Die Möglichkeit eines Verbrechens (eBook)
384 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61361-2 (ISBN)
Dror Mishani, geboren 1975 in Cholon bei Tel Aviv, ist ein israelischer Schriftsteller und daneben Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur. Seine Romane sind in viele Sprachen übersetzt, seine ?Avi Avraham?-Krimi-Serie wurde mehrfach verfilmt, und von dem Bestseller ?Drei? ist eine internationale Serienverfilmung in Vorbereitung. Dror Mishani lebt mit seiner Familie in Tel Aviv.
Ein Schauder lief durch Avrahams Körper, als er zum ersten Mal nach drei Monaten den Verhörraum betrat. Die Klimaanlage arbeitete seit den Morgenstunden, und in dem Zimmer war es kalt. Er erinnerte sich noch gut an das letzte Mal, als er dort gewesen war, und an die Frau, die vor ihm gesessen hatte.
In den vergangenen Monaten hatte er mehr als nur einmal an die nächste Vernehmung gedacht, die er in diesem Raum führen würde. Hatte sich zunehmend detaillierter ausgemalt, wie er zum ersten Mal das Zimmer wieder betreten würde, gefestigt und selbstsicher, hatte sich erste Fragen überlegt, die er mit harter Stimme stellen würde. Das hätte zwar nicht an diesem heutigen Tag passieren sollen, aber vielleicht war es gut, dass es so gekommen war. Wie der Sprung von einer Klippe ins tosende Meer, ohne viel Vorgeplänkel.
Das Erste, was er bemerkte, als er vor dem Verdächtigen Platz nahm, waren dessen schmales dunkles Gesicht, die kleinen schwarzen Äuglein und danach die dünnen Arme, an denen dicke Adern sichtbar hervortraten. Seine Hände waren schmutzig, die Fingernägel auch. Er war von mittlerer Größe, hager und unrasiert. Vielleicht Anfang, Mitte dreißig. Der Verdächtige saß auf der anderen Seite des langen Tisches. Er fragte: »Wer sind Sie?«
Avraham überging seine Frage. Er ordnete seine Unterlagen vor sich, als wäre er allein im Zimmer. Sich eingehend mit dem Material in der Akte zu befassen, dazu hatte er keine Zeit gefunden. Während des kurzen Gespräches, das er mit der Streifenbeamtin führte, die den Verdächtigen in den frühen Morgenstunden festgenommen hatte, hatte er alles einmal überflogen.
Dem Bericht der Kollegin zufolge war die Meldung über den Sprengsatz um 6.44 Uhr in der Telefonzentrale eingegangen. Obgleich es sich wahrscheinlich um einen Fehlalarm handelte, war trotz der angespannten Personalsituation umgehend ein Streifenwagen in die Lawon-Straße entsandt worden. Den Streifenbeamten gelang es nicht, den Tatort ausfindig zu machen, weshalb die Zentrale telefonisch Kontakt zu der Anruferin aufgenommen hatte, die daraufhin im Morgenmantel auf die Straße gekommen war und die Polizisten hingeführt hatte. Keine zehn Minuten später war ein Sprengkommando am Tatort eingetroffen, hatte eine Sperrung der Straße für Autos und Fußgänger angeordnet und mit den Vorbereitungen für die Entschärfung der Ladung begonnen. Bei einer ersten Überprüfung war in dem Koffer ein Wecker der Marke Supratech entdeckt worden, der über Drähte zum einen an einer 7UP-Flasche hing, in der sich eine undefinierbare Flüssigkeit befand, und zum anderen an etwas, das wie ein Zünder aussah. Den Aufzeichnungen des Sprengkommandos zufolge war der Koffer um 7.50 Uhr in die Luft gejagt worden.
Unmittelbar bevor er die Tür des Vernehmungszimmers geöffnet hatte, hatte Avraham Marianka eine SMS geschickt: Bin auf dem Weg in ein überraschendes Verhör. Rufe dich an, wenn ich fertig bin.
Und sie hatte postwendend geantwortet: Sind die Ferien vorbei? Viel Erfolg!
