Black Paper (eBook)
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2899-7 (ISBN)
Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Lagos auf. Er ist Schriftsteller, Kritiker, Kurator und Fotograf. Für seine Bücher, darunter der Roman Open City, erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem den PEN/Hemingway Award, den New York City Book Award, den Windham Campbell Prize und den Internationalen Literaturpreis. Teju Cole ist derzeit Professor für Kreatives Schreiben an der Harvard University. Er lebt in Cambridge, Massachusetts.
Teju Cole, geboren 1975, wuchs in Lagos auf. Er ist Schriftsteller, Kritiker, Kurator und Fotograf. Für seine Bücher, darunter der Roman Open City, erhielt er zahlreiche Preise, unter anderem den PEN/Hemingway Award, den New York City Book Award, den Windham Campbell Prize und den Internationalen Literaturpreis. Teju Cole ist derzeit Professor für Kreatives Schreiben an der Harvard University. Er lebt in Cambridge, Massachusetts.
Wie Caravaggio
1
Michelangelo Merisi di Caravaggio, Ende 1571 in Mailand geboren, ist der Inbegriff des unkontrollierbaren Künstlers, des Genies, für das normale Regeln nicht gelten. »Caravaggio«, der Name des norditalienischen Dorfes, aus dem seine Familie stammte, liest sich wie die Verbindung zweier Wörter, nämlich Chiaroscuro (Hell-Dunkel-Malerei) und Braggadocio (Prahlerei): grelles Licht gemischt mit tiefem Dunkel auf der einen Seite, ungebremste Arroganz auf der anderen. Caravaggio wuchs in der Stadt Mailand und im Dorf Caravaggio in einer Familie auf, von der manche sagen, sie habe an der Schwelle zum Kleinadel gestanden. Er war sechs Jahre alt, als er am selben Tag seinen Vater und seinen Großvater durch die Pest verlor. Im Alter von etwa dreizehn Jahren ging er bei Simone Peterzano, einem Maler aus der Region, in die Lehre, von dem er die Grundlagen gelernt haben muss: Vorbereitung der Leinwände, Mischen der Farben, Perspektive, Proportion. In dieser Zeit schien er eine Vorliebe für Stillleben zu entwickeln, und vermutlich nahm er während seines Studiums bei Peterzano die besonnene Stimmung von Leonardo da Vinci und großen norditalienischen Malern des sechzehnten Jahrhunderts wie Giorgione und Tizian auf.
Sehr wahrscheinlich ging Caravaggio zum ersten Mal 1592 nach Rom. Grund dafür mag seine Verwicklung in einen Vorfall in Mailand gewesen sein, bei dem ein Polizist verletzt wurde (die Einzelheiten sind, wie so vieles in seinem Leben, nebulös). Das sollte bei Weitem nicht das einzige Mal sein, dass er aus einer Stadt verschwinden musste. Es dauerte nicht lange, bis er sich in Rom sowohl Anerkennung als auch einen schlechten Ruf verdient hatte. Mitte der 1590er-Jahre hatte er als Maler zu dem Stil und den Themen gefunden, die wir oft als caravaggesk bezeichnen: Lautenmusikanten, Kartenspieler, eine Schar grübelnder androgyner Jugendlicher. Renommierte Sammler, darunter Kardinal Scipione Borghese und Kardinal Francesco Maria del Monte, wetteiferten um seine Werke. Der Erfolg stieg ihm zu Kopf, oder vielleicht löste er nur etwas aus, was schon immer da gewesen war. Seine Sprache wurde gröber, der Alkoholkonsum nahm zu, er geriet häufig in Schlägereien und wurde mehrfach verhaftet.
