»Verlogenheit und Barbarei«. Auswahl aus dem Tagebuch 1940-1945 (eBook)

Haag, Anna - Epochen und Schriften aus den Jahrhunderten; Bedeutsames der deutschen Geschichte - 14290

(Autor)

Jennifer Holleis (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
168 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-962034-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»Verlogenheit und Barbarei«. Auswahl aus dem Tagebuch 1940-1945 -  Anna Haag
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Im Mai 1940 beginnt die 51-jährige Anna Haag ein schonungslos offenes und regimekritisches Tagebuch zu führen, das sie über Jahre im Kohlenkeller versteckt. Sie hört ihren Mitmenschen genau zu - in der Straßenbahn, bei Behördengängen oder in Geschäften. In pointierten Skizzen hält sie fest, was ganz gewöhnliche Deutsche schon während des Zweiten Weltkriegs über die Judenvernichtung und die Verbrechen des NS-Regimes wussten. Sie erzählt mit Ironie und Klarheit von Hamsterfahrten im Stuttgarter Umland, von verbotenen Treffen zum BBC-Hören oder von Wortgefechten mit ihrem Lieblingsgegner, dem regimetreuen Apotheker. Die vorliegende gekürzte und auf den Alltag in der Diktatur konzentrierte Textauswahl eignet sich besonders für den Schulunterricht. »Ein ungeheuerlich eindrucksvolles, atemberaubendes Dokument.« Götz Aly, Berliner Zeitung »Was für eine Feier der Zivilcourage!« Deutschlandfunk Kultur E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Anna Haag (1888-1982) war Schriftstellerin, Journalistin und Politikerin. Nach 1945 engagierte sie sich für den Wiederaufbau und zahlreiche soziale Projekte. Für die SPD saß sie als Abgeordnete im ersten baden-württembergischen Landtag, sie konzipierte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz. 1958 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Jennifer Holleis , geb. 1980, ist Journalistin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie beschäftigt sich seit 2012 mit Anna Haags Tagebüchern.

Anna Haag (1888–1982) war Schriftstellerin, Journalistin und Politikerin. Nach 1945 engagierte sie sich für den Wiederaufbau und zahlreiche soziale Projekte. Für die SPD saß sie als Abgeordnete im ersten baden-württembergischen Landtag, sie konzipierte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz. 1958 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse. Jennifer Holleis , geb. 1980, ist Journalistin, Übersetzerin und Dolmetscherin. Sie beschäftigt sich seit 2012 mit Anna Haags Tagebüchern.

Anna Haag: Tagebuch 1940–1945

Zur Einführung
1940
1941
1942
1943
1944
1945

Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Nachwort
Zeittafel

[9]1940


11. 5. 1940. Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören?

 

Mai 1940. In der Straßenbahn: »Da weint man nicht, da ist man stolz!« (Eine Mutter weint; der Sohn, ein Fallschirmjäger, ist beim Absprung tot an einem Baum hängen geblieben.)

 

22. 5. 1940. Nie in meinem Leben habe ich meine Ohnmacht so schmerzvoll empfunden wie in den gegenwärtigen Tagen. Meine drei Kinder müssen sich ohne meine Hilfe durch die dunklen Straßen des Lebens durchfinden. Wie wird es Martin gehen als Zivilinterniertem in England? Wie wird Cläre sich zurechtfinden? Wird ihre Ehe mit einem Engländer nicht getrübt werden durch die Ereignisse? Wie wird Ludowikens Ehe werden? Wird ihr Mann nicht doch noch der braunen Pest verfallen? Er will doch Karriere machen, Karriere um jeden Preis. Es ist mir, als habe ich, als haben meine Kinder jede Heimat verloren.

 

28. 6. 1940. Mein Weg von der Straßenbahnhaltestelle in meine Wohnung führt mich am Haus des Herrn Apotheker vorbei, dem Vater eines vier Monate alten Säuglings. Da höre ich nun zu jeder Tages- und Nachtzeit beim Vorübergehen, wie die Mutter dem Kind als Schlaflied singt: »… denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engelland – Engelland!«

 

10. 7. 1940. Frau Apotheker sagte: »Das sind so die letzten Zuckungen der Herren Engländer, der letzte Verzweiflungsschrei.« Sie meinte damit die nächtlichen Besuche einzelner englischer Flieger, die wir auch in unserer Stadt erleben.