Alles war bereit. Das Aufnahmegerät lief. Er fragte den Verdächtigen nach seinem Namen, und der Mann antwortete: »Amos Usen. Sind Sie Polizist? Wissen Sie, dass ich hier schon seit fünf Stunden warte?«
Er machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. »Geburtsdatum?«
»Meines? 10. Juli 1980.«
»Adresse?«
»Ha-Zionut 26.«
»In Cholon?«
»In Las Vegas.«
»Beruf?«
»Dirigent der Philharmoniker.« Amos Usen grinste. »Kein Beruf. Schreiben Sie auf, dass ich im Moment nicht arbeite.«
Dem Bericht der Streifenbeamtin zufolge war Usen mitnichten Musiker. Er war Koch im Café Riviera an der Strandpromenade von Bat Yam gewesen, hatte danach einen kleinen Motorradpannenservice und zuletzt einen rund um die Uhr geöffneten Kiosk im Stadtzentrum von Cholon betrieben. Neben den Einnahmen aus diesen Beschäftigungen verdiente er sich offenbar noch etwas mit kleinkriminellen Aktivitäten hinzu – vor allem Hehlerei und dem Verkauf von Haschisch. Er war in Bat Yam geboren und ohne Vater aufgewachsen. Seine Mutter war Kosmetikerin, und er hatte zwei ältere Schwestern. Die Familie war dem Sozialamt hinlänglich bekannt. Er selbst war ohne Abschluss von der Mittelschule abgegangen. Straffällig war er zum ersten Mal mit fünfzehn geworden. War zusammen mit einem Freund in einem gestohlenen Wagen festgenommen worden. Avraham sah ihn an, senkte den Blick dann wieder auf die vor ihm liegenden Papiere und sagte: »Sie werden verdächtigt, in den frühen Morgenstunden vor einem Kindergarten in der Lawon-Straße –«
Aber Usen unterbrach ihn: »Wovon reden Sie eigentlich? Ein Mensch geht morgens vor die Tür, um einen Spaziergang zu machen, und wird verhaftet. Was habe ich mit irgend so ’nem Kindergarten zu schaffen?«
»Das wird sich noch zeigen.«
»Aber wieso? Was für Beweise haben Sie überhaupt?«
Nach flüchtiger Durchsicht der Akte und einer kurzen Instruktion durch die Streifenpolizistin erschien es Avraham wirklich so, als hätten sie keine Beweise. Usen war dank der Geistesgegenwart der Kollegin festgenommen worden, die, noch ehe die Bombenattrappe unschädlich gemacht werden konnte, eine detaillierte Zeugenaussage von der Anruferin aufgenommen hatte. Sie war vierundsechzig und Rentnerin. War frühmorgens aufgestanden, um mit dem Hausputz vor dem Neujahrsfest zu beginnen. Hatte die Jalousien im Wohnzimmer geöffnet und die Teppiche zum Lüften über das Fensterbrett gehängt. Ausklopfen wollte sie die Teppiche erst nach acht. Ihr Gatte habe noch geschlafen. Als sie die Teppiche ausbreitete, habe sie einen Mann gesehen, der in den Hof der Lawon-Straße Nummer 6 gekommen sei. Genau genommen habe sie ihn nicht kommen gesehen, sondern wie er sich hinter den Büschen dort bückte, als suchte er etwas. Zunächst habe sie gedacht, es würde sich um einen der Mieter handeln, dem etwas von oben in den Hof gefallen war. Doch dann habe sie gesehen, wie er den Koffer hinter den Büschen versteckte, neben dem Weg, der zu dem Kindergarten führt. Warum sei ihr das sonderbar vorgekommen? Weil nur wenige Meter entfernt die Müllcontainer stünden, und wäre er ein Bewohner des Hauses gewesen, hätte er den Koffer dort hineingeworfen. Und warum den Koffer mit solcher Vorsicht hinter den Büschen verstecken und ihn nicht einfach auf dem Bürgersteig abstellen? Das Gebäude, in dem die Zeugin wohnte, lag am Ende der Straße, aber die Sicht von ihrem Fenster aus war ausreichend. In ihrem Blickfeld