirne dasitzen sah. Dieser aber erwiderte schwermutsvoll, indem er kurzsichtig dem vor ihm stehenden »pommerschen Grenadier« seine Paarspirale in den Busen bohrte: »Schleierhaft – merkwürdig schleierhaft! Er wird mich noch krank machen! Krank wird er mich machen!«

Eines Tages aber sollte, dank der zwei Verschworenen, das Haus in die Geheimnisse des vierten Stockwerkes eindringen. Herr Kistenmacker und Frau Mantzen hatten den Augenblick abgepaßt, da Andersen und sein Diener ausgegangen waren. Es war Abend, sie wußten, daß oben keine Menschenseele mehr sein konnte. Leise schlichen sie die Treppe hinauf; Kistenmacker hatte große, ausgetretene Filzschuhe über seine Stiefel gezogen. Eine Auswahl Türschlüssel und Dietriche hatten sie mitgenommen.

Zehn Minuten später durchdrang ein mörderlich Geschrei das ganze Haus. Es kam offenbar aus der vierten Etage. Die alarmierten Bewohner eilten die Treppe hinauf. Der hünenhafte Portier Künzel, mit seiner gänsigen Haut, wurde von seiner tapferen, kleinen Frau mitgerissen. Sie hatte sich mit einem Besen bewaffnet. Mehrere männliche Bewohner des ersten und zweiten Stocks, die gerade beim Abendessen saßen, waren vom Tisch aufgesprungen; hinter ihnen als Nachhut kamen die weiblichen, an ihrer Spitze die Frau Fabriksdirektor und ihre beiden Töchter. Die Frau Direktor keuchte ihren Kindern zu, indem...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-949671-56-0 / 3949671560
ISBN-13 978-3-949671-56-2 / 9783949671562
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