 

[10]18. 8. 1940. Gestern wurde Birmingham bombardiert. Arme kleine Mary! (Enkeltochter) Hoffentlich bleiben den lieben drei Menschen solche Schrecken in Zukunft erspart. – Wie ich darum bete!

Zwischen dem 20. und dem 25. August soll die Invasion Englands tatsächlich erfolgen! Die Leute sagen so. Ob sie Recht haben? Ein Urlauber erzählte in der Straßenbahn, eben sei telegrafiert worden, er solle sofort zu seinem Truppenteil zurückkehren. Er ist nicht entzückt davon. Er freut sich nicht auf die »bevorstehenden Abenteuer«, nicht auf die »Größe der Aufgabe«. »Schluss« solle man endlich machen, sagt er. »Man möchte schließlich auch mal wieder was anderes tun«, fügt er hinzu. Armer Kerl! »Etwas anderes tun« möchtest du? Wie kannst du so etwas laut in der Straßenbahn sagen? Du hast Glück, wenn es niemand an der »geeigneten Stelle« meldet. Sonst holt man dich vielleicht morgen und bringt dich an einen ganz »ungeeigneten« Platz.

 

24. 9. 40. Ein furchtbares Flüstern geht um! Irre und Gemütskranke werden umgebracht. Auch den Sohn einer hiesigen Dame, der aus Liebeskummer schwermütig geworden war, soll das Schicksal ereilt haben. Dabei war er keineswegs verrückt. Ein Bruder fiel im Weltkrieg als Flieger (Pour-le-Mérite-Träger), ein anderer (Meteorologe) tut jetzt an der holländischen Küste Dienst, obgleich er im Weltkrieg seine Hand verloren hat. Und der »Verblichene« oder »Erlöste« war ebenfalls im Weltkrieg.

Ein Freund meines Mannes sagte, man habe die Namen der Insassen der Altersheime angefordert. Welch unerhörte Barbarei! Sollte solches möglich sein in deutschen Landen?

 

29. 9. 40. Herr und Frau B. waren da. B’s Worte liegen wie eine Zentnerlast auf meinem Manne und mir. Dieser [11]verlässliche, klardenkende Freund, der immer durch und durch Demokrat war, sagt, die Invasion Englands werde, sobald der dafür günstige Nebel einsetze, vom Stapel gehen. Er hat keinen Zweifel, dass auch dieses Unternehmen gelingen wird. Es sei alles so fabelhaft vorbereitet, selbst der Gaskrieg. England könne nicht widerstehen. Was es uns allerdings nützen werde? »England muss alles bezahlen!« »Iss und trink, der Engländer berappt’s«, das sei das geflügelte Wort beim Kommiss, wo man allüberall nur den Reichtum Englands hineinhause, den wir jetzt täglich durch unsere Bombenabwürfe und nach der Invasion durch unsere Panzer und schwere Artillerie vernichten.

Frau B. meinte, ich solle abstrahieren von all dem »großen Geschehen« der Gegenwart. Ich soll – so viel müsse man einer Mutter schließlich erlauben – nur dem einen Wunsch leben: »Mögen meine Kinder und wir nach dem Krieg gesund uns wiedersehen!« Nein, liebe Freundin. Ich kann freilich gar nichts ändern. Aber das eine kann ich doch tun: mir selber treu bleiben und dem, was ich dank meiner unverbogenen Vernunft und meinem gesunden Instinkt als gut und recht und menschenwürdig erkannt habe. Nein, nein, nein! Ich will nicht »zu leicht befunden« werden, will nicht vor mir selber schamrot werden müssen, ich will unerschütterlich festhalten an den ewigen Menschheitsidealen, will nicht, wie leider so viele, auf der Schaukel stehen und bald auf die eine, bald auf die andere Seite mein Gewicht verlegen! Nur an meine Kinder soll ich denken und an mein persönliches Glück und Unglück? Freilich denke ich an meine Kinder, und wer sie kennt, weiß, wie viel Glück sie mir bedeuten und welchen Reichtum! Aber was sollten meine Kinder in dieser »entgötterten« Welt? Wie sollen sie sich zurechtfinden? Wird es ihnen noch der Mühe wert sein, in ihr zu leben? In einer Welt, in der niemand mehr Verständnis hat für ein Gedicht von Mörike oder ein Heine’sches Liebeslied? Wo es ist, als seien solche Kunstwerke völlig sinnlose [12]Aneinanderreihungen von Wörtern! Wo es keine »Wissenschaft an sich« mehr gibt, sondern nur »Zweckwissenschaft« mit dem einen Zweck, möglichst vollkommene Vernichtungsmaschinen herzustellen! Wo die »Ehrfurcht vor dem Leben« nur solange besteht, bis die Mutter ihr Kind aus ihrem Schoß herausgequält hat, wo man aber Hunderttausende, nein Millionen Menschenleben hinmordet, ohne mit der Wimper zu zucken. Und wo sich Menschen für diese »Tat von historischer Bedeutung« vergotten lassen, umjubeln, anbeten!

