Erster Adler (eBook)
336 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31170-1 (ISBN)
Tony Hillerman (1925-2008) besuchte acht Jahre lang ein Mädchen-Internat für Native Americans, kämpfte im Zweiten Weltkrieg, studierte danach Journalismus und war anschließend als Journalist und Dozent an der University of New Mexico tätig. Für seine Romane um die Navajo-Cops Joe Leaphorn und Jim Chee wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Edgar Allan Poe Award, dem Grandmaster Award, dem Grand Prix de Littérature Policière, dem Special Friend of the Diné Award und dem Agatha Award. Hillermans Romane wurden in siebzehn Sprachen übersetzt.
Tony Hillerman (1925–2008) besuchte acht Jahre lang ein Mädchen-Internat für Native Americans, kämpfte im Zweiten Weltkrieg, studierte danach Journalismus und war anschließend als Journalist und Dozent an der University of New Mexico tätig. Für seine Romane um die Navajo-Cops Joe Leaphorn und Jim Chee wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Edgar Allan Poe Award, dem Grandmaster Award, dem Grand Prix de Littérature Policière, dem Special Friend of the Diné Award und dem Agatha Award. Hillermans Romane wurden in siebzehn Sprachen übersetzt.
1
Die Leiche von Anderson Nez lag, mit einem Tuch abgedeckt, abholbereit auf einer Trage.
Wenn Shirley Ahkeah von ihrem Schreibtisch im Stationszimmer der Intensivstation des Northern Arizona Medical Center in Flagstaff zu der Trage hinübersah, erinnerte sie der Umriss von Mr Nez’ verhülltem Leichnam an den Sleeping Ute Mountain, so wie sie ihn vom Hogan ihrer Tante in der Nähe von Teec Nos Pos aus sehen konnte. Wo die Füße des Toten das Tuch anhoben, sah sie den Gipfel des Berges. Dahinter bildete das Laken unregelmäßige Höcker und Falten – genau wie die schneebedeckten Berghänge, die Shirley aus ihren Kindertagen in Erinnerung hatte.
Shirley schob den angefangenen Bericht über ihre Nachtschicht beiseite. Sie musste ständig an Anderson Nez denken und an das, was mit ihm geschehen war. Sie überlegte, ob er wohl mit den Nez des Bitter Water Clans verwandt war, die bei Short Mountain gleich neben dem Haus ihrer Großmutter Weideland gepachtet hatten. Ob diese Familie tatsächlich mit einer Autopsie einverstanden wäre? Soweit sie sich erinnern konnte, lebten sie in einem Schäferwagen auf ganz traditionelle Art. Aber Dr. Woody, der Nez eingeliefert hatte, behauptete, die Familie habe ihr Einverständnis zu einer Autopsie gegeben.
In diesem Augenblick sah Woody auf seine Uhr, ein billiges Digitalding aus schwarzem Plastik, das er ganz offensichtlich nicht gekauft hatte, um die Sorte Menschen zu beeindrucken, die sich von teuren Uhren beeindrucken lassen.
»Also noch mal«, sagte er, »ich muss wissen, wann der Mann gestorben ist.«
»In den frühen Morgenstunden«, antwortete Dr. Delano. Er wirkte überrascht – ebenso überrascht wie Shirley. Wieso fragte er, wo er die Antwort doch schon wusste?
»Nein, nein, nein«, sagte Woody gereizt, »ich brauche die genaue Zeit.«
»Wahrscheinlich gegen zwei Uhr nachts«, antwortete Delano. Seine Miene verriet deutlich, dass er es nicht gewohnt war, in derart ungeduldigem Ton befragt zu werden. Er zuckte die Achseln. »So ungefähr.«
Woody runzelte ärgerlich die Stirn. »Wer könnte das wissen? Ich meine, bis auf ein paar Minuten genau.« Er sah rechts und links den Krankenhausflur entlang und zeigte dann auf Shirley. »Irgendjemand muss doch Nachtwache gehabt haben. Der Mann war im Endstadium. Ich weiß genau, wann er sich infiziert hat, und ich weiß, wann das Fieber eingesetzt hat. Jetzt muss ich herausfinden, wie schnell die Infektion ihn umgebracht hat. Ich brauche jede noch so kleine Information über die verschiedenen körperlichen Prozesse im präfinalen Stadium. Ich muss wissen, wie sich die verschiedenen Vitalfunktionen verändert haben, Atmung, Herz und Kreislauf. Außerdem brauche ich die Ergebnisse der Untersuchungen, die ich angeordnet habe, als ich ihn eingeliefert habe. Und zwar vollständig.«
Merkwürdig, dachte Shirley. Wenn Woody so genau wusste, wann Nez sich infiziert hatte, wieso hatte er ihn dann nicht früher gebracht, als man noch eine Chance gehabt hätte, ihn zu retten? Bei seiner Einlieferung gestern hatte Nez vor Fieber geglüht und lag schon im Sterben.