lagen zwar mehrere Baumwipfel und ein Strommast, aber diese verdeckten die Stelle nicht. Sie schätzte, dass sie den Verdächtigen länger als eine Minute beobachtet hatte, und erzählte, er habe sich nicht gleich davongemacht, sondern sei noch einige Augenblicke im Hof geblieben und habe sich umgeschaut. Trotz der Entfernung habe die Zeugin befürchtet, er könne sie sehen, weshalb sie sich ins Wohnzimmer zurückgezogen habe. Als sie den Kopf dann abermals aus dem Fenster gesteckt hatte, sei der Verdächtige bereits in die entgegengesetzte Richtung gegangen, zur Aharonowitsch-Straße. Gemächlich schlendernd allerdings, nicht im Laufschritt. Wobei es ihr so vorgekommen sei, als würde er hinken. Ihre Beschreibung war wie erwartet ziemlich allgemein gehalten. Der Verdächtige war eher kleingewachsen und von schmächtigem Körperbau und trug, soweit sie sich erinnern konnte, eine Trainingshose und ein Kapuzenshirt, braun oder in irgendeiner anderen dunklen Farbe. Seine Gesichtszüge hatte sie nicht sehen können.
Wenige Minuten nachdem sie die Zeugenaussage aufgenommen hatte, hatte die Streifenbeamtin den Verdächtigen in der Menge ausgemacht, die sich am Ende der für den Durchgang gesperrten Straße versammelt hatte, und zwar aufgrund der Zeugenbeschreibung seiner Statur und Kleidung. Er verfolgte, wie der Sprengsatz unschädlich gemacht wurde, und habe nervös gewirkt. Die Streifenbeamtin bat ihn, sich auszuweisen, woraufhin er versucht habe wegzurennen. Tatsächlich schaffte er es, etwa fünfzig Meter weit zu kommen, ehe einer der Polizisten vor Ort ihn stellte. Usen trug keine Ausweispapiere bei sich und bestritt, einen Fluchtversuch unternommen zu haben. Auch jegliche Verbindung zu dem Koffer stritt er ab und behauptete, er sei bloß dort gewesen, weil er Brot und Milch kaufen gegangen war. Anfangs weigerte er sich, seine Personalausweisnummer mitzuteilen, konnte aber überzeugt werden, der Aufforderung schließlich doch Folge zu leisten. Eine Abfrage des Strafregisters ergab, dass er bereits einige Vorstrafen hatte, zumeist Rauschgiftdelikte.
»Zu den Beweisen kommen wir, wenn wir so weit sind«, sagte Avraham. »Zunächst erzählen Sie mir, was Sie heute Morgen in der Lawon-Straße gemacht haben.«
Usen erwiderte: »Was jeder Mensch mal tut. Ich bin raus, um ein bisschen frische Luft zu schnappen.«
»Der Beamtin haben Sie gesagt, Sie seien unterwegs gewesen, um Milch und Brot zu kaufen. Woraus ich schließe, dass Sie Ihre Version geändert haben.«
»Was soll ich gesagt haben? Ich hab gar keine Version geändert. Ich bin raus, um frische Luft zu schnappen und auch, um Milch zu kaufen.«
»Sie sind bis zur Lawon-Straße gegangen, um dort einzukaufen? Das ist ziemlich weit von Ihrer...
Erscheint lt. Verlag | 22.3.2023 |
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Übersetzer | Markus Lemke |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Efsharut shel alimut |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | AVI • Avi Avraham • Avraham • Avraham, Avi • Avraham, Avraham • Cholon • Die schwere Hand • Drei • Familie • Familiendrama • Israel • Israelische Literatur • Israel-Krimi • Judentum • Krimi • Kriminalroman • Krimiserie • Serie • Sky • Tel Aviv • Tel-Aviv-Krimi • TV • TV-Serie • Verfilmung • Vermisst |
ISBN-10 | 3-257-61361-X / 325761361X |
ISBN-13 | 978-3-257-61361-2 / 9783257613612 |
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