 

4. 10. 40. Immer nichts von den Kindern! Andere haben bereits Nachricht bekommen von ihren internierten Angehörigen. Sie seien in Kanada. Ein Dampfer mit Internierten sei von einem deutschen U-Boot versenkt worden! Ach Gott! Man muss ganz still werden. Aber darf ich denn klagen? Millionen Mütter der Welt tragen schweres Joch. Mein Mutterglück? Das Büblein muss wenigstens nicht morden!

Gestern habe ich dem »deutschen Gottesdienst«, der Bekanntgabe des Wehrmachtsberichtes, angewohnt. Im Schlossgarten-Café, als um fünf Uhr der erwähnte Bericht durch den Lautsprecher bekannt gegeben wurde! Peinliche Stille! Andächtige Gesichter und leises, ehrerbietiges Löffeln des Kuchens, des Eises! Ah! Wie fein ein Vanille-Eis, eine Punschtorte schmecken, wenn man »nebenbei« erfährt, dass in London ganze Straßenzüge in Schutt und Asche gelegt, dass Tausende von Frauen und Kindern umgebracht worden und fünf Schiffe mit Mann und Maus und wertvoller Ladung versenkt worden sind! Wie gut wird man da schlafen! Will man sich nicht noch einen Kuchen spendieren auf diese Freudenbotschaft hin?

 

26. 10. 40. Mein Sohn muss wenigstens nicht töten! Was für ein Trost. Außerdem: kein Unteroffizier »Himmelstoß«1 kann auf ihm herumtrampeln und ihm befehlen, England und seine [13]Freunde dort und seine Freunde in der Welt zu »vernichten«. »Vernichten, Vernichtung!« das sind die Worte, die täglich in jeder Zeitung stehen, die unter Jubelgeschrei in Dichtungen verherrlicht werden, und in Briefen an mich von Freunden Martins zu lesen sind! Wir singen das »Hohe Lied der Vernichtung!« Welch eine Herausforderung Gottes! Wie lange wird er zusehen? Gott wird nicht ewig schweigen. Das ist mein Glaube, und das hilft mir vielleicht – vielleicht –, diesen entsetzensvollen Widersinn zu überleben.

 

27. 10. 40. »Haben Sie es gehört im Radio: Der Führer hat sich mit Franco an der spanisch-französischen Grenze getroffen?«, ruft mir Frau Apotheker zu, ein Seufzer hingerissener Ehrfurcht entquillt ihr, ein verklärender Schein von Gott-Anbetung überhellt ihr Gesicht. »Ich danke dir, Gott, dass du uns diesen Gott gesandt hast!«, so fühlt sie. »Und sei, bitte, nicht böse, wenn ich den Gott Nummer Zwei über dich selbst stelle! Seine Taten sehe ich, erlebe ich, während die Deinen für mich im Dunkeln bleiben. Darum ist mein Hauptgott, mein direkter Gott, Er, der Führer, den du mir gesandt hast, usf.« So ungefähr lautet das verzückte Gebet solcher Frauen. Es gibt, gottlob, auch andere! Man müsste sonst gar verzweifeln.