»Ich bin mir sicher, dass alle Angaben, die Sie suchen, in seiner Patientenakte stehen«, sagte Delano und wies mit einer Kopfbewegung auf das Klemmbrett in Woodys Hand.
Shirley verzog schuldbewusst das Gesicht. Die Angaben, die Woody brauchte, waren nicht in der Akte eingetragen. Noch nicht. Sie hätten dort stehen sollen und würden dort auch stehen, selbst nach dieser ungewöhnlich hektischen Nachtschicht, wenn nicht plötzlich Woody hereingestürmt wäre und eine Obduktion verlangt hätte. Keine gewöhnliche Obduktion, sondern außerdem noch eine Menge Extras. Deshalb hatte man dann Delano dazugeholt, der schlaftrunken und unkonzentriert wirkte und als stellvertretender ärztlicher Leiter nicht gerade eine gute Figur gemacht hatte. Delano zog seinerseits Dr. Howe hinzu, der gestern auf der Intensivstation Dienst gehabt und Nez behandelt hatte. Shirley stellte fest, dass sich Howe von Woodys Ungeduld nicht im Mindesten beeindrucken ließ. Dafür hatte er wohl einfach schon zu viel gesehen. Howe betrachtete jeden Fall als seinen ganz persönlichen Kampf gegen den Tod. Aber wenn der Tod dann doch siegte, wie das auf einer Intensivstation nicht selten vorkam, zog er einfach Bilanz und wandte sich neuen Fällen zu. Noch vor wenigen Stunden hatte er sich um Nez gesorgt und war ihm nicht von der Seite gewichen, doch schon jetzt war er für ihn nur noch eine weitere der unzähligen schicksalhaften Niederlagen.
Warum also machte Dr. Woody so einen Aufstand, fragte sich Shirley. Warum bestand er auf einer Autopsie? Und nicht nur das. Er bestand sogar darauf, den Pathologen bei ihrer Arbeit zuzusehen. Die Todesursache war doch vollkommen klar. Nez war an der Pest gestorben. Sofort nach seiner Ankunft im Krankenhaus hatte man ihn auf die Intensivstation gebracht. Da waren die infizierten Lymphdrüsen aber schon stark angeschwollen, und subkutane Blutungen bildeten auf Unterleib und Beinen die charakteristischen dunklen Flecken, die der Seuche den Namen »schwarzer Tod« eingebracht hatten. Damals, im mittelalterlichen Europa, waren ihr zig Millionen Menschen zum Opfer gefallen.
Wie die meisten medizinischen Fachkräfte im Four-Corners-Gebiet hatte auch Shirley Ahkeah schon früher Pestkranke gesehen. Drei oder vier Jahre lang war die Big Reservation von Infektionen mit Yersinia pestis verschont geblieben, aber dieses Jahr waren schon drei Fälle gemeldet worden. Einer davon war in dem Teil der Big Rez aufgetreten, die zu New Mexico gehörte; sie hatten ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Auch dieser Fall war tödlich ausgegangen, und man hörte überall vom Comeback dieses altertümlichen Bakteriums, das neuerdings auch noch in ungewöhnlich virulenter Form auftrat.
Nez hatte sich eindeutig mit der virulenten Form des Erregers infiziert. Anfangs hatte das Bakterium wie üblich die Drüsen befallen, hatte sich dann aber rasend schnell zu einer sekundären Pestpneumonie entwickelt. In Nez’ Sputum und Blut hatte es von Erregern nur so gewimmelt, und niemand wagte sich ohne Atemschutzmaske in sein Krankenzimmer.