1604 war Caravaggio zweiunddreißig Jahre alt. Er hatte bereits eine Reihe von unvergesslichen Meisterwerken für römische Mäzene und Kirchen geschaffen: Das Abendmahl in Emmaus, Die Berufung des Heiligen Matthäus in der Contarelli-Kapelle, Die Bekehrung Pauli in der Cerasi-Kapelle, Die Opferung Isaaks, Der ungläubige Thomas. In diesem Jahr vollendete er auch Die Grablegung Christi, ein Werk von tiefer Trauer und erstaunlicher Ausführung, selbst für Caravaggios ohnehin schon hohe Ansprüche. Was sein persönliches Verhalten anging, so blieb er jedoch rücksichtslos. »Manchmal suchte er nach einer Gelegenheit, sich das Genick zu brechen oder das Leben eines anderen in Gefahr zu bringen«, schreibt Giovanni Baglione, Zeitgenosse und einer seiner ersten Biografen. Giovanni Pietro Bellori, ein Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts, berichtet: »Er pflegte mit einem Schwert durch die Stadt zu ziehen, gerade so wie ein Waffenknecht, einer jedenfalls, der sich keineswegs mit dem Malen beschäftigte.« Eines Tages bestellte er zum Mittagessen in einer Taverne acht Artischocken, und als sie ihm serviert wurden, wollte er wissen, welche mit Butter und welche mit Öl zubereitet worden waren. Der Kellner schlug dem Gast vor, an ihnen zu riechen, um die Antwort selbst herauszufinden. Caravaggio, stets eine Beleidigung witternd, sprang auf und warf dem Kellner den Steingutteller ins Gesicht. Daraufhin griff er zu seinem Schwert, der Kellner nahm Reißaus.
In Lagos verbrachte ich als kleiner Junge Stunden damit, seine Werke in Büchern zu studieren. Die Wirkung, die diese Gemälde auf mich haben, die Art und Weise, wie sie mich anrühren und gleichzeitig beunruhigen, lässt sich nicht nur auf die lange Vertrautheit mit ihnen zurückführen. Andere Lieblingsmaler aus dieser Zeit, wie Jacques-Louis David, begeistern mich heute kaum noch, während Caravaggios Faszinationskraft sogar noch zugenommen hat. Und das kann nicht nur an seiner technischen Meisterschaft liegen. Die Gemälde haben sogar häufig Schwächen hinsichtlich ihrer Komposition und perspektivischen Verkürzung. Ich vermute, dass es daran liegt, dass er mehr von sich selbst, von seinen Gefühlen in die Gemälde einfließen ließ, als jemals irgendwer vor ihm.
Die Themen in einem Caravaggio-Gemälde mögen aus der Bibel oder einem Mythos stammen, aber dennoch ist es unmöglich, auch nur für einen Moment zu vergessen, dass dieses Gemälde von einem bestimmten Menschen erschaffen wurde, einem Menschen mit spezifischen Gefühlslagen und Vorlieben. Der Maler ist in einem Caravaggio-Gemälde stets anwesend. Wir spüren, dass er zu uns spricht. Die Zeitgenossen mögen an den biblischen Lektionen des zweifelnden Thomas interessiert gewesen sein, doch wir sind heute von Thomas’ Ungewissheit fasziniert, die wir in gewisser Weise als die des Malers verstehen.
Doch geht es bei Caravaggio um mehr als Subjektivität: Die ihm ganz eigene Form von Subjektivität legt den Fokus auf die bitteren und unangenehmen Seiten des Lebens. Sein dichtes Œuvre ist von Gefahr, Verführung und Ambiguität durchdrungen. Warum malte er so viele Märtyrertode und Enthauptungen? Das Grauen ist ein Teil des Lebens. Wir können nur hoffen, es nicht allzu oft erleben zu müssen, aber da es existiert, müssen wir manchmal hinsehen. Wie Sophokles oder Samuel Beckett oder Toni Morrison – und doch anders als sie alle – ist Caravaggio ein Künstler, der uns an die schmerzhaften Orte der Wirklichkeit führt. Und wenn wir mit ihm dort sind, spüren wir, dass er kein bloßer Wegweiser ist. Wir erkennen, dass er in diesem Schmerz tatsächlich zu Hause ist, dass er dort lebt. Genau da sitzt das Unbehagen.