 

14. 11. 40. »Aber der Führer – –.« Das ist immer der Einwand. »Der Führer« ist bereits eine mythische Gestalt im deutschen Volk, ein »böser Geist«, gegen den niemand etwas zu äußern, ja nicht einmal im Geheimen zu denken wagt, weil man – abergläubisch wie man ist – fürchtet, er könnte sich rächen, er sei ein Gott, ein böser Gott, der alles weiß und alles bestraft. Wie entsetzlich, was alles im Namen des deutschen Volkes geschieht. Tausenden, Abertausenden dämmert es, wie schauderhaft man die deutsche Ehre befleckt, wie viel Schuld wir auf uns laden – oder richtiger: wie viel Schuld andere im Namen [14]unseres Volkes, meines Volkes, auf...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2022
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
Nachwort Jennifer Holleis
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Schlagworte Alltagseinblicke Drittes Reich • Alltagseinblicke Faschismus Deutschland • Alltagseinblicke Nationalsozialismus • Alltagseinblicke NS-Diktatur • Alltagseinblicke NS-Zeit • Alltagseinblicke Zweiter Weltkrieg • Alltagsgeschichte Drittes Reich • Alltagsgeschichte Faschismus Deutschland • Alltagsgeschichte Nationalsozialismus • Alltagsgeschichte NS-Diktatur • Alltagsgeschichte NS-Zeit • Alltagsgeschichte Zweiter Weltkrieg • Analyse • Basiswissen • Darstellung • Deutsche Geschichte • Deutschland • Drittes Reich Alltagseinblicke • Drittes Reich Alltagsgeschichte • Drittes Reich Zeitzeuge Bericht • Drittes Reich Zeitzeugenbericht • Einführung • Epochen • Erinnerungen • Erläuterungen • Europa • Europäische Geschichte • europäische Völker • Faschismus Deutschland Alltagseinblicke • Faschismus Deutschland Alltagsgeschichte • Faschismus Deutschland Zeitzeuge Bericht • Faschismus Deutschland Zeitzeugenbericht • gelb • gelbe bücher • Geschichte • Geschichte Deutschlands • Geschichte Europas • Geschichtsschreibung • Grundlagen • historisch • Jahrhunderte • Lektüre • literarisch • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus Alltagseinblicke • Nationalsozialismus Alltagsgeschichte • Nationalsozialismus Zeitzeuge Bericht • Nationalsozialismus Zeitzeugenbericht • Nazizeit Wusste wirklich keiner Bescheid • NS-Diktatur Alltagseinblicke • NS-Diktatur Alltagsgeschichte • NS-Diktatur Zeitzeuge Bericht • NS-Diktatur Zeitzeugenbericht • NS-Zeit Alltagseinblicke • NS-Zeit Alltagsgeschichte • NS-Zeit Wie viel wusste man wirklich • NS-Zeit Wusste wirklich keiner Bescheid • NS-Zeit Zeitzeuge Bericht • NS-Zeit Zeitzeugenbericht • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Staaten • Studenten • Studentinnen • Studierende • Tagebuch Drittes Reich • Tagebuch Faschismus Deutschland • Tagebuch Nationalsozialismus • Tagebuch NS-Diktatur • Tagebuch NS-Zeit • Tagebuch Zweiter Weltkrieg • universalbibliothek • Universität • Vergangenheit • Vorlesungen • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftliche Abhandlung • Zeitzeuge Bericht Drittes Reich • Zeitzeuge Bericht Faschismus Deutschland • Zeitzeuge Bericht Nationalsozialismus • Zeitzeuge Bericht NS-Diktatur • Zeitzeuge Bericht NS-Zeit • Zeitzeuge Bericht Zweiter Weltkrieg • Zeitzeugenbericht Drittes Reich • Zeitzeugenbericht Faschismus Deutschland • Zeitzeugenbericht Nationalsozialismus • Zeitzeugenbericht NS-Diktatur • Zeitzeugenbericht NS-Zeit • Zeitzeugenbericht Zweiter Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg Alltagseinblicke • Zweiter Weltkrieg Alltagsgeschichte • Zweiter Weltkrieg Zeitzeuge Bericht • Zweiter Weltkrieg Zeitzeugenbericht
ISBN-10 3-15-962034-4 / 3159620344
ISBN-13 978-3-15-962034-3 / 9783159620343
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