Delano, Howe und Woody waren langsam über den Flur davongegangen – zu weit entfernt, als dass Shirley sie noch hätte verstehen können, aber aus dem ruhigen Gemurmel, das zu ihr herüberdrang, schloss sie, dass sie sich irgendwie geeinigt hatten. Vermutlich bedeutete das zusätzliche Arbeit für sie. Ihr Blick wanderte zu dem Laken, unter dem Nez auf der Trage lag, und sie sah ihn wieder vor sich, wie er sich Stunde um Stunde dem Tod entgegengequält hatte. Sie wünschte, man würde seine Leiche endlich abholen. Shirley Ahkeah stammte aus Farmington, einer Stadt im Nordwesten des Bundesstaates New Mexico. Ihr Vater, ein Grundschullehrer, war zum Katholizismus konvertiert. Deshalb war aus ihrer Sicht das »Leichen-Tabu« der Navajo einfach so etwas Ähnliches wie die jüdischen Speisevorschriften: eine kluge Methode, um die Ausbreitung von Krankheiten zu verhindern. Doch auch wenn sie nicht an den bösen chindi glaubte, der nach Überzeugung traditioneller Navajo vier Tage lang den Verstorbenen begleitete, fühlte sie sich dennoch unbehaglich. Beim Anblick des Toten unter seinem Laken musste sie an die Endlichkeit des menschlichen Lebens und das tiefe Leid denken, das jeder Todesfall mit sich bringt.
Howe kam wieder zurück. Er sah alt und müde aus. Wie immer, wenn sie ihn sah, fühlte sie sich an eine rundlichere Ausgabe ihres Großvaters erinnert.
»Shirley, meine Liebe, wissen Sie vielleicht noch, ob ich Ihnen gestern eine Liste mit besonderen Untersuchungen gegeben habe, die wir an Nez vornehmen sollten? Ich erinnere mich, dass Woody ein paar spezielle Blutbilder haben wollte. Wir sollten zum Beispiel jede Stunde den Interleukin-6-Wert ermitteln. Können Sie sich vorstellen, was die vom Indian Health Service für einen Tanz aufführen, wenn wir ihnen so was auf die Rechnung setzen?«
»O ja«, sagte Shirley, »das kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber diese Liste habe ich nie gesehen. An dieses Interleukin-6 würde ich mich bestimmt erinnern.« Sie lachte. »Das hätte ich nämlich erst einmal nachschlagen müssen. Es hat irgendetwas damit zu tun, wie das menschliche Immunsystem arbeitet, oder?«
»Ich bin da auch nicht besonders bewandert«, antwortete Howe. »Aber ich glaube, Sie haben recht. Ich weiß, dass dieser Wert wichtig ist, wenn man Aids und Diabetes und bestimmte andere Krankheiten behandeln will, bei denen das Immunsystem eine Rolle spielt. Aber egal. Die Liste wird in Ihrem Bericht eben einfach nicht auftauchen; dann ist klar, dass sie nie auf Ihrem Schreibtisch angekommen ist. Ich glaube, ich habe den Zettel zusammengeknüllt und weggeworfen.«
»Wer ist überhaupt dieser Dr. Woody?«, wollte Shirley wissen. »Was ist seine Fachrichtung? Und warum hat es so lange gedauert, bis er Nez eingeliefert hat? Der arme Kerl muss doch schon tagelang Fieber gehabt haben.«
»Woody praktiziert überhaupt nicht als Arzt«, sagte Howe. »Ich glaube, er hat einen medizinischen Doktortitel, aber er arbeitet in der Forschung. Mikrobiologie, Pharmakologie, organische Chemie – das sind seine Gebiete. Er schreibt in medizinischen Fachzeitschriften laufend Artikel über das Immunsystem, über die Evolution von Krankheitserregern, die Antibiotikaresistenz von Bakterien und all so was. Vor ein paar Monaten hat er in Science...
Erscheint lt. Verlag | 1.11.2024 |
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Übersetzer | Fried Eickhoff |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Indigene Völker • Kriminalroman • Navajo • Nordamerika • Spannung • USA |
ISBN-10 | 3-293-31170-9 / 3293311709 |
ISBN-13 | 978-3-293-31170-1 / 9783293311701 |
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Größe: 3,3 MB
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