Ende Mai 1606, zwei Jahre nach dem Artischocken-Vorfall, verlor Caravaggio gegen einen Mann namens Ranuccio Tomassoni eine Wette auf ein Tennisspiel. Es kam zu einem Kampf, an dem sich zahlreiche andere beteiligten. Caravaggio wurde am Kopf verletzt, er jedoch tötete Tomassoni mit einem Schwerthieb. Nachdem er sich zwei Tage in Rom versteckt gehalten hatte, floh er aus der Stadt, zunächst auf das Grundstück der Familie Colonna in der Nähe von Rom, und später, gegen Ende des Jahres, nach Neapel. Er war auf der Flucht.
Caravaggios spätere Karriere kann in zwei Phasen unterteilt werden: die römische Periode und alles, was auf den Mord an Tomassoni folgte. Es ist ein Wunder, dass er in diesem zweiten Akt, während er auf der Flucht war, so viel vollbringen konnte. Seine Arbeiten veränderten sich – die Pinselführung wurde freier, die Sujets morbider –, aber er blieb produktiv und wurde von seinen Mäzenen weiterhin geschätzt. Er arbeitete in Neapel, auf Malta, in drei verschiedenen Städten auf Sizilien und wieder in Neapel, bevor er sich in der Hoffnung auf eine Begnadigung durch den Papst auf den Weg nach Rom machte. Er verstarb vor der Ankunft.
Im Sommer 2016 hatte ich vor, beruflich nach Rom und Mailand zu reisen. Der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf war in vollem Gange und lief auf allen Kanälen, die Gesellschaft befand sich in einem Zustand des kollektiven Nervenzusammenbruchs. Donald Trump konnte sich mit seiner bizarren Kandidatur entgegen allen Erwartungen durchsetzen. Überall auf der Welt waren rechte Bewegungen auf dem Vormarsch. Auf der Flucht vor Krieg und wirtschaftlichen Notlagen starben Tausende von Menschen im Mittelmeer. Die Brutalität von ISIS hatte Videos von Enthauptungen zu einem Teil der alltäglichen visuellen Kultur gemacht. Was mir von diesem Sommer in Erinnerung geblieben ist, ist das Gefühl, dass das Unheil nicht nur immer näher kam, sondern bereits eingetroffen war. (Es war bereits da, hat sich dann allerdings weiterentwickelt, und das gegenwärtige Übel ist, vier Jahre später, wieder ein anderes.)
2
Ich hatte vor, mir die Gemälde von Caravaggio in Rom und Mailand erneut anzusehen. Er würde mir immerhin etwas Wahres über den Untergang mitteilen, und ich würde bei ihm die Atempause finden, die uns manche Künstlerinnen und Künstler in dunklen Zeiten bieten können. Da kam mir eine alte, lang gehegte Idee wieder in den Sinn: Wie wäre es, wenn ich weiter in den Süden reiste und alle Orte besuchte, an denen sich Caravaggio in den Jahren seines Exils aufgehalten hatte? Viele der Werke, die er an diesen Orten erschaffen hat, sind erhalten, manche befinden sich sogar noch an ihrer ursprünglichen Stelle. Neapel, Valetta, Messina und möglicherweise Palermo. Je länger ich über diese Idee nachdachte, desto dringender wollte ich sie in die Tat umsetzen. Es ging mir nicht um einen luxuriösen Sommeraufenthalt. Die Orte, an denen Caravaggio im Exil gelebt hatte, waren allesamt zu Brennpunkten der Einwanderungskrise geworden, was nicht ganz zufällig war: Er war dorthin gegangen, weil es Hafenstädte waren. Häfen sind für Ankunft und Flucht die geeignetsten Orte. Orte, an denen ein fremder Mensch die Möglichkeit hat, sich weniger fremd zu fühlen. Ich hatte zwei gewichtige Gründe für meinen Entschluss, die Reise zu unternehmen: Erstens sehnte ich mich nach dem inneren Aufruhr, den ich...
Erscheint lt. Verlag | 27.4.2023 |
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Übersetzer | Anna Jäger, Uda Strätling |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Aktivismus • Dunkelheit • Essays • Farbe Schwarz • Fotografie • Kunstgeschichte • Menschlichkeit • Open City • Schreiben • Teju Cole |
ISBN-10 | 3-8437-2899-2 / 3843728992 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2899-7 / 9783843728997